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Die Wurzel des Bösen. Anna Grue
Читать онлайн.Название Die Wurzel des Bösen
Год выпуска 0
isbn 9783037920770
Автор произведения Anna Grue
Жанр Языкознание
Серия Dan Sommerdahl
Издательство Bookwire
»Aber Anton! Jetzt geht die Fantasie wirklich mit dir durch.«
»Was glaubst du denn, was passiert ist?« Als ob sich in den zehn Minuten, seit er die Frage zuletzt gestellt hatte, irgendetwas geändert hätte.
»Vielleicht braucht Papa ein bisschen Zeit für sich selbst«, sagte sie wie beim letzten Mal. »Er wirkte in der letzten Zeit so müde.«
Anton überlegte eine Weile. Dann sah er sie an. »Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, nein, mein Schatz«, beeilte Benedicte sich zu sagen, während sie spürte, wie eine Woge des schlechten Gewissens ihren Körper durchspülte. »Natürlich nicht. Ich glaube nur, dass er ein bisschen gestresst ist.«
Tatsächlich war das nicht einmal gelogen, tröstete sie sich. Martin wirkte seit Längerem merkwürdig resigniert. Wer weiß, ob er nicht doch einen Verdacht über ihr Verhältnis mit Axel hatte. Es war nicht unwahrscheinlich. Benedicte konnte ihre Gefühle noch nie gut verbergen, und es wäre merkwürdig, wenn er ihr verändertes Verhalten in der letzten Zeit nicht bemerkt hätte. Sie hatte plötzlich ungewöhnlich viele Abendtermine, saß häufig einfach nur da und starrte in die Luft, bekam ungewöhnlich viele Kurznachrichten, die sie hastig löschte, sobald sie sie gelesen hatte, und wies ihren Mann unter der Bettdecke immer öfter ab. Ja, er ahnte mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit, was vorging, und selbstverständlich hatte ihm das zugesetzt. Alles andere wäre auch eigenartig gewesen.
Am Nachmittag hatte sie Martins Praxishelferin Lieselotte angerufen, um sie zu bitten, alle Termine für die nächsten Tage abzusagen. Nach einem Moment des Zögerns fragte Benedicte sie, ob Martin in den letzten Wochen verändert gewirkt hätte. Hatte er Stress? War er reizbar? Unaufmerksam? Liselotte, so direkt befragt, räumte ein, dass das schon zutraf. »Aber sonst ist er ja der beste Chef, den man sich nur denken kann«, fügte sie hinzu. »Ich bin sicher, er ist bald wieder er selbst.«
Benedicte spürte plötzlich, wie sich ihr Hals zusammenzog. »Ich verstehe nicht, was passiert ist. Ich bin so …«
»Ja, einfach so zu verschwinden, sieht ihm überhaupt nicht ähnlich«, sagte Liselotte, die seit Jahren für Martin arbeitete und mit der Zeit eine enge Freundin der Familie geworden war.
Benedicte räusperte sich. »Ich habe solche Angst, dass er irgendetwas Dummes getan hat.«
»Meinst du, er könnte auf so eine Idee gekommen sein?«
»Vielleicht, ich weiß es wirklich nicht.« Benedicte weinte. Zum ersten Mal seit Martins Verschwinden.
»Ja, er war tatsächlich nicht so ganz der Alte«, sagte Liselotte noch einmal. »Vielleicht hat er eine Depression?«
Benedicte weinte so sehr, dass sie nicht antworten konnte.
Nach einer Pause ergriff Liselotte wieder das Wort. »Unterbrich mich, wenn ich zu persönlich werde …«
»Sag schon!«
»Hat Martin einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
Benedicte zuckte zusammen. »Aber nein.«
»Bist du dir sicher?«
Ihr Ja kam nur zögernd.
»Hast du danach gesucht?«
»Nein, nicht so direkt.« Es war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen. »Einen Abschiedsbrief? Ist das nicht sehr melodramatisch?«
»Hinterlassen Selbstmörder nicht in der Regel einen Abschiedsbrief?«, fragte Liselotte. »Ich habe mal eine Radiosendung darüber gehört. Wenn jemand tot aufgefunden wird, und es sieht aus wie Selbstmord, wird die Polizei misstrauisch, wenn kein Abschiedsbrief hinterlassen wurde.«
»Aber Martin wurde nicht tot aufgefunden, Liselotte! Er ist nur … weg.« Benedicte kamen erneut die Tränen.
