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ankern wir, um zu tauchen. Das hat seinen Grund. In den Sechzigerjahren hatten sowjetische Wissenschaftler vom Pazifik Krabben nach Murmansk gebracht und sie dort im Fjord ausgesetzt. Bei den Krabben handelte es sich um die so genannten Kamchatka-Krabben, besser bekannt unter dem Namen King Crabs. In Alaska werden sie schon seit Jahrzehnten gefangen und sehr profitabel überwiegend nach Japan verkauft. Die Krabbeltiere schmecken vorzüglich und können es diesbezüglich mit dem Hummer aufnehmen – und sie werden riesig groß. Ein einziges ausgewachsenes Exemplar kann daraus für die gesamte Mannschaft reichen. Das Experiment der sowjetischen Wissenschaftler übertraf alle Erwartungen. Die Krabben vermehrten sich explosionsartig in der Barentssee, offenbar gefielen ihnen die Lebensbedingungen dort ausgezeichnet. Inzwischen verbreiten sie sich entlang der gesamten norwegischen Küste und wandern immer weiter nach Süden.

      » Es ist der erste Tag mit Regen, aber irgendwie passt das Wetter zu diesen maroden Gebäuden. Wir stöbern ein wenig in Ruinen herum, klettern auf die umliegenden Berge und genießen die Stille und Einsamkeit.«

      Ulli ist in jeder freien Minute am Malen. Die Pfahlbauten von Vardø haben es ihm angetan.

      Doch wie immer bei solchen Experimenten gibt es auch hierbei einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Kamchatka-Krabben haben außer dem Menschen keine natürlichen Feinde – und sie sind überaus gefräßig. Wenn sie nicht entsprechend befischt werden, werden sie den Meeresboden ratzekahl leer fressen. Für die norwegischen Fischer hat sich damit ein ganz neuer Erwerbszweig aufgetan, obgleich die Quoten streng reglementiert werden.

      Die Krabben, die wir unter Wasser zu sehen bekommen, sind gemessen an denen, die ich aus Alaska kenne, eher klein. Ein Fischer klärt uns auf, dass sich die Krabben während der Sommermonate in tiefere Gewässer zurückziehen. Im Winter kommen sie dann wieder in küstennahe Gewässer, wo sie wie eine Invasion einfallen. Sie werden in Körben gefangen, in die man Heringe als Köder legt. Die großen Krabben können zwölf Kilogramm schwer werden – sagt man. Die Bewohner einzelner Siedlungen fangen sie für den Eigenbedarf – in der Regel braucht man ja nur ein Tier zum Sattwerden –, indem sie von einem Ponton Netze ins Wasser hängen. Die Krabben klettern dann ganz allein an die Oberfläche und können dort abgesammelt werden.

      Wo immer wir unter Wasser abtauchen, treffen wir auf King Crabs. So lecker sie sind, auch hier hat der Mensch in das Regulativ der Natur eingegriffen. Die Krebse gehören dort einfach nicht hin. Bleibt zu hoffen, dass sich daraus nicht auch eine biologische Zeitbombe entwickelt. Ich denke, man tut gut daran, die Tierchen kräftig zu befischen. Sollten sie dort oben einmal wieder verschwunden sein, wäre lediglich der Normalzustand wiederhergestellt.

      Vardø soll unser letzter Hafen in Norwegen sein. Das schöne Wetter hält an, wir segeln raumschots unter Vollzeug immer in Sicht der Küste. Die Schiffe der Hurtigrouten passieren uns, gelegentlich treffen wir auf Fischkutter, ansonsten gehört das Meer uns. Die Schären, die Vardø vorgelagert sind, kommen in Sicht, wir beginnen die Ansteuerung, und da der Wind weiterhin günstig kommt, laufen wir unter Segel in den Hafen ein. Dort machen wir einen Aufschießer, werfen die Fallen der Vorsegel los und fieren das Großsegel. An Land sehen uns Fischer auf ihren Booten zu, es muss ein schöner Anblick gewesen sein, unsere alte Dame in der Abendsonne unter Segel einlaufen zu sehen. Nachdem wir die Segel eingepackt und das Deck aufgeklart haben, machen wir an einer alten Holzpier zwischen Fischereischiffen fest.

