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habe erst nach ihrer Rückkehr aus Berlin die „Schrulle“, ihre Postsachen selbst abzuholen und jeden Brief zu verbrennen.

      „Und die Ausflüge, Herr Doktor? Sind auch die erst seit dem April erfolgt?“

      „Ja. Thora kaufte sich im Mai das Motorrad. Es ist eine sehr starke Maschine.“

      „Wie oft unternahm sie derartige plötzliche Fahrten?“

      „Hm – vier Mal war sie fünf bis sechs Tage abwesend.“

      „Fand einer dieser Ausflüge auch nach ihrer Verlobung statt? Die Verlobung war wohl im Juli?“

      „Ja – am 28. Juli. Seitdem ist Thora nicht mehr längere Zeit von Hause fortgeblieben.“

      Harald blickte sinnend durch das offene Fenster in den klaren Herbsthimmel. „Herr Doktor,“ sagte er dann ernst, „ich bin jetzt schon überzeugt, daß Ihre Schwester hier in Berlin während ihres Aufenthaltes hei Rupertis etwas erlebt hat, das zu ihrem jetzigen Verschwinden in Beziehung steht. Alles weitere wird sich wohl in Saßnitz ergeben.“

       Das wimmernde Kind

       Inhaltsverzeichnis

      Gleich nach unserer Ankunft in Saßnitz begaben wir beide uns zum Postamt. Olavsen blieb im Hotel Meeresblick, wo wir abgestiegen waren.

      Der Postbeamte vom Nachtdienst machte ein sehr verdutztes Gesicht, als Harald seinen Namen nannte und nach postlagernden Depeschen fragte.

      „Können Sie sich legitimieren?“ meinte er dann.

      „Bitte. Hier ist mein Ausweis.“

      „Oh – dann bin ich allerdings getäuscht worden, Herr Harst,“ sagte der Beamte ärgerlich. „Um zwölf Uhr, also vor einer viertel Stunde etwa, habe ich die Depeschen einem Herrn ausgehändigt, der sich für Harald Harst ausgab.“

      „Können Sie mir wenigstens den Wortlaut der Telegramme noch mitteilen?“

      „Ja. Natürlich. Einen Augenblick bitte.“ Er schloß das Schalterfenster, entfernte sich und gab Harst dann nach fünf Minuten ein Blatt Papier mit dem Text beider Depeschen.

      Wir lasen folgendes:

      1.

       Harald Harst, Saßnitz, postlagernd,

       Deutschland – Rügen.

      Boomlund gestern 2. Oktober morgens von hier nach Malmö übergesetzt und heute 7 Uhr abends zurückgekehrt. Stehe zu weiterem gern zur Verfügung.

      Gruß Inspektor Drombör.

      2.

       Harald Harst, Saßnitz-Rügen,

       postlagernd.

      Nichts dergleichen bekannt. Bitte Nachricht, was vorgefallen.

      Frau Lotte Ruperti, Harzburg.

      Dann verließen wir das kleine Postamt und wanderten durch die stillen Straßen nach dem Hotel zurück.

      „Boomlund kann dasselbe Fährschiff, die Preußen, benutzt haben,“ sagte Harald nachdenklich. „Vielleicht ein Eifersuchtsdrama – vielleicht!“

      „Dann müßte er sich gerade verkleidet haben. Die Geschwister hätten ihn sonst doch erkannt. Und – ein Schiffskapitän dürfte sich auf so etwas kaum verstehen!“

      „Das ist richtig, mein Alter. Und doch: weshalb verließ er Kopenhagen?! Weshalb gerade zu derselben Zeit, als die Olavsens Malmö passieren mußten?! Das bleibt verdächtig; das darf man nicht außer Betracht lassen. Am besten wäre der Doktor beriefe ihn telegraphisch für heute abend nach Trelleborg. Dort werden ja auch wir inzwischen dann eingetroffen sein. Ich möchte diesen Boomlund persönlich sprechen.“ –

      Die Straßen in Saßnitz laufen bergan, bergab. Der Hafenort klebt ja an der hohen Rügenküste wie eine Ansammlung menschlicher Schwalbennester.