»Ja, natürlich. Entschuldige. Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
Schon möglich, dass es keine Absicht war, dachte Benedicte jetzt, ein paar Stunden später, als sie vorsichtig die Tür zu Antons Zimmer hinter sich zuzog und die Treppe hinunterging. Doch es war passiert. Liselottes Gerede über Selbstmord und Abschiedsbriefe hatte sie tief erschüttert, es war ihr schwergefallen, Anton die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die er brauchte. Das Risiko, dass Liselotte mit ihrem Verdacht recht hatte, bestand. Allerdings sprach vieles dagegen. Zu allererst Anton. Würde Martin seinen Sohn auf diese Weise im Stich lassen? Nicht der Martin, den Benedicte kannte. Er würde alles tun, was in seiner Macht stand, damit Anton nicht allein zu Haus war. Und er hätte ihm jedenfalls nie ein Burger-Fest auf dem Sofa versprochen, wenn er vorhatte, nicht zu erscheinen. Außerdem gab es noch die Praxis. Martin hatte noch nie Termine versäumt – und das einzige Mal, wo es tatsächlich vorgekommen war, hatte er eine Lungenentzündung mit beinahe vierzig Grad Fieber. Wenn Benedictes verantwortungsvoller Mann beschlossen hätte, sich das Leben zu nehmen, hätte er es besser vorbereitet. Er hätte seinen Patienten unter irgendeinem Vorwand rechtzeitig abgesagt, für Anton gesorgt und seine Papiere in Ordnung gebracht.
Papiere, überlegte Benedicte. Vielleicht sollte sie sich Martins Arbeitszimmer ansehen. Es könnte ja doch sein, dass er irgendeine Nachricht für sie hinterlassen hatte.
Das kleine Büro lag im ersten Stock, zwischen ihrem Schlafzimmer und Antons Zimmer. Ursprünglich hatten sie geplant, dass es das Zimmer für ihr zweites Kind werden sollte, doch es war bei dem Gedanken geblieben. Ein Kind reichte offensichtlich, um ihre Brutpflegeinstinkte zufriedenzustellen. Oder etwa nicht?, dachte Benedicte, als sie an der Tür ihres Sohnes vorbeiging. Vielleicht hätten sie nicht so viele Probleme gehabt, wenn die Familie sich etwas ausbalancierter entwickelt hätte. Zwei Erwachsene und zwei Kinder. Es wäre jedenfalls besser für Anton, ging ihr durch den Kopf, als sie die Tür des Arbeitszimmers aufschob. Er wirkte oft so einsam, auf eine etwas zu erwachsene Art und Weise. Sein Leben wäre mit einem Bruder oder einer Schwester ganz anders verlaufen, aber nun war es zu spät, um es zu bereuen. Egal, ob Martin zurückkehrte oder nicht. Mit einem Altersunterschied von gut zwölf Jahren würden es zwei Einzelkinder statt nur einem werden, und wem half das?
Benedicte schaltete die Deckenbeleuchtung an und blieb in der Tür stehen, während sie den Blick schweifen ließ. Sie kam so selten in dieses Zimmer, dass sie sich zuerst orientieren musste, so als wäre sie in einem fremden Haus. Sonst dominierte im Haus ihr Geschmack. Designermöbel aus hellem Holz, Originallithografien in strahlenden Farben, teure Teppiche. Benedicte liebte es, sich mit schönen Dingen zu umgeben und benutzte den halbjährlichen Bonus der Firma gern, um in Möbel, Lampen oder Kunst zu investieren. Diese acht Quadratmeter gehörten Martin, hier bestimmte nur er. Und seine Prioritäten waren wahrlich anders als ihre, dachte sie, als sie sein schlichtes Leiterregal betrachtete. Er war ihm seit seinem ersten Zimmer im Studentenwohnheim treu geblieben, das unbehandelte Kiefernholz war inzwischen dunkelbraun. Die meisten Regalbretter standen voller Fachliteratur, ausgefranster Aktenordner und Stapel von Zeitschriften, nur im obersten befand sich eine Reihe verstaubter Pokale aus Martins Jugend. Fußball, Leichtathletik, Tennis. Damals war er Sportler gewesen, jetzt begnügte er sich damit, hin und wieder joggen zu gehen, aber er war noch immer rank und schlank. Über dem Schreibtisch hingen ein Foto von ihr und Anton sowie das Konzertplakat einer AC/DC-Tournee aus den Neunzigern. Ansonsten waren die Wände kahl und weiß gestrichen. Auf dem Parkett lag kein Teppich, und vor dem Fenster hing keine Gardine, nur eine Aluminiumjalousie.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und schaltete die Schreibtischlampe ein. Einen Augenblick später bemerkte sie, dass man für den Computer ein Passwort benötigte. Martin war ein geradezu neurotischer Sicherheitsfreak, der den Code für die Alarmanlage der Zahnarztpraxis jeden Monat wechselte. Benedicte hätte wetten können, dass dies auch für seinen heimischen Computer galt, es nützte also nichts, es mit den plausibelsten Möglichkeiten zu versuchen. Garantiert hatte er die nicht verwendet. Sie schaltete den Computer wieder aus.
Auf der Schreibtischplatte lag ein Stapel Überweisungsformulare und ein Haufen Papiere, die keine weitere Bedeutung hatten. Benedicte blätterte sie durch und war erleichtert, als sie keinen Abschiedsbrief zwischen den Mitteilungen vom Finanzamt, der Müllabfuhr oder seiner Autowerkstatt