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hat. Die warme Luft in dem Raum tut ihr gut. Der Geruch macht ihn sogar gemütlich, obwohl die Einrichtung eher einem gefüllten Lager gleicht. Sarah überlegt, aus welchem Grund sie neben dem fettigen Geruch des Leders immer wieder einen leichten Cognacduft wahrnimmt. Er stört nicht, im Gegenteil, er verleiht dem Raum eine besondere Note. Ob der Mann sie hinter dem Vorhang hören wird, wenn sie ihn danach fragt?

      Der schwarze, hängende Stoff bewegt sich, eine Hand mit Tasse schiebt sich an seiner Seite vorbei und schließlich betritt der Mann den Raum. Er zögert kurz, als er Sarah sieht, und Sarah hat das Gefühl, dass er überrascht oder irritiert ist. Sie richtet aufmerksam den Oberkörper auf. »Kann ich helfen?«

      Der Mann kommt zum Tisch, stellt wortlos zwei Tassen ab, schiebt eine an der Kerze vorbei auf die Seite des Sofas, die andere auf die Seite des Sessels. Aus einer Tasche seiner Weste zieht er zwei Teelöffel, platziert sie sehr genau neben den Tassen. Dann richtet er sich auf, mustert Sarah wenige Sekunden und verharrt, als würde er auf etwas warten.

      Sarah schaut ihn fragend an. »Danke«, sagt sie schließlich aus ihrer Not heraus, auch wenn die Tassen noch leer sind und sie das Wasser hinter dem Vorhang gerade brodeln hört.

      »Danke?«, wiederholt der Mann. Mit einem forschenden Blick sticht er in Sarahs Gedanken. »Danke für was?« Dann weist er mit dem Zeigefinger auf Sarah. »Das da, Kindchen, ist mein Platz.« Er kneift die Augen zusammen. »Nicht deiner.« Unvermittelt wendet er sich ab und verschwindet wieder aus dem Raum.

      Sarah ist für einen Augenblick wie versteinert. Sein Platz? Sie erinnert sich, dass der Mann hier gesessen hat, als sie die Werkstatt betrat. Wie auf einem Thron, dachte sie. Tatsächlich. Sie hat sich auf seinem Thron niedergelassen. Woher aber konnte sie ahnen, dass er den Sessel für sich beansprucht? Sarah findet es zunächst unfreundlich, einem Gast seinen Platz streitig zu machen. Nie wäre ihr das in den Sinn gekommen. Erst recht nicht in einem so strengen und fordernden Tonfall. Und schließlich fühlt sie sich neben ihrer Eigenschaft als Gast noch immer als Kundin. Sie beabsichtigt, einen Gürtel zu kaufen. Vielleicht sollte sie doch einfach gehen? Kurz lacht sie empört auf, beißt sich aber schnell auf die Lippen. Dann fällt ihr Blick auf die Teetassen, die sich auf dem dunklen, glatten Holz des Tisches ein wenig spiegeln. Ganz so unfreundlich ist es jedenfalls nicht, einen heißen Tee anzubieten.

      Wieder betritt der Mann den Raum, stellt eine Zuckerdose auf den Tisch. Sieht kurz und eindringlich zu Sarah. Verschwindet wieder. Ohne Worte. Hinter dem Vorhang beendet das Wasser sein Brodeln.

      Sarah überlegt nicht lange. Der Blick des Mannes hatte sie getroffen. Nicht heftig, nicht schmerzend, aber in ihrer Seele. Genauso hätte er sagen können: »Steh sofort auf und mache meinen Platz frei. Steh sofort auf und begib dich auf den Platz, den ich dir zugewiesen habe.« Sie erhebt sich zügig, wechselt die Seite des Tisches. Bemüht sich, kein Geräusch dabei zu machen und mit der gefalteten Jacke nicht die Tassen und nicht die Zuckerdose zu touchieren. Dann lässt sie sich auf dem alten, roten Sofa nieder. Sinkt in ein Polster, dessen vergangene Jahre man nicht nur sehen, sondern auch fühlen kann. Setzt sich schräg, damit die Knie nicht nach vorn zeigen und die Tischkante berühren. Ihre Jacke legt sie schließlich über eine der Lehnen. Kaum hat sie sich positioniert, hört sie hinter sich Schritte.

      Der Mann stellt eine Kanne auf den Tisch, klein, rundbäuchig und mit blassem Blumenmuster. Ohne den Platzwechsel von Sarah zu kommentieren, lässt er sich in seinen Thron fallen und atmet aus, als hätte er Schwerstarbeit verrichtet. Er nimmt die kleine Brille von der Nase und reibt sie an seinem Hemdsärmel. »Oh«, sagt er und sieht zu Sarah herüber. »Wie unhöflich, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt.« Dann legt er beide Arme auf die Lehnen und sieht entspannt aus. »Mein Name ist Carl. Carl Conrad. Mir gehört diese Ledermanufaktur.« Mit dem Kopf nickt er seitwärts und meint damit den Raum um sich, der unschwer als solche zu erkennen ist. »Aber das hast du dir sicherlich schon denken können. Und wer bist du, Kindchen?«

      Sarah bemerkt einen Hauch Teegeruch. Schwarzer Tee. Nein, Rooibos, glaubt sie. »Sarah«, hört sie sich sagen, noch bevor sie sich Gedanken darüber gemacht hat, ob sie ihren Vornamen oder doch besser nur den Nachnamen nennen soll. Sie bemerkt, dass sie zum zweiten Mal handelt, ohne richtig darüber nachgedacht zu haben. Sie muss sich mehr konzentrieren, nimmt sie sich vor.

