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wenigsten den Kleinen, den Georg. Man muß einander beistehen, das ist Christenpflicht.“ Das hätte sie nicht getan. Aber als der ernsthafte Bub’ so unter ihrer Gartentür stand an Gertruds Hand, und nicht recht Leben zeigte, da nahm sie ihn mit hinein. Natürlich. Was denn weiter?

      „Der Drehorgelmann hat wahrscheinlich Hunger gehabt, ihr Lämmer,“ sagte sie, „nicht nach alten Brotrinden, die in seiner Tasche waren, sondern nach etwas Besserem, das ihr noch nicht so versteht; da hat er denn so ein wenig gepoltert. Wenn die Leute Hunger haben, darf man ihnen nichts übel nehmen.“ Die Beiden saßen hinter dem Tisch und bissen tief in dickgestrichene Gesälzbrote und nickten einander mit blaurot verschmierten Gesichtern zu, und waren geborgen in einem Hafen, in den weder der eine noch der andere Hunger Zutritt hatte.

      Die Alten aber ließen mit Vergnügen ihre reifen Äpfel von den Zweigen fallen. „So, du möchtest gern noch mehr hören, Bub’?“ sagte der Rektor. „Das kann wohl sein.“ Und ging ans Klavier und ließ die Saiten tönen. „Ich hatt’ einen Kameraden,“ spielte er, und behielt dazu die Pfeife zwischen den Zähnen und sah sich drunterhinein nach den Kindern um. „Noch eins, Großvater,“ sagte Gertrud. Da spielte er ein altes Studentenlied: „Es hatten drei Gesellen ein fein Kollegium.“ Und es kam ihn an, daß er die Pfeife neben sich legte und dazu sang.

      „Aber Mann,“ sagte seine Frau. „Ist das auch ein Kinderlied?“ Nein, so eigentlich nicht, gab er zu, aber sie hätten doch ihr helles Vergnügen daran gehabt, und ob das nicht genug auf einmal sei?

      Sie kam mit Wasser und Schwamm und wusch ihnen die Gesichter ab. Und konnte es nicht lassen, den kleinen Buben in die Backe zu kneifen und nachher sänftigend darüber zu streichen. Es war ihr darum, ihm einen Kuß in sein ernsthaftes Gesicht hinein zu geben. Aber den hielt sie noch zurück. Sie wollte ihn nicht scheu machen. Das Kneifen tat auch heute denselben Dienst.

      Es fing etwas an, in dem Kinderherzen auseinanderzugehen. Es war, wie wenn sich ein grünes Blättlein in der Sonne auseinanderwickelt.

      Da war früher einmal, als Georg noch auf ungeschickten Füßen von einem Stuhl zum andern trippelte, eine Frau gewesen, die hatte ihn auch gewaschen und auch, — in die Backe gekniffen hatte sie ihn wohl nicht, aber ähnlich mußte es doch gewesen sein. Sie hatte später viel geweint. Es war einmal ein kleines Kindlein dagewesen, das war durch irgend einen Unfall bald wieder gestorben, und sie hatte sich ja wohl die Schuld daran zugemessen und hatte Tag und Nacht geweint. Es war oft laut dabei zugegangen. Das lag alles noch in unklaren Umrissen in dem Gedächtnis des kleinen Buben. Dann war sie eines Tages nicht mehr dagewesen. Das sei die Mutter, sagte Franz, der wußte es noch besser, der war zwei Jahre älter. Dem sagten es auch die Mägde genau. Sie sei hintersinnig geworden, sagten sie, und das sei schlimmer als tot und werde nie mehr anders. Denn sonst könnten sie eine neue Mutter bekommen und damit sei nun nichts. Der Vater sprach nie davon. Er sprach überhaupt selten etwas mit Georg, er wußte nichts mit dem stillen Kind anzufangen. Er tat ihm weder wohl noch weh. Nun war Jungfer Liese da, erst seit kurzem. Die sprach viel und hatte viel an ihm zu hantieren, zu putzen, zu flicken, zu erziehen. Sie hatte sich sozusagen mit aufgestülpten Ärmeln an ihre Aufgabe gemacht. Aber das ließ er so über sich ergehen. Seine Seele, die lag wohl noch in der Knospe, die regte sich nur so hie und da ein wenig. Aber jetzt, heute. Es war ihm so wunderlich zu Mute. Er mochte sich nicht rühren. Es war, als ob sonst alles aus wäre. Darum blieb er ruhig sitzen, bis irgendwo eine Glocke läutete und der Rektor sagte, daß das die Betglocke sei und daß er jetzt nach Haus gehen müsse. „Ja, und morgen kommst du wieder,“ sagte Gertrud, „und morgen komm’ ich wieder,“ sagte Georg, und der Rektor setzte auf dieses Versprechen einen ungeheuren Handschlag. Einen Handschlag, der an Kraft und Wärme alles übertraf, was Georg in den sechs Jahren seines Lebens in dieser Art kennen gelernt hatte und dem er seine kleine, braune Bubenhand und sein ganzes erwachende Ich ohne Widerstand auslieferte.