      Die Herbstnacht war dunkel und stürmisch. Das Brandungsgeräusch hallte in den engen Gassen verstärkt wider.

      Als wir nun eine steile Steintreppe hinabstiegen, blieb Harald plötzlich stehen und deutete auf den Hafen hinab. Aus zwei erleuchteten Fenstern des nächsten Hauses traf uns ein schwacher Lichtschein.

      „Ein hübsches Bild,“ meinte Harald. „Diese dunklen Schiffssilhouetten mit den vielen Lichtpünktchen wirken recht romantisch –“ – Und ganz leise: „Es ist jemand hinter uns!“

      Da erst dachte ich wieder an den Mann, der die beiden Depeschen unberechtigterweise abgeholt hatte. Merkwürdig, daß ich ihn über dem Inhalt des Kopenhagener Telegramms völlig vergessen hatte! Dabei war seine Person doch so wichtig – so sehr wichtig, denn – wahrscheinlich war’s ja derselbe, der Thoras Koffer sich angeeignet hatte und der nun beobachten wollte, was wir weiter tun würden. –

      Harald schien zu lauschen.

      Alles blieb still. Um uns her war es jetzt gleichfalls dunkel geworden. Das Licht in den beiden Fenstern war erloschen.

      Wir standen im Finstern. Harald hatte sich halb umgedreht. „Die Sache läuft nicht gut ab,“ murmelte er. „Ich habe eine feine Witterung für –“

      Er schwieg.

      Unter uns lagen der Rest der Treppe und die Gasse wie ein Tunnel, der weiß Gott wohin führte.

      Und aus diesem Tunnel war ein leises Wimmern zu uns emporgedrungen wie die Klagelaute eines Kindes, das seinen Schmerz zu verheimlichen sucht.

      Was bedeutet am hellen Tage, in anderer Umgebung und unter anderen Umständen ein solches Wimmern?! Es regt unser Mitleid flüchtig an, und wir denken: Es wird wohl nicht so arg sein!

      Wie so ganz anders nahmen sich die kindlichen Laute hier aus! Welche Bedeutung erhielten sie, als nun aus derselben Finsternis ein halb unterdrückter englischer Fluch erklang, dem die vor Wut halb gezischten Worte folgten – ebenfalls in englischer Sprache:

      „Halte der Bestie den Mund zu! Es war mir vorhin, als käme jemand die Treppe hinab!“

      Harald brachte seinen Mund dicht an mein Ohr:

      „Ducke Dich zusammen! Zieh’ Dir im Sitzen die Schuhe aus!“

      Ich tat’s. Und ich sah undeutlich, daß auch Harst die Schnürstiefel abstreifte.

      „Warte hier,“ hauchte Harald mir abermals ins Ohr. „Ich glaube, wir haben es mit Einbrechern zu tun! Das, was ich vorhin für Schritte hinter uns hielt, werden Geräusche vor uns gewesen sein! Der Wind und das Lärmen der Brandung übertönen alles!“

      Er huschte die Stufen hinab, nachdem er mir seine Stiefel in die Hand gedrückt hatte.

      Ich sah, wie seine tief gebückte Gestalt in dem grauen Touristenanzug immer mehr mit der Finsternis verschmolz.

      Nun war er ganz verschwunden.

      „Warte hier!“ hatte er befohlen. – Ich wußte, er liebte keine Eigenmächtigkeiten. Aber nach etwa fünf Minuten packte mich die Angst – die Angst um den, der mein Freund war und zugleich ein Beschützer aller Bedrängten.

      Fünf Minuten! Was konnte in dieser Zeitspanne nicht alles passiert sein. Man konnte Harald hinterrücks niedergeschlagen haben: man konnte –

      Da – was war das soeben gewesen?! – Ein paar wimmernde Töne! Und dann ganz undeutlich ein neuer Fluch!

      Ich konnte nicht länger hier untätig ausharren. Ich mußte Harald nach!

      Ich schob die beiden Stiefelpaare ganz ans Ende der Stufe, schritt nun langsam Stufe für Stufe abwärts.

      Wer Saßnitz kennt, kennt auch diese Treppe, die längste und steilste im Orte. Der kennt auch das

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