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war das erste große Ereigniß in dem Leben der beiden Kinder. Sie hatten die Trennung, so oft auch davon die Rede war, doch immer in so ferne Zeiten verschoben, daß es wie ein entsetzlicher Donnerschlag über sie kam, als sie erfuhren, daß in wenig Wochen Hubert's Abreise erfolgen sollte.

      »Ich gehe mit dir nach H..,« sagte Esther entschlossen und stellte sich an Bertel's Seite. »Vater hat gewiß nichts dagegen; ich werde ja dann studiren wie du, und ohne dich lerne ich hier keine Zeile mehr, das weiß ich. Was sollst du denn ohne mich anfangen, Bertel?«

      Hubert sah das kecke Mädchen nachdenklich an.

      »Ich glaube, das wird doch nicht gehen, Esther,« sagte er traurig, »denn ich werde ja auf ein Gymnasium kommen, wo lauter Knaben sind, da paßt kein Mädchen hinein.«

      »So ziehe ich Knabenkleider an, das ist köstlich, das habe ich mir ja immer gewünscht!« jubelte Esther und klatschte in die Hände.

      »Aber deine langen Zöpfe?« sagte Bertel kopfschüttelnd.

      »O die schneide ich ab,« rief Esther fröhlich. »Da habe ich doch endlich Ruhe vor Tante Booland, die früh Morgens immer so lange daran kämmt und flicht, daß mir die Geduld oft ausgeht und ich ihr davon laufe. Da sieh', das ist bald geschehen!« Rasch ergriff sie eine Scheere und that einen tiefen Schnitt in ihr prachtvolles Haar. Aber da trat Frau Booland in das Zimmer und riß ihr die Scheere aus der Hand.

      »Bist du unklug, Kind? Was treibst du denn wieder?« rief sie heftig.

      »Ich gehe mit Bertel auf das Gymnasium nach H., da kann ich die dummen Zöpfe nicht brauchen,« entgegnete Esther, an den Flechten reißend.

      »Mit auf's Gymnasium?« sagte Frau Booland lachend. »Nun damit hat es gute Wege, da laß nur deine Zöpfe in Ruhe, mein Kind. Mädchen kommen da nicht hin.«

      »Ich gehe auch als Junge mit, versteht sich!« rief Esther rasch. »Tante Ihlefeld giebt mir gewiß von Bertels Kleidern, damit ich gleich mit kommen kann.« Frau Booland fing herzlich an zu lachen über Esthers Pläne, die sie für Scherz hielt. Als sie dann aber sah, daß ihr junger Wildfang wirklich im Ernst solchen Gedanken Raum gab, war sie still und sagte leise vor sich hin: »Im Stande wäre sie's, glaub' ich. Das hat ihr Vater von der Erziehung!«

      Als sie mit ihrem Schützling dann am Abend allein im Schlafzimmer war, zog sie Esther auf ihre Knie, was sie selten that und sprach mild und freundlich: »Mein liebes Mädchen, ich muß dir einmal etwas sagen. Du bist jetzt schon 13 Jahre alt, da wird es wirklich Zeit, daß du den Jungen ausziehst. Thust du es nicht selbst, so thun es dir andere Leute, und das ist ein schlimmes Ding. Dein Vater hat dich studiren und aufwachsen lassen, wie einen Knaben; aber du bist und bleibst trotz alledem doch ein Mädchen. Siehst du, ich bin nur eine einfache Frau; aber das, was sich schickt, besonders für ein junges Mädchen, das du nun bald sein wirst, weiß ich so gut als jede große Dame, da folge mir nur getrost. Bertel geht fort, er ist eben ein Knabe und muß sich für seine zukünftige Laufbahn vorbereiten; aber mit ihm gehen kannst du nicht, denn das schickt sich nicht. Wozu auch? Ein Mädchen hat einen anderen Lebenslauf vor sich, als ein Knabe. Er muß in die Welt, das Mädchen gehört in das Haus. Bis jetzt warst du ein Kind, da paßte sich alles; aber nun wird das anders, das hilft einmal nichts und mußt du dir gefallen lassen. Für junge Mädchen schickt sich vieles nicht, was sich für junge Männer schickt; so will es die Sitte, und ihr müssen wir uns Alle beugen. Ueber kurz oder lang mußten sich eure Wege doch scheiden, das ist so der Lauf der Welt und die Bestimmung des Menschen. Und nun sei verständig und mache Bertel das Herz nicht schwer mit Weinen und Klagen; denn dann wird ihm das Fortgehen noch viel saurer. Nicht wahr, Esther, daran willst du denken, ihm zu lieb?«

      Esther hatte schweigend zugehört, denn Tante Booland sprach selten so ernst und zusammenhängend mit ihr. Sie machte zuerst ein finsteres Gesicht, denn ihr Eigenwille bäumte sich arg in ihr empor; nach und nach aber wurde sie nachdenklich, und ein tiefes Roth zog sich ihr über Stirn und Nacken. Sie biß die Lippen fest auf einander, wie sie immer that, wenn sie von einem neuen Gedanken überrascht wurde, sagte aber kein Wort. Auf die letzte Frage von Tante Booland nickte sie rasch und ernst mit dem Kopfe; dann lehnte sie ihre Stirn eine lange Weile still an die Brust ihrer treuen Pflegerin, die ihr leise über das Haar strich. Endlich aber brach sie in einen Strom von Thränen aus und rief jammernd: »Ach Tante Booland, ohne Bertel kann ich ja aber nicht leben!«

