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Nachmittags verbrachte er zumeist noch eine Stunde in ihrem Zimmer, in dem auf seinen Wunsch nicht das geringste geändert worden war. Dort saß er dann in dem Korbsessel am Fenster und grübelte regungslos vor sich hin. – So auch jetzt. Draußen lachte die Sonne. Aber in Harsts Seele war tiefste Nacht eines Schmerzes, den er nie verwinden würde. Er erhob sich schwerfällig, wollte noch für eine halbe Stunde mit seinen Schwiegereltern zusammensein, die seine Gegenwart als Trost empfanden. Beim Aufstehen schob er das nur aufgelegte Sitzkissen des Korbsessels nach vorn. Es fiel herab, und gleichzeitig auch ein zusammengeknülltes Taschentuch, das Harst schon früher bemerkt hatte. Es war halb unter das Kissen von der Seite geklemmt gewesen. Er hatte es bisher nicht beachtet. Jetzt hob er es mit auf. Unwillkürlich führte er es an die Nase. Es mußte ja eines von Margas Tüchern sein, und er wollte den feinen Heliotropduft einatmen, der allen ihren Sachen ganz unaufdringlich anhaftete.

      Plötzlich weiteten sich seine Augen. Sein Kopf fuhr hoch, und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens breitete er das Tüchlein nun aus, sah es sich genauer an, stutzte wieder und schaute sinnend über die gegenüberliegenden Dächer hinweg in das endlose Blau des sonnendurchstrahlten Himmels.

      Sein Gesicht veränderte sich langsam. Ein belebter Ausdruck strich die feinen Falten hinweg, die die letzte Zeit um seinen Mund eingegraben hatte. Er verließ das Zimmer, schloß die Tür wie stets hinter sich ab, steckte den Schlüssel zu sich und ging in die Küche, wo das Stubenmädchen am Fenster silberne Löffel putzte. Er fragte Helene, ob Marga dieses Taschentuch gehöre oder ob es vielleicht Eigentum seiner Schwiegermutter sei. Das Mädchen verneinte. »So billiges Zeug besitze ich nicht mal, Herr Assessor,« erklärte sie. »Es ist son Ding, nur fürs Ansehen berechnet. Und noch der häßliche rosa und hellblau gestreifte Rand!« Sie nahm es und faltete es auseinander.

      »Oh – das ist ja auch Patschuli-Parfüm! Wie zuwider war dieser Geruch dem gnädigen Fräulein! Ich weiß das nur –« Sie stockte plötzlich und wurde rot und verlegen.

      Harst wurde jetzt mit einem Schlage ein anderer, wurde wieder der, dessen scharfer Geist den Aufbau einer Anklageschrift zu einem übersichtlichen, mit den feinsten logischen Schlußfolgerungen ausgestatteten Kunstwerk gestaltet hatte. Das Taschentuch hatte ihn wach gerüttelt. Und des Mädchens verlegenes Rotwerden sagte ihm weiter, daß er hier vielleicht auf etwas gestoßen war, das mit Margas unerklärlicher Ermordung irgendwie im Zusammenhang stand, wenn auch in einem ganz lockeren.

      Er blieb äußerlich jedoch ganz ruhig. Er durfte Helene nicht merken lassen, daß er diesem Tüchlein eine besondere Bedeutung beimaß. Sie war ein scheues, ängstliches Ding, und schon bei jenem zwanglosen Verhör durch Stolten hatte sie deutlich gezeigt, daß jeder Polizeibeamte für sie wie für viele Leute trotz des besten Gewissens ein Schrecknis war. – Er glaubte bereits ziemlich bestimmt, daß sie über die Herkunft dieses Tüchleins irgend etwas wüßte, war aber auch ebenso überzeugt, daß sie aus irgend welchen Gründen ihn belügen würde, wenn er sie gerade heraus danach fragte. – »Das Tuch lag im Musikzimmer auf der Tastatur des Flügels unter dem Deckel,« meinte er gleichgültig. »Sie haben ganz recht, Helene, – es ist billigste Schundware. – Habt ihr vielleicht in letzter Zeit eine Reinemachefrau im Hause gehabt. Der mag es dann gehören.«

      Bei der Erwähnung des Flügels hatte das Mädchen ihn so überrascht angesehen, wie dies nur jemand getan hätte, der genau Bescheid wußte, daß das Taschentuch gerade dort nicht vergessen sein konnte. – Harst war jedenfalls mit dem Erfolg dieses ersten Versuchs, Helene in die Enge zu treiben, ganz zufrieden. Als das Mädchen nun erklärte, Mildens nähmen nie Reinemachefrauen an, meinte er: »Wer mag es dann hier in der Wohnung nur zurückgelassen haben? Kennen Sie vielleicht die betreffende Person?« – Sehr hastig verneinte Helene diese Frage, so hastig und so scheu zur Seite blickend, daß Harst ihr jetzt am liebsten zugerufen hätte: »Sie lügen ja!« – Er hütete sich, es zu tun, sagte vielmehr: »Schließlich ist das ja auch gleichgültig.« Dann fragte er noch nach dem Ergehen von Helenes Bräutigam, der unlängst in seiner pommerschen Heimat als Zimmerpolier an einem rostigen Nagel sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Dabei steckte er das Tuch ganz unauffällig zu sich.