      »Zieh deine Schuhe aus, Sarah.«

      Sie sieht kurz nach unten auf die braunen Stiefeletten, dann wieder zu dem Mann. Fassungslos. Ihr steht der Mund offen. Die Schuhe ausziehen?

      »Sie sind nass. Vollgesogen mit Wasser. Du hast kalte Füße.« Ruhig liegen die Arme des Mannes auf den Lehnen, seine Hände sind leicht geöffnet. Keine Regung. »Wenn du also keine Erkältung haben möchtest zu Weihachten …« Der Mann legt den Kopf schräg, schaut eindringlich über den Tisch.

      Sarah fühlt ein »Wird es bald?«, obwohl der Mann weder in diesem Tonfall spricht noch in anderer Weise bedrohlich auf sie wirkt. Es ist einfach nur ein Gefühl. Sie beugt sich nach unten, ohne ihn aus den Augen zu lassen, tastet mit den Fingern nach den flachen Absätzen der Stiefeletten, zieht ein wenig an ihnen. Erst rechts, dann links. Während sie das tut, fliegen Blicke über den Tisch. Von ihr zu ihm, von ihm zu ihr. Sarah meint, ein kurzes Aufleuchten zu erkennen, vielleicht Genugtuung, aber es kann ebenso ein Flackern der Kerze auf dem Tisch gewesen sein. Sie schlüpft aus den nassen Schuhen.

      »Stell sie drüben auf die Werkbank, dort trocknen sie am besten. Aber nicht zu nah an den Heizkörper.«

      Sarah ist sprachlos. Sie hatte erwartet, dass er sich darum bemühen würde, sich erhebt, ihr die Schuhe abnimmt. Stattdessen sitzt er auf seinem Thron und bewegt sich nicht. Sarah findet, dass die Bezeichnung Thron durchaus seine Berechtigung hat. Dass sie viel besser passt als einfach nur »Ledersessel«. Sarah senkt den Blick, betrachtet ihre Socken, die an den Spitzen dunkel verfärbt sind. Tatsächlich nass. So soll sie durch die Werkstatt laufen? In Strümpfen? Sie schaut über den Boden hinweg zu der Werkbank. Das Parkett ist sauber, wenn auch ergraut und stumpf.

      »Im Regal daneben liegt Zeitung, stopfe die Schuhe damit aus, bevor du sie zum Trocknen stellst.« Der Mann beugt sich ein wenig vor, als wolle er ein Geheimnis verraten. »Dann geht es schneller, Sarah.«

      Sie nickt, erhebt sich, trägt die Stiefeletten hinüber zu der Werkbank. Sarah ist sicher, in ihrem Rücken ein Lächeln zu spüren. Amüsiert? Oder zufrieden? Sie weiß es nicht. Sie weiß nicht einmal, warum sie das überhaupt tut. Ein wenig wütend ist sie. Auf sich selbst. Dass sie sich von ihm belehren lässt, als wüsste sie nicht selbst, wie man Schuhe trocknet. Und dass er ihr so seelenruhig dabei zusieht. Das macht sie sauer.

      »Mit Zucker, Kindchen?«

      Sarah dreht sich kurz zu ihm. Zucker? Sie sieht, wie er die Kanne in der Hand hält und ihr einschenkt. Eine Hand hält den kleinen runden Deckel, damit er nicht stürzt. »Ich nehme mir schon selbst, danke«, sagt sie knurrig, während sie weiter Zeitungspapier knüllt und es in die Schuhe stopft. Bis hierhin durfte sie auch alles selbst machen, denkt sie, also braucht sie seine Hilfsbereitschaft für den Zucker nun auch nicht mehr.

      »Also ohne«, hört sie ihn in ihrem Rücken sagen. Als wäre er enttäuscht. Kurz hält sie mit einem Knäuel Zeitungspapier in der Hand inne. Überlegt, ob er sie nicht richtig verstanden hat. Als sie Schritte hört, sich umdreht und ihn mit der Zuckerdose und der leeren Kanne hinter dem Vorhang verschwinden sieht, weiß sie, dass es nicht so ist. Sie beschließt, es nicht zu hinterfragen.

      »Sie haben nicht viele Kunden, oder?«, ruft sie ihm hinterher, schiebt das letzte Knäuel Zeitung in einen Schuh, platziert das Paar auf der Werkbank und begibt sich mit großen Schritten zurück auf das Sofa. Sie greift nach der Tasse an ihrer Tischseite, macht es sich bequem, nimmt die Beine nach oben, schlürft einen ersten Schluck. Rooibos, genau so, wie der Tee von Anfang an gerochen hat. Sarah schließt kurz die Augen und stellt fest, dass sie sich jedenfalls nicht unwohl fühlt. Wann hat sie das je erlebt – eine Duftmischung aus Rooibostee, Cognac und Lederwerkstatt. Fantastisch, denkt sie.

      »Nein«, tönt die tiefe Stimme hinter dem Vorhang, »habe ich nicht. Viel zu wenige, wenn man es genau nimmt. Die Geschäfte laufen nicht gut. Heutzutage brauchen die Menschen keine Manufakturen mehr. Sie kaufen lieber

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