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das Material. Nachvollziehbare Eigenschaften, die man bewundern kann. Aber doch nicht den Geruch. Sarah musste sich eingestehen, dass diese Antwort aus dem Tiefsten ihrer Seele gerutscht war. Aufgewühlt kehrte sie durch die Toreinfahrt auf die Straße zurück, vereinigte sich mit den Mänteln und Regenschirmen und suchte das Weite.

       Lederwaren Manufaktur, Inhaber C. B. Conrad.

      Heute nähert sich Sarah ein viertes Mal diesem Blechschild. Sie weiß nicht, was mehr Reiz auf sie ausübt: Der Gedanke, dass Überwindung ihr eigenes Geschenk veredeln würde. Oder das seltsame Gefühl, dass in diesem halbdunklen Flur etwas auf sie wartet. Beides kämpft gegen das Unbehagen, sich wieder den seltsamen Fragen und Blicken dieses Mannes auszusetzen, dem sie gestern zwischen den vielen Gürteln begegnet war. Sarah wird sich bewusst, dass sie wohl noch stundenlang die Straße auf und ab gehen wird, solange sie nicht endlich die Toreinfahrt passiert. Dabei ist ihr jetzt schon kalt. Ihre Füße fühlen sich taub an, die Hände hat sie in den Taschen zu Fäusten geschlossen.

      Die letzten Meter bis zu dem Schild spürt sie, als würde sie gegen den Strom laufen. Sie vermutet, dass niemand Notiz von ihr nehmen wird, wenn sie die Straße verlässt und auf den Hinterhof zusteuert. Und doch fühlt es sich an, als könnten in genau diesem Moment alle Passanten auf der Stelle verharren und ihr nachsehen. Als wäre es etwas Verruchtes, den Buchstaben eines braunen Blechschildes zu folgen und eine Ledermanufaktur aufzusuchen.

      Die Glocke des alten Turms schlägt. Zehn Mal wird sie es tun. Ruhig, mit dunklem Ton.

      Sarah hält die Luft an und biegt ab.

      Sie durchquert die Toreinfahrt, lässt Mülltonnen und Fahrrad hinter sich. Dann bleibt sie vor der Holztür stehen. Nichts ist passiert. Sie lauscht kurz, aber niemand folgt ihr. Warum auch. Es ist ein dunkler und nasser Vormittag im Dezember, an dem diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Mehr nicht.

      Kapitel Zwei

      Sarah zieht frierend die Holztür hinter sich zu und gibt sich keine Mühe, das Quietschen und Knarren zu vermeiden. Sie will gehört werden.

      »Hallo?« Sie ruft halblaut in den Flur hinein. Nichts hat sich verändert. An beiden Seiten des Raumes hängen Gürtel und Riemen in einem halbdunklen Licht. Einen Moment fühlt sie sich wieder vom Geruch nach Leder und Cognac überwältigt, aber sie konzentriert sich. Sie will diesem Mann keine Chance geben, sie wie ein Kindchen zu behandeln. So wie am Vortag. Dieses Mal will sie souverän wirken.

      »Komm näher«, tönt die dunkle Stimme von der anderen Seite des Flures. »Komm nur!«

      Langsam durchquert Sarah den Flur, der ihr mit jedem Schritt länger erscheint. Er wirkt wie ein Tunnel in eine andere Welt. Als ließe sie gerade die Kälte, die Anonymität und alles, was bis eben um sie war, weit hinter sich. Ihre Schritte klingen leise auf dem alten Parkett, die behangenen Wände des Flures dämpfen jedes Geräusch. Sarah fühlt sich einen Moment eingeengt.

      »Wo bleibst du, Kindchen?«

      Als Sarah die andere Seite des Flures erreicht, öffnet sich vor ihr ein Raum in der Größe zweier Wohnzimmer. An den Wänden stapeln sich offene Regalfächer bis unter die Decke und in ihnen schwarze Rollen, Päckchen und Kisten. An einer Seite entdeckt Sarah eine Werkbank, die einem alten Holztisch ähnelt, die Arbeitsplatte mit Kimmen überzogen, stehend auf viel zu kräftigen Füßen. Ein kleiner Schraubstock klammert sich an seiner Seite fest, andere Geräte liegen verstreut auf ihm. Maßbänder und Lineale hängen in Griffweite an der Wand. Und es riecht nach Leder.

      »Ich dachte schon, du kommst nicht, Kindchen. Setze dich zu mir!«

      In der Mitte des Raumes steht ein kleines, schäbiges Sofa, über dessen rote Lehne zur Hälfte eine Decke gehängt ist. Auf der Sitzfläche sind zwei schwarze Kissen mit Fransen drapiert. Ein niedriger Holztisch vor dem Sofa trägt eine schmale Kerze, der nur eine handbreit Zeit bis zum Erlöschen bleiben wird.