      Von hier an wird es ernst! Am nächsten Tag kommen Brigitte und Achim an, damit sind wir vollzählig. Wir bunkern Diesel, füllen die Wassertanks auf, ergänzen Proviant, füllen die Benzinkanister für den Außenborder und nehmen die einzige öffentliche Duschgelegenheit in Anspruch. Zusammen mit Brigitte lasse ich in einem Restaurant bei einer Flasche Wein die letzten Wochen Revue passieren. Während ich mich seit meiner Ankunft an Bord bestens eingelebt habe und mich fühle, als wäre ich nirgendwo anders gewesen als auf diesem Schiff, kommt Brigitte direkt aus ihrem turbulenten Architekturbüro. Während sie mir von den Vorgängen von zu Hause berichtet, werde ich wieder von der Wirklichkeit eingeholt. Für mich gibt es zwei Wirklichkeiten – die auf dem Schiff und die zu Hause im Büro, wo das Leben nach ganz anderen Vorgaben abläuft. Mit einem Mal bin ich wieder mitten drin in der Organisation. Einmal mehr fühle ich mich in Gedanken als Wanderer zwischen den Welten.

      Vardø vorgelagert liegt eine Vogelinsel, auf der Papageitaucher und Kormorane brüten.

      Die Hafenausfahrt von Vardø. Es ist kurz nach Mitternacht, in wenigen Stunden werden wir auslaufen. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur russischen Grenze.

      Während ich mich mit den vorgeblich letzten bürokratischen Hindernissen herumärgere, genießt Katja ein paar stille Stunden in der fantastischen Fjordlandschaft Norwegens.

      Fototermin auf dem Vorschiff mit der gesamten Crew.

      Das idyllischee Anwesen von Gerd Schwalenstöcker auf Haakøy. Hier machen wir Crewwechsel und treffen letzte Vorbereitungen.

      Beim Held

      der

      Sowjetunion

      MOSKAU

      •

      55° 45’ N; 37° 37’ E

      03

      Mit »five drops of Vodka« wird in Russland traditionell der gelungene Abschluss eines Gesprächs begossen.

      Drei Wochen zuvor. Ich bin wieder hier. Obwohl ich mich seit fünfzehn Monaten mit kaum etwas anderem beschäftigt habe als mit der Planung und Vorbereitung für meine neue Expedition nach Sibirien, obwohl ich diesen Tag herbeigesehnt habe, an dem ich endlich in Moskau die Genehmigungen für das Projekt in Empfang nehmen kann, bin ich voller Selbstzweifel und innerlich aufgewühlt.

      Schweigend und eiligen Schrittes gehe ich neben meinem Freund Slava Melin durch die sonnendurchfluteten Straßen Moskaus. Es ist heiß, und mir läuft der Schweiß den Rücken runter. Die ungewohnte Krawatte fühlt sich um meinen Hals an wie ein Strick. An einer Hausecke sehe ich auf einer übergroßen Anzeigetafel neben Werbung ein digitales Display: Es zeigt 41 °C an.

      Moskau hat sich verändert. Zehn Jahre sind es her, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin. Damals herrschte Winter, und die kalte, trostlose Witterung passte bestens zu dem tristen Grau der Häuserfassaden. Wer die Anlage zur Schwermut in sich verspürte, kam hier voll und ganz auf seine Kosten. Wie oft hatte mich Slava in der Zwischenzeit wieder eingeladen, ihn zu besuchen: »Du musst einfach kommen, das Land ist nicht mehr das gleiche, das du in deiner Erinnerung trägst.« Immer wieder hatte ich teilweise unter fadenscheinigen Ausflüchten abgesagt – ich hatte einfach keine Lust dazu, mochte es ihm aber nicht so deutlich sagen, weil ich fürchtete, ihn damit zu verletzen. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Slava kennt mich viel zu gut, um den wahren Grund nicht längst erahnt zu haben.

      Aber er hat Recht gehabt! Der Flugplatz Sheremetyevo II mag noch der Gleiche sein, aber die veränderte Welt beginnt unmittelbar nach der Passkontrolle: Eine Verkehrsdichte wie auf dem Champs-Elysées, Werbetafeln an jeder Ecke, junge Frauen, die elegant und bisweilen ein wenig schrill gekleidet sind, Häuser frisch renoviert, Ruinen abgerissen, neu erbaute Gebäude, denen man ansieht, dass damit nicht ein staatliches Plansoll erfüllt werden sollte, sondern dass Architekten wohl überlegt und geplant haben. Eisverkäufer haben Hochsaison, die Cafés sind voll belegt, in einem öffentlichen Brunnen baden ausgelassen Kinder. Heerscharen von Touristen aus aller Herren Länder belagern geduldig das Eingangstor zum Kreml, und Laienschauspieler schreiten ganz ungeniert und würdevoll in der prunkvollen Robe der letzten Zarenfamilie über den Roten Platz – in unmittelbarer Nähe des Mausoleums von Wladimir Illitsch Lenin. Geschieht ihm recht! Während bei meinem letzten Besuch noch eine schier endlose Schlange von Besuchern vor der Gruft wartete, um dem verblichenen und seither kunstvoll konservierten Revolutionär

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