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seinen einen durchlöcherten Stiefel, der ihm schlapp genug um den Fuß gehangen haben mochte. Den warfen sie ihm in hellem Mutwillen nach. Dann ging es über die Kirschbäume her. Lore blieb unten stehen und zog, auf den Zehenspitzen stehend, einen niedrig hängenden Zweig um den andern zu sich heran, um ihn abzuernten. Dann setzte sie sich in den Schatten und wartete, bis ihr die andern hie und da eine Handvoll Kirschen ins Gras warfen. Es lag von Anfang an nicht in ihrer Art, auf Bäume zu steigen. Gertrud saß oben in dem großen Herzkirschenbaum, Georg gegenüber. Hoch über ihnen beiden kletterte Franz in den äußersten Zweigen, wo die süßen Früchte in der Sonne kochten. „Du,“ sagte Georg unter’s Essen hinein, „muß dir was sagen. Meine Mutter ist krank, anders, weißt du, als vorher. Sie liegt im Bett und hat immer die Augen zu. Jungfer Liese hat’s zur Frau Metzger Konz gesagt. Vielleicht stirbt sie; wahrscheinlich stirbt sie, hat sie gesagt.“ „Wie die meinige.“ Gertrud nickte sachverständig. „Guck’ einmal, da sind lauter Zwillingskirschen, die kann man sich an die Ohren hängen. Streck’ mir deinen Kopf herüber, so, noch ein bißchen näher, jetzt hast du Ohrringe. Wart’ einmal, ich hänge mir auch an.“ Da fing sie an zu lachen. „Weißt du, wer wir jetzt sind? Der Kaufmann Henne und seine Frau. Guten Morgen, Mann. Du, weißt du, warum die immer so große goldene Ohrringe tragen, er und seine Frau und seine Söhne, und glaub’ ich noch die Magd? Soll ich dir’s sagen? Ich weiß es von Frau Judith; aber man weiß nicht, ob es auch so ist. Also: da war einmal einer von ihnen, glaub’ ich, sein Großvater, der war so krank, daß ihm kein Doktor mehr helfen konnte; er mußte bald sterben und das wollte er noch nicht. Da ging er in den Wald und setzte sich unter einen Baum und seufzte ganz laut und sagte so vor sich hin: „Wenn es doch nur etwas gäbe, das mir die Krankheit aus dem Leibe zieht. Da stehen die Kräuter um mich herum und sind stark und frisch. Wer weiß, was sie für Kräfte haben? Warum muß ein Mensch krank sein? Das ist etwas Fremdes, Böses. Das ist wider die Natur.“

      Da regte sich etwas neben ihm, und was er für eine große Baumwurzel gehalten hatte, war ein altes Männchen. Das stand auf und stellte sich vor ihn hin und sagte: „Da hast du recht. Krank sein muß einer nicht. Aber die Kräuter tun’s nicht. Da hilft nur das lautere Gold, das ganz tief aus der Erde kommt.“ Da griff es in seine Kitteltasche und holte ein paar große, goldene Ohrringe heraus. „Die mußt’ du in den Ohrläppchen tragen,“ sagte er. „Die ziehen dir die Krankheit aus dem Leibe. Das reine Gold verzehrt alle bösen Säfte.“

      Der alte Kaufmann Henne besah sich die Ohrringe. Sie waren groß und schwer, kein Mensch trug solche. Was würden die Leute sagen zu dem sonderbaren Schmuck? Aber das war ja doch einerlei. Wenn man darum gesund wurde. Da stach er sich Löcher in die Ohren und hängte die Ringe hinein. Und, sagte Frau Judith, dann sei er ganz stramm und aufrecht nach der Stadt zurückgekehrt und habe noch lang gelebt.

      Seither müssen alle Hennes solche Ringe tragen. Zuerst, wenn sie geboren werden, kleine, und dann immer größere. Wenn einer stirbt, begräbt man seine Ohrringe besonders in der Erde. Ein Jahr lang, dann sind sie wieder zu gebrauchen, dann hat die Erde alles angezogen. Da war eine Tochter von dem vorigen Henne, die wollte nicht anders sein als andere Leute und hängte sich die Ohrringe aus, wenn sie aus dem Haus ging. Die wurde krank und starb.“

      „O du,“ sagte Georg, „die wäre wohl ohnehin gestorben.“ Er nahm sich den hängenden Schmuck von den Ohren und aß ihn auf. Er war ihm nicht mehr recht geheuer. „Das ist wohl nur so eine Geschichte.“

      „Was für ein Unsinn,“ sagte Franz, der auch zugehört hatte, „damit ist gar nichts anzufangen. So ist’s: Als der alte Henne, der vorige, das Haus baute, da drang das Grundwasser vom Stadtbach her in den Keller. Da war alles feucht im Haus und sie kriegten alle miteinander entzündete Augen, nur der Knecht nicht, der hatte kleine, goldene Knöpfchen in den Ohren von seinem Taufpaten her.