      Nachher nahm er ein Auto und fuhr nach dem Laboratorium des Gerichtschemiker Doktor Heiker. Dieser arbeitete noch an einer Blutuntersuchung. Harst kannte ihn seit längerem persönlich. Auf Heikers Schweigen konnte er sich verlassen. Er teilte ihm das Nötige mit, zeigte ihm das Tüchlein und erklärte weiter:

      »Ich fand es in einer Weise zerknüllt vor, daß ich vermute, es muß feucht – vielleicht von reichlich vergossenen Tränen – unter das Sitzkissen geschoben worden sein. Bitte, untersuchen Sie es, Herr Doktor. Tränen enthalten ja wohl außer salzigen noch andere kennzeichnende Bestandteile.«

      Dann begab er sich heim. Vor der Gitterpforte des Vorgartens ging ein ärmlich gekleideter, älterer Mann mit dünnem, leicht ergrautem Vollbart auf und ab. Harsts Gedanken waren noch bei Helene Burg und dem Tüchlein. Sonst hätte er den Mann wohl schärfer gemustert. Er war schon an ihm vorüber, als eine leise Stimme ihn anrief: »Herr Assessor – einen Augenblick.«

      Harst drehte sich um. Ein prüfendes Anschaun, dann: »Ah – also doch! Ich glaubte schon, Sie würden sich nicht mehr sehen lassen, Max Schraut. – Sind Sie krank gewesen? Ihr Gesicht ist inzwischen ja der reine Totenkopf geworden.«

      »Sehr krank, Herr Assessor. Ich bin erst heute früh aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo ich mit falschen Papieren wegen Lungenentzündung Aufnahme gefunden hatte. Ich habe deshalb auch der Beerdigung meiner Mutter nicht beiwohnen können. – Aber auch Sie sehen schlecht aus, Herr Assessor, – ganz verändert, ganz grau im Gesicht.«

      Harst überlegte kurz. Dann forderte er den Taschendieb auf, mit in seine Wohnung zu kommen. Hier sagte er zu ihm: »Ich müßte Sie nun eigentlich der Polizeibehörde übergeben. Für die Gefängnisluft sind Sie jedoch noch zu elend. Sie sollten sich erst bei mir erholen, wo niemand Sie verraten wird. Ich stelle aber eine Bedingung. Meine Braut ist ermordet worden. Sie scheinen von diesem Verbrechen im Krankenhaus nichts gehört zu haben. Ich beabsichtigte, da der Täter bisher nicht entdeckt ist, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Sie und noch jemand, ein Knabe, sollen mir dabei helfen. – Wollen Sie’s tun?«

      Komiker-Maxe begann vor Rührung zu weinen. »Ob ich will! Natürlich! – Herr Assessor, Sie sollen an mir einen treuen Gehilfen haben. Ich bin noch nicht so tief gesunken, um einem Manne wie Ihnen gegenüber undankbar zu sein.«

      Max Schraut bezog eins der unbenutzten Erdgeschoßzimmer. Bereits nach einer Stunde fand dort zwischen ihm, Harst und Karl Malke eine längere Besprechung statt. Und noch an demselben Abend übernahm eine Berufspflegerin, die Harst bezahlte, die Wartung der kränklichen Witwe des früheren Kutschers.

      3. Kapitel

       Das zweite Verbrechen

       Inhaltsverzeichnis

      Frau Auguste Harst konnte an diesem Abend sich gar nicht genug über die plötzliche Veränderung wundern, die mit ihrem geliebten großen Jungen vor sich gegangen war. Dann erfuhr sie nach dem Abendessen den Grund. Harald erzählte ihr alles, was der heutige Nachmittag ihm gebracht hatte und was er nun weiter plante.

      Sie drückte seine Hände. »Recht so, mein Junge, recht so! Nun wirst du wieder aufleben – Gott sei Dank!«

      Ja – Harst lebte sehr schnell wieder auf. Am folgenden Vormittag erschien er bei Mildens. Sein Benehmen freilich ließ nicht erkennen, daß er mit fieberhaftem Eifer eine schwache Fährte weiterzuverfolgen sich bemühte. Er schien abermals nur in Margas Zimmer eine Weile seinen schmerzlichen Gedanken nachhängen zu wollen. Er schloß sich ein und begann dann sofort nochmals den zweifenstrigen Raum zu durchsuchen. Damals hatte Kommissar Stolten ja auch jenes buntgeränderte Tüchlein in der Hand gehabt und es als wertlos wieder unter das Sitzkissen an dieselbe Stelle geschoben. Hatte er das Taschentuch auf diese Weise unbeachtet gelassen, konnte ein gleiches leicht auch mit anderen Dingen geschehen sein.

      Harst suchte geduldig und mit jener kühlen, klaren Überlegung, die ihm vor Margas Verlust stets zu eigen gewesen. Den kleinen,

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