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Borderline - Wenn die Seele Halt sucht. Simone Weber
Читать онлайн.Название Borderline - Wenn die Seele Halt sucht
Год выпуска 0
isbn 9783965442733
Автор произведения Simone Weber
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie überlegte und rechnete angestrengt: ‚Ich bin jetzt neun Jahre alt. Als Onkel Daniel starb, war ich noch ein kleines Baby gewesen. Es muss also bestimmt schon sechs Jahre her sein. So lange will ich niemals alleine sein müssen. Tante Sophia ist sicher nicht nur sehr traurig, sondern auch ziemlich einsam. Klar, sie hat Thomas, aber das ist eben doch etwas anderes.
Selbst ich weiß schon, dass eine Frau einen Mann an ihrer Seite haben möchte und obwohl Thomas ein Mann ist, ist er eben doch nur ihr Sohn. Eines Tages werde ich hoffentlich auch noch den Unterschied zwischen Thomas und einem Mann herausbekommen.‘
Beinahe den halben Nachmittag hatte Christina damals in ihrem Gästezimmer gehockt und tief in ihren Gedanken verbracht.
Und mitten in ihrem Gedankengang kam jetzt auch noch Tante Sophia zu ihr in das Gästezimmer, um ihr zu sagen, dass auch sie heute Abend ausgehen wollte und Thomas in der Zeit, bis sie zurückkam, auf sie aufpassen würde.
»Ihr braucht aber nicht auf mich zu warten. Es wird sehr spät, bis ich wieder da bin, da seid ihr aber bitte schon beide im Bett.« Nun hatte sich erst recht Langeweile bei Christina eingestellt. Bald nach dem Abendessen war es dann auch so weit, dass Tante Sophia sich zum Ausgehen fertigmachte.
Still half Christina Thomas dabei, die Spülmaschine einzuräumen. Als sie damit fertig waren, entschuldigte sich und verschwand in ihrem Zimmer.
Was sollte sie bloß den Rest des Abends machen?
Einen Fernseher gab es im Gästezimmer nicht und im Wohnzimmer wollte Christina nicht alleine sitzen.
Thomas kam aus seinem Zimmer auch nur hinaus, wenn er aufs Klo musste, oder wenn etwas zu essen auf dem Tisch stand. Schließlich hatte sie es sich mit einem Buch, das sie von Zuhause mitgebracht hatte, auf dem Bett bequem gemacht und angefangen zu lesen.
Tante Sophia hatte kurz ihren Kopf durch die Tür geschoben, sich für heute verabschiedet und die Tür wieder geschlossen. Christina hatte nicht einmal einen Blick von ihrem Buch abgewandt. Ein leises: ‚Tschö‘ war alles, was sie herausgebracht hatte.
Keine zwei Buchseiten weiter hatte es erneut an ihre Tür geklopft. Natürlich hatte Christina damit gerechnet, dass Tante Sophia irgendetwas vergessen hatte ihr zu sagen. Umso erstaunter war sie, als nicht Tante Sophia, sondern Thomas hineingekommen war und sie zu sich eingeladen hatte.
Nun, da Thomas mit ihr spielen wollte, war sie nicht mehr der Meinung, dass der Abend so langweilig sein würde.
Kaum war Thomas wieder gegangen, ließ Christina ihr Buch ungeachtet auf ihrem Bett liegen. Sie sprang auf, durchquerte mit großen Schritten das Zimmer und lief schnell den Flur entlang und Thomas hinterher, den sie gerade noch zurück in sein Zimmer schlüpfen sah.
In fünf Minuten sollte sie zu ihm kommen, jetzt noch etwa vier. Nervös betrachtete sie seine Zimmertür und versuchte die Zeit in Sekunden abzuzählen. Endlich war es soweit, doch dann kamen ihr Zweifel. Im ersten Moment traute sie sich auch nicht, einfach das Zimmer zu betreten. Was, wenn Thomas sie nur veräppelt hatte und sie gleich wieder hinauswarf, sobald sie die Tür öffnete? Schüchtern und ein wenig ratlos stand sie vor der Tür.
Das erste Mal, dass sie mit seiner Erlaubnis das Zimmer betreten würde. Sie gab sich einen Ruck und klopfte vorsichtig an.
»Komm rein!«, rief Thomas.
Behutsam drückte Christina die Klinke herab. Die Tür ging einen Spalt weit auf, sodass sie mit einem Auge ins Zimmer spähen konnte.
»Nun komm schon. Oder soll ich den Computer lieber auf den Flur hinaus bringen?«, scherzte Thomas.
Christina öffnete die Tür etwas mehr. Gerade soweit, dass sie durch den Spalt hindurchpasste und hineingehen konnte.
