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Jahr erneut auf Booten in die Hohen Breiten wagen, gewissermaßen den Gegenpol zu dem völlig durchorganisierten und in einem eng gefassten Raster aus Richtlinien und Verpflichtungen verlaufenden Leben suchen. Auf Zeit versteht sich. Man nennt es auch Sehnsucht.

      Als ich im September 1994 beim Verlassen des Hafens von Providenija die letzten tristen und baufälligen Gebäude der Stadt hinter einer Fjordbiegung verschwinden sah, war meine erste Amtshandlung den Deckwaschschlauch hervorzuholen und die Pumpe anzustellen. Mit zusammengebissenen Zähnen, verbittert und ohne einen weiteren Blick nach achtern zu werfen, spritzte ich das Deck von Ruß, Kohlenstaub und Sand frei – mit einer Entschlossenheit, als könnte ich damit gleichsam auch unliebsame Erlebnisse und Erinnerungen über Bord waschen. Für mich war das Thema Russland durch. Ich war frustriert, enttäuscht, wütend und traurig zugleich. Nein, hier wollte ich nicht wieder hin.

      Der Versuch der Durchfahrung der Nordostpassage war im dritten Anlauf gescheitert. Weniger wegen der schwierigen Eisverhältnisse – damit hätte ich gut leben können –, sondern vielmehr wegen der ablehnenden Haltung einiger Verwaltungsbeamter und der Hafenbehörde. Warum das so war, habe ich nie verstehen können.

      Damals stand für mich fest, dass ich nie wieder mit einem Schiff in die russische Arktis zurückkehren würde. Zu hoch schien mir der Einsatz, zu gering die Erfolgsaussichten und überhaupt – ich hatte die Nase gestrichen voll!

      Warum ich im März 2001 dennoch wieder den Entschluss fasste, einen weiteren Versuch zu unternehmen, kann ich auch heute nicht genau erklären. Sibirien entlässt einen nicht so mir nichts dir nichts. Man kann sich nicht einfach von dem Land mit all seinen Ärgernissen und Widrigkeiten, aber auch von seiner Faszination lösen. Sibirien bedeutet Widerspruch. Ich hatte Abstand gewonnen, mich aber niemals richtig gelöst. Ich hatte probehalber im Sommer einen Törn nach St. Petersburg unternommen und verwundert festgestellt, dass sich das Land gewandelt hatte. Aber St. Petersburg ist nicht Sibirien.

      Sich auf die Nordostpassage erneut einzulassen, hieß endlose Korrespondenz mit russischen Behörden einzugehen. Eine Kalkulation zu erstellen, die eigentlich nur aus lauter Unbekannten bestehen würde. Ich würde mich wieder in die Hände von Menschen begeben, die gnadenlos jeden abzocken, der sich in ihren Einflussbereich begibt. Ich würde mich nur darauf einlassen, wenn mein russischer Freund und Expeditionsbegleiter Slava mit von der Partie wäre. Er sicherte mir dies spontan zu, wir stießen mit einem Glas Vodka darauf an – und ich war gefangen.

      Noch lange danach quälte mich die Unsicherheit, ob ich mich hier auf etwas eingelassen hatte, das meinem eigenen innersten Wunsch entsprach oder ob es hier um schlichte Überredungskunst sowie eine sportliche Herausforderung ging – mit sehr ungewissem Ausgang. Letztere Gründe wären ein schlechter Ratgeber gewesen. Das Eis schreckte mich nicht – obwohl ich allen nötigen Respekt davor habe. Aber die Ungewissheit, ob wir alle Genehmigungen erhalten würden, und natürlich die Erfahrungen der früheren Reisen – das machte mir Angst.

      Deshalb soll dieses Buch auch kein schlichter Bericht einer Eisfahrt werden. Ich habe so viele Meilen im Eis und unter schwierigsten Bedingungen zurückgelegt, dass ich diese Art zu reisen trotz aller Faszination als eine Art Handwerk verstehe. Ich habe gelernt, mit dem Eis umzugehen, auch wenn ich immer wieder staunend und sorgenvoll wie ein Berufsanfänger vor neuen Herausforderungen und Schwierigkeiten stehe. Die Abenteuer stellen sich ganz von allein ein. Aber ich brauche mir diesbezüglich nichts mehr zu beweisen. Sibirien hingegen ist für mich etwas sehr Persönliches. Sibirien ist anders. Sibirien hält mich gefangen. Gerade in der Retrospektive zu unseren früheren Reisen im Rahmen der Icesail-Expedition würden sich interessante Vergleiche herstellen lassen.

      Als wir 1991 nach Russland einliefen, gab es noch die Sowjetunion. Wir hatten den Militärpautsch im August 1991 ebenso miterlebt wie den Flaggenwechsel von Hammer und Sichel hin zu der russischen Nationale. Keine andere Region der arktischen Hemisphäre ist so abgelegen und verbirgt ihr Antlitz so total wie der sibirische Norden.