       Inhaltsverzeichnis

      Es war einmal ein Mensch, der saß ganz im Dunkeln. Er hatte sich ein Haus gebaut und daran die Fenster vergessen; es war ein einfältiger Mensch. Da saß er nun und sann, wie er Licht in sein Haus bringen könne. Denn daß es draußen die Welt erfüllte, das sah er, wenn er unter seine Tür trat. Und er ging aus, nahm einen Sack mit, in den ließ er die Sonne scheinen, dann, als er voll von Licht war, band er ihn zu und trug ihn in sein Haus. So tat er eine lange Zeit und wunderte sich, daß es nicht hell werden wollte, wenn er den Sack aufband und ausleerte. „Es ist noch nicht genug,“ sagte er und ging aufs Neue, Licht hereinzutragen. Es war ein hartes Leben. Es war nur zu ertragen durch die stete Mühe, die er sich machte. Denn die Mühe hat doch immer irgend eine Hoffnung, etwas zu erreichen, sei es noch so wenig.

      Da, als er eines Tages lange ausgewesen war, fand er, als er heim kam, die Wände seines Hauses eingeschlagen. Das hatte sein Feind getan. Der hatte ihm einen rechten Schabernack antun wollen. Nun konnte das Licht herein. Es strömte durch das ganze Haus und drang in alle Ecken. Ganz voll von Licht war das Haus. Aber nun war es auch zerstört. „Das schadet nichts,“ sagte der einfältige Mensch vergnügt, „wollen schon ein neues kriegen.“ Von dem neuen Haus ist nichts gesagt. Da wird er ja wohl das Licht hereingelassen haben.

      **

       *

      Es war ein großes, weißes Haus mit unzähligen Fenstern. Es stand abseits von dem Lärm der Gassen. Ein großer, schattiger Garten war rings darum her; die alten, hohen Bäume reichten mit ihren obersten Zweigen bis an das Dach. Aber es ging ein hoher, eiserner Zaun um den Garten; an der Eingangspforte war ein Wächter und er ließ nur hinein und heraus, wen er des Ein- und Ausgangs für berechtigt hielt. Die Fenster waren vergittert. Es waren Gefangene des Geistes, die in dem hohen Hause wohnten, Leute, die in irgend einer Art im Dunkel tappten. Sie konnten sich oder andere stoßen, wenn man sie draußen in der Weite gehen ließ. Darum hielt man sie hier verwahrt. Es war wohl der eine und der andere darunter, der nur für eine Zeitlang hier Zuflucht suchen mußte, der, so hoffte man, bald wieder hinaus konnte in das freie Licht. Aber es waren ihrer mehr, hinter denen sich das eiserne Gittertor für immer geschlossen hatte. Was man so menschlich „immer“ heißt, die Spanne Zeit, von der ein alter Dichter sagte, daß sie „dahinfahre wie ein Rauch“. Es ist nicht so weit her mit dem „immer“ eines Menschenlebens. Aber es kann doch lang währen, für den, der wartet, bis eine Zeit um die andere verstreicht, in Not der Gegenwart und Angst vor dem Künftigen.

      Es war wohl viel Angst und Not in den Gemächern des Hauses. Wache, helle Pein, die sich ihrer bewußt war, und die zu Zeiten ihr Elend in lauten, starken Tönen hinausschrie, als ob es die Tür des Himmels aufstoßen müßte; dumpfe, unklare Angst, unter der sich der Geist wand, der aufwachen wollte und nicht konnte. Lächelndes, blödes Elend, das seiner selbst vergessen hatte und mit der Not spielte, wie das Kind, das in der Wolfsgrube saß unter jungen Wölfen und sie mit dem Löffel aufs Maul schlug im Spiel: „Geh weg, oder ich geb’ dir eins.“

      Man kann nicht sagen, daß eins oder das andere das größte Elend von allen sei. Man darf wohl die Augen aufheben und sagen: „Sondern erlöse uns von dem Übel.“ Es ist gut, es ist wohl gewiß gut, daß das „für immer“ eines Menschenlebens nicht gar so lang währt, wenn man das betrachtet.

      Da war eine Frau, eine von denen, die keine Aussicht hatten, wieder mit hellen Augen durch die Welt zu gehen. Sie war noch jung; es sollte noch ein langes Leben vor ihr liegen, wer konnte das wissen? Als sie hereingebracht worden war, hatte sie immer in die dunkelsten Ecken gesehen, ratlose Angst im Gesicht, und hatte geweint und gewimmert. „Nein, es ist nicht tot. Laßt es mich noch einmal versuchen, nur noch einmal. Ich kann nichts dafür. Nein, ich kann nichts dafür. Kann auch ein Weib ihres Kindes vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?“ Ihre Reden und ihre Gedanken gingen durcheinander. Die Krankheit hatte sich in das Gewand der Schuld verkleidet. Die saß nun neben ihr und sah sie starr an und sagte: „Das war wohl so: du warst in der Backstube, als das kleine Kind so allein in dem großen Bett lag. Das war dir wohl wichtiger, daß das Geschäft blühe? Du hattest es wohl so eilig mit dem Reichwerden? Da schrie das Kind, und kam ins Ausgleiten, das arme kleine Ding. Und kam unter das große

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