Erstaunt sah sie, dass Thomas den Bildschirm, der sonst immer rechts auf dem Schreibtisch stand, mehr in die Mitte gerückt und einen zweiten Stuhl neben seinen gestellt hatte. Sie setzte sich zu ihm und wartete.
Christina kannte das Spiel, das der Computer preisgab. Wenn sie bei Tante Sophia zu Besuch und Thomas nicht zu Hause war, hatte sie sich öfter heimlich in sein Zimmer geschlichen. Gerade, wenn sie hier übernachtete, hatte sie die Gelegenheit genutzt und das Spiel geübt. Sie war gut darin.
Bis jetzt hatte Tante Sophia nicht einmal etwas davon bemerkt.
Christina musste allerdings vorsichtig sein, denn beinahe hätte sie sich verraten, als sie die Entertaste drücken wollte, um das Spiel zu starten, doch sie konnte ihre Hand gerade noch zurückhalten.
»Schau«, sagte Thomas, »wenn ich hier auf die Taste drücke, beginnt das Spiel. Mit den Tasten, auf denen die Pfeile sind, kannst du der Figur eine Richtung geben. Möchtest du es als Erste versuchen?«
Sie war sich nicht sicher, ob er, wenn sie gleich spielen würde, bemerken würde, dass sie das Spiel gut konnte, also schüttelte sie lieber ablehnend den Kopf.
»Nein, ich möchte dir erst zusehen, dann ist es vielleicht leichter.«
»In Ordnung«, sagte Thomas und startete das Spiel.
Christina tat so, als würde sie ihm aufmerksam zuschauen, doch in Wirklichkeit wartete sie eher darauf, dass sie an der Reihe war. Sie mochte das Spiel so sehr. Nach einer halben Ewigkeit, so schien es ihr, war Thomas endlich fertig und sie hatte ihren Versuch.
»So, nun bist du dran. Mal schauen, wie gut du aufgepasst hast«, sagte Thomas mit einem Lächeln, das zu heißen schien: ‚Ich gewinne so oder so.‘
Christina rückte ihren Stuhl zurecht, legte ihre kleinen Finger auf die Tastatur und startete das Spiel mit der Entertaste neu. Ihre Hände flogen nur so über die Pfeile der Tastatur. Sie lachte vor Vergnügen und bemerkte die Blicke, mit denen Thomas sie beobachtete, nicht.
So lange schon hatte er auf solch einen Augenblick gewartet. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, mit diesem kleinen Mädchen alleine zu sein? Heute Mittag, als seine Mutter ihm sagte, sie würde gerne ausgehen und ihn bat, auf Christina achtzugeben, bis sie wieder zu Hause war, ging sein Wunsch endlich in Erfüllung.
Es würde vielleicht spät werden, hatte sie gesagt, aber das war genau nach seiner Vorstellung. So hatte er Zeit, seinen Plan durchzuführen, seinen lang gehegten und geheimsten Wunsch zu erfüllen.
Niemand würde ihn dabei stören.
Und dann war es endlich so weit. Seine Mutter war kaum aus dem Haus, da lief er zu Christina. Er wollte so viel Zeit wie möglich nutzen, jede einzelne Sekunde auskosten. Jetzt war sie hier. Direkt neben ihm. Dieses kleine, unschuldige Ding, das von der Welt noch so wenig wusste. Wie es wohl sein würde sie anzufassen? Sie an Stellen zu streicheln, die wohlig warm waren? Ob sie sich wehren würde? So viele Gedanken schossen durch seinen Kopf, als er bemerkte, wie seine Hose sich langsam auszubeulen begann.
Etwas riss ihn aus seinen Träumen, er war sich nicht sicher, was es war, bis er Christinas Blick sah.
»Was ist denn mit dir? Du schaust so komisch.«
»Nichts, es ist alles bestens.«
Thomas schaute auf ihren Punktestand und war erstaunt. Sie hatte fast die doppelte Punktezahl, die er erreicht hatte. ‚Anfängerglück‘, dachte er bei sich.
Laut sagte er: »Ich hatte gerade eine tolle Idee für ein neues Spiel. Wollen wir es mal ausprobieren?«
»Wie heißt es denn?«, wollte Christina mit neugierig großen Augen wissen.
»Geheimhalten«, antwortete Thomas. »Wir spielen ein Spiel und wer etwas an wen auch immer verrät, der muss zwanzig Scheiben Käse essen!«
Er wusste genau, dass sie Käse mehr als alles andere auf der Welt hasste.
»Igitt!«, gab sie auch gleich zurück. »Das ist aber eine harte Strafe.«
»Sie muss hart sein, eben, damit man es nicht verrät. Das darf man nämlich auf keinen Fall, sonst hat man verloren, verstanden?