      Ich werde meine Eindrücke unterwegs zu Papier bringen und sie so stehen lassen, wie sie mir begegnet sind. Vielleicht werde ich am Ende der Saison wieder meinen Deckwaschschlauch hervorkramen und mit finsterer Mine sagen: »Das war endgültig das letzte Mal.« Vielleicht komme ich aber auch zu einem ganz anderen Ergebnis. Und diese Ungewissheit ist Rechtfertigung genug, um eine neue Reise zu unternehmen. Würden wir nicht das Unbekannte wagen, wären wir schon zu Lebzeiten erstarrt.

      Murmansk, 21. Juli 2002

      Einjähriges Eis, das sich in Auflösung befindet. Aber der Schein trügt: Das Eis ist immer noch knapp zwei Meter dick.

      Die Nordostpassage

      Die Nordostpassage ist die kürzeste Verbindung zwischen den Häfen Nordeuropas und den Häfen Asiens.

      Als Einstieg ein kleines Zahlenspiel: Die Strecke von Hamburg nach Yokohama beträgt auf der Suez-Kanal-Route 11.073 Seemeilen. Auf der längeren Route um das Kap der Guten Hoffnung herum muss ein Schiff sogar 14.542 Seemeilen zurücklegen. Die Nordostpassage jedoch schlägt dagegen lediglich mit 6.920 Seemeilen zu Buche, sie ist also um ganze 4.153 Seemeilen kürzer als die heute gebräuchliche Suez-Route.

      Wäre dort nicht das Eis! Die bloße Erkenntnis, dass rein rechnerisch gesehen der Seeweg über den Pol nach Asien kürzer ist als der lange und beschwerliche Weg um die Kontinente mit ihren stürmischen Kaps herum war den Kaufleuten, Geografen und Seefahrern schon seit Jahrhunderten bewusst. Unzählige Schiffe, Besatzungen und kostbare Ladungen gingen auf der Südroute verloren. Anlass genug, um Expeditionen auszusenden, die den Auftrag hatten, eine Passage auf der Nordroute zu erkunden. Es gab aber auch noch eine politische Komponente. Als 1494 im Vertrag von Tordesillas die Welt zwischen Portugal und Spanien sozusagen aufgeteilt wurde, waren anderen seefahrenden Nationen die Südrouten weitestgehend versperrt. Selbstverständlich versuchten diese sich rechtzeitig neu zu orientieren – und damit erwuchs das Interesse an den arktischen Regionen.

      England konzentrierte sich auf die Suche nach einer nordwestlichen Durchfahrt, der Nordwestpassage, während Holland sich frühzeitig auf die Suche nach einer nordöstlichen Durchfahrt machte. Die russischen Zaren – in Unkenntnis über die wahre Größe ihres Reiches und den Küstenverlauf – sandten ebenfalls Expeditionen aus, um das Land zu kartografieren und neue Handelswege zu Wasser und zu Lande zu erkunden. Einer der Ersten, der brauchbare Informationen über den östlichen Teil der russischen Nordmeerküste mitbrachte, war der Kosake Semjon Deshnew, der 1648 als Erster mit sechs Booten und 90 Mann von dem Fluss Kolyma bis nach Anadyr segelte und damit den Beweis antrat, dass Sibirien und Amerika nur durch eine Wasserscheide – die Beringstraße – getrennt sind. Lediglich ein Boot und fünfundzwanzig Mann überstanden die Strapazen dieser Expedition. Die Landkarten, die er im Verlauf seiner Reisen anfertigte, unterlagen 100 Jahre lang der höchsten Geheimhaltung.

      Der Holländer Wilhelm Barents versuchte 1596, einen Seeweg von Westen kommend zu erkunden und gelangte immerhin bis an die Nordspitze Nowaja Zemljas, wo sein Schiff schließlich einfror und zerdrückt wurde und er sich aus den Wrackteilen mit seiner Mannschaft eine Behausung baute, um den arktischen Winter zu überstehen. 25.000 Gulden – für die damalige Zeit eine unvorstellbar hohe Summe – waren als Belohnung für die Entdeckung einer Passage ausgelobt worden. Zwar gelang es den Holländern, den polaren Winter zu überstehen. Bei dem Versuch, im nächsten Sommer das Festland zu erreichen, erlag Barents jedoch den Strapazen. Die Überlebenden hingegen wurden gerettet und mit ihnen die Aufzeichnungen Wilhelm Barents’. Die Passage hatten sie nicht entdeckt, wohl aber das Wissen über diese Region vertieft. 300 Jahre später wurden durch einen Zufall sogar die Reste des Winterlagers auf Nowaja Zemlja gefunden. Damit ist diese Expedition vermutlich nicht nur eine der frühesten auf der Suche nach der Nordostpassage, sondern zugleich diejenige, die am besten dokumentiert ist.

      Als eigentlicher Entdecker der Nordostpassage gilt der schwedische Baron Adolf Erik Nordenskiöld. Mit seinem Schiff VEGA durchfuhr er von 1878 bis 1879 vollständig die Passage. Günstige Eisverhältnisse erlaubten ihm innerhalb eines Sommers bis kurz vor die Beringstraße zu segeln, und hätten

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