      Da sagte der alte Henne: „Ist wenig Gold gut, so ist mehr besser,“ und ließ gleich für die ganze Familie Ringe machen, wie ein guter Schlüsselring in der Größe. Da wurden sie gesund, und jetzt ist das Haus lange trocken, aber jetzt sind sie’s gewöhnt.“ „Ja, und wenn sie einer ablegt, dann zieht ihm irgend was aufs Herz. Die Entzündung,“ sagt Jungfer Liese, „und dann stirbt er.“

      „Ach, das ist ja einerlei,“ sagte Gertrud. „Das sind alles so Geschichten. Willst du gleich die Steine heraustun, Franz! Wenn man einen Kirschenstein schluckt, wächst einem ein Baum im Magen. Der zersprengt einen, dann muß man sterben. Das sagt Frau Judith.“

      „Ach, immer mit eurer Frau Judith. Immer mit eurem Sterben.“ Franz war ein bißchen erschrocken. Da tat er ärgerlich: „Wenn ihr sonst nichts wißt.“

      „Die Mutter muß auch,“ sagte Georg. Das ging ihm heute so neben allem her. Nicht als Schmerz gerade. Er war jetzt zehn Jahre alt und als sie von ihren Kindern ging, in das dunkle Haus ihrer Seele, da war er erst zweijährig gewesen. Die paar schattenhaften Züge, die noch von ihr in seinem Herzen lebten, waren immer blässer geworden. Da hatte er angefangen, sich ein neues Bild von ihr zu schaffen; abends, wenn er im Bett lag. Das bekam von ihm alle schönen freundlichen, starken und liebenswerten Züge zugeteilt, die er irgend an andern Menschen sah. Aber auch die Menschen seiner Umgebung arbeiteten an dem Bild, und fügten traurige, mitleidenswerte, grausige und sogar schuldige Züge hinzu. Da mit einem Wort und dort mit einem. Das gab eine Mischung von Wonne und Grausen in die Gedankenwelt des kleinen Buben hinein. Es war nur ein Traumbild, das ihm sterben wollte. Aber es war ihm nun doch, als ob er nie mehr abends unter der Decke seine stillen Fäden in Furcht und Liebe zu diesem Bild hin spinnen könne. Es gab doch auch eine Leere. Er wußte nichts, das an dessen Stelle treten könne. Er konnte mit niemand davon reden; am Tag dachte er auch nur selten daran; nur heute ging der Gedanke so mit ihm. Darum fing er immer wieder davon an.

      „Das kann man noch nicht wissen,“ sagte sein Bruder Franz. „Wir müssen noch Kirschen brechen zum Heimbringen. Gib einmal den Korb herauf, Lore.“

      „Lore! Die schläft ja wohl?“ Nein, das tat sie nicht. Sie hatte sich aus den trockenen, harten Kirschen eine breite, prächtige Halskette gemacht, immer einen Stiel neben den andern mit rotem Garn gebunden. Die hatte sie nun umgehängt, gerade als sie gerufen wurde. Das mußte zuerst in Ordnung sein.

      „Da,“ sagte sie dann. „Nein, ich schlafe gar nicht. Guckt einmal. Bin ich nicht schön?“ Sie stellte sich auf die Fußspitzen und drehte sich einmal im Kreise.

      Doch, das war sie. Das sahen auch die anderen. Wie die roten, schimmernden Früchte um den weißen Hals lagen, der, gleich den Armen, entblößt war; wie die losen, rotblonden Haare auf das hellblaue Kleidchen fielen. Nein, sie wußten nicht so recht, warum Lore schön sei; sie fühlten es mehr. Sie war solch ein kleines, feines, leichtes Ding. Es tat nichts, daß sie in der Schule selten etwas recht konnte, und auch nicht, daß sie bei den Spielen immer zimpferlich tat. Sie mochten sie doch gern dabei haben. „Wißt ihr was?“ sagte Franz einmal, „zum Wegblasen ist sie. Wie Mehlstaub ist sie,“ sagte er und wählte den Vergleich aus seinem künftigen Handwerk, „man muß nur blasen, dann fliegt sie.“ „Nein,“ sagte Georg, „wie ein Löwenzahnstengel; wenn man bläst, fliegen die Samen hinaus, und so fliegt ihr Haar, aber Lore selber? Die steht doch fest auf den Füßen.“ Er war gründlicher, er konnte nicht recht solch ungenaue Vergleiche leiden.

      Franz sah von seinem hohen Sitz aus wohlgefällig auf Lore herunter. „Du Krott,“ sagte er. Das sollte eine Schmeichelei sein; so faßte sie es auch auf. Sie lachte vergnügt und hüpfte ein paar Schritte gegen den Abhang zu. Da sah man den steilen Weg hinunter und weit über das Tal hin. „O,“ rief sie und drehte den Kopf zurück, „da kommt Lude. Der rennt, was er kann. Jetzt ist er an den Staffeln. So rennt kein Mensch sonst den Berg herauf. O, jetzt verliert er seinen Schlappschuh. Schon wieder! Jetzt nimmt er beide in die Hand und läuft in den Strümpfen.“

      Lude war der Bäckerlehrling. Es war schon bemerkenswert, daß er es so eilig hatte, er gehörte im gewöhnlichen Leben nicht gerade zu den Hastenden. Er war klein und rund und sah meistens schläfrig aus. Er wollte sicher etwas anderes, als etwa Kirschen brechen.

      Ein paar mal stand er still und schnappte nach Luft, dann trabte er vollends weiter den steilen letzten Stich herauf. Nun kam er heran. „Was ist, Lude?“ Sie fragten alle miteinander. Da stieß er unter Pusten

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