      »Einmal mußt du es lernen, Kind, es geht nicht anders,« sagte Frau Booland sanft. »Der liebe Gott giebt uns so manches Schwere zu tragen, und du wirst noch manchesmal in deinem Leben sagen: >ich kann es nicht!< Und doch wirst du es lernen; denn der himmlische Vater legt uns keine größere Last auf die Schultern, als wir zu tragen im Stande sind. Dir hat Gott ein starkes Herz gegeben, deshalb wirst du dem armen Bertel die Trennung leicht machen, wozu wärst du sonst seine brave, kleine Esther?«

      Das kindliche Mädchen wischte sich entschlossen die Thränen aus den Augen und lächelte zuversichtlich. »Ich will ihm helfen, Tante!« sagte sie fest, und dann legte sie sich still und ergeben in ihr Bettchen. Lange noch bewegten sich ihre Lippen im Gebet und baten um Muth und Kraft für die schwere vor ihr liegende Zeit, dann aber schloß der Schlaf ihr die müden Augen.

      Am andern Tage war mit Esther sichtlich eine Veränderung vorgegangen. Sie war bleicher und ruhiger als sonst, und auf ihrem Gesicht lag ein nachdenklicher Zug. Als Hubert zum Unterricht kam, und Esther ihm im Garten entgegen lief, geschah es mit etwas zögernden Schritten, und ein brennendes Roth flog einen Augenblick über ihre Stirn. Dann aber rief sie in ihrer alten muntern Weise: »Ach Bertel, unsere schönen Pläne werden doch zu Wasser, mit dir ziehen kann ich nicht. Die andern Jungens würden doch merken, daß ich ein Mädchen bin, und dann bissen sie mich sicher zum Neste hinaus, wo ich mich einschleichen wollte, wie's neulich die Schwalben mit dem Spatz machten, weißt du wohl noch?«

      Hubert sah sehr bleich aus. Er nickte still mit dem Kopfe und sagte: »Ich wußte es gleich und wollte es dir nur nicht sagen, Esther. Aber ich glaube, ich komme bald wieder; denn so allein ohne dich und ohne euch alle, — ich kann es nicht ertragen!«

      Mit einem lauten Stöhnen warf er sich auf eine Bank nieder und weinte so ungestüm und leidenschaftlich, wie Esther es noch nie von ihm gesehen hatte. Erschrocken setzte sie sich zu ihm und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Dicke Thränen rollten auch über ihr Gesicht, und ihre Brust arbeitete heftig. Aber entschlossen richtete sie sich bald empor, preßte die Hände fest aufeinander und sagte leise: »Bertel, sei ruhig, einmal mußtest du ja fort, hier auf unserem Dorfe kannst du ja doch kein großer Gelehrter werden. Aber das sollst du, denn ich will stolz auf dich sein, und alle sollen es.« Und nun malte sie dem Knaben in heiterer Weise aus, wie schön es sein müsse, wenn er nun zu den Ferien nach Hause kommen und ihnen erzählen werde, wie er dort in der Stadt lebe, wie viel er jetzt lerne und studire, und welches seine Kameraden sein würden. Bertel hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und schluchzte leise.

      »Kameraden?« rief er jetzt heftig. »Sprich mir nicht von Kameraden! Bis jetzt habe ich noch keinen Jungen gefunden, der mir zugesagt hätte, und ich werde sicher auch keinen finden. Du bist mein liebster und einziger Kamerad, Esther, und du sollst es mir bleiben, das gelobe ich dir, wenn auch tausend andere um mich sein werden; dich ersetzt mir keiner!«

      Er ergriff Esthers Hand und blickte finster vor sich nieder, Esther aber saß strahlenden Auges neben ihm. Ihre Lippen zitterten, aber sie sprach nicht. Sie sah ihren blonden Bertel im Geiste unter der Schaar anderer Knaben, und wie viel schöner er sein würde, als alle anderen, und wie viel klüger. Und doch war und blieb er ihr Bertel, ihr Kamerad wie bisher. Nun wollte sie auch nicht mehr daran denken, wie allein, ach so trostlos allein sie sein würde!

      Esther hatte in Gedanken einen Zweig des Fliederbusches herabgezogen, unter dem sie saßen und dessen Büschel noch kahl und ohne Knospen standen.

      »Wenn die blühen, bist du wieder hier, Bertel,« rief sie plötzlich und schüttelte den Zweig. »Ostern ist in diesem Jahr so früh, gerade zu Pfingsten wird dann alles blühen, Flieder, Goldregen, Schneeballen, alles, alles. Und die ersten Veilchen schicke ich dir in die Stadt, Bertel, denn da kannst du gewiß keine pflücken. Von den Erdbeeren aber und den Stachel- und Himbeeren in unserem Garten soll kein Mensch

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