      »Komm!«

      Sarah entdeckt den Mann mit dem weißen Haar in einem Sessel, der auf der anderen Seite des Tisches steht. Groß und wuchtig gepolstert, mit schwarzem Leder bezogen, weder zum Sofa noch zum Tisch passend. Mit einer Lehne, die bis über den Kopf reicht und an deren Seiten das Leder mit einer endlosen Reihe Nieten befestigt ist. Wie ein Thron, denkt Sarah.

      »Guten Tag«, sagt sie. »Ich möchte keine Umstände machen. Ich bin nur wegen des Gürtels hier.« Sarah weiß, dass das nicht stimmt. Wenn dem so wäre, hätte sie nicht vier Anläufe benötigt, bis sie in den Hinterhof abbiegen konnte. Irgendetwas anderes hat sie hierher gezogen.

      »Natürlich«, sagt der Mann. »Selbstverständlich.«

      Sarah erinnert sich, dass er das auch gestern gesagt hat. Als sie den Laden schnell wieder verlassen wollte. Er hatte sie nicht daran gehindert.

      Der Mann erhebt sich aus seinem Sessel, stützt sich mit den Armen auf den Lehnen ab. Ein wenig schwerfällig sieht es aus, denkt Sarah. Vielleicht ist er doch viel älter als angenommen? Er zieht sich seine schwarze, seidig glänzende Weste glatt, die er über einem weißen Hemd mit hohem Kragen trägt.

      »Du frierst, oder?« Der Mann tritt auf Sarah zu und legt seine rechte Hand an ihren Arm. Sieht an ihr herab. »Und deine Schuhe, um Himmels willen, das Leder ist ganz durchnässt.« Die Vibrationen der tiefen Stimme spürt Sarah sogar über die Hand des Mannes an ihrem Arm.

      Sarah bemerkt, dass sie instinktiv einen Schritt zurücktreten will, als der Mann ihr so nahe kommt, aber stattdessen steht sie wie angewurzelt. Sie ist nicht in der Lage, wieder Distanz herzustellen. »Geht schon«, quetscht sie heraus und lächelt verlegen, aber überzeugend klingt es nicht.

      »Nein, das geht nicht.« Der Mann spricht langsam und erzeugt die Eindringlichkeit seiner Worte so ganz nebenbei, dass es Sarah schauert. »Weißt du, ich mache uns schnell einen heißen Tee. So viel Zeit hast du.«

      »Das ist nett von Ihnen, aber …« Sarah stockt. Es gibt kein Aber. Jedenfalls kein ehrliches. Sie friert tatsächlich, sie hat noch genug Zeit, und wenn sie ehrlich ist, wäre sie über ein heißes Getränk nicht undankbar. Ganz abgesehen davon wollte sie den Laden noch gar nicht verlassen.

      »Siehst du«, sagt der Mann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Kein Aber. Zieh deine Jacke aus und setze dich.« Er nimmt seine Hand von ihrem Arm, lächelt und schiebt sich an ihr vorbei. »Einen kleinen Moment wird es wohl dauern, bis das Wasser kocht.«

      Sarah sieht dem Mann hinterher, bis er durch einen kleinen, schwarzen Vorhang zwischen den Regalen aus dem Raum verschwindet. Seine Schritte sind noch kurz zu hören, dann wird es still. Keine tickende Uhr, keine Straßengeräusche, nichts. Fast wie in einem schalldichten Raum, denkt Sarah.

      »Na gut«, sagt sie leise und eher zu sich selbst. Sie fühlt sich zwar ein wenig dirigiert, aber sie tröstet sich damit, dass sie jederzeit den Laden verlassen kann. Sie kennt den Weg durch den langen Flur bis zur Holztür. Er ist nicht versperrt. Bedrohlich wirkt nichts in diesem Raum. Sie hat keine Angst. Und sie will doch gar nicht gehen.

      Sarah knöpft ihre Jacke auf, streift sie von den Schultern, faltet sie einmal und legt sie sich über den Arm. Sie sinkt in den großen Thronsessel, da sie aus ihm heraus den Vorhang im Blick behalten kann, durch den der Mann verschwunden ist. Auf dem Sofa hätte sie den verhängten Eingang zwischen den Regalen im Rücken gehabt. Sie betrachtet die Lampe, die über dem Holztisch mit der Kerze hängt. Altertümlich geschwungen, der Schirm aus längst nicht mehr weißem Milchglas. Keine dieser modernen Beleuchtungen, sondern tatsächlich noch ein brennender Glühwendel.

      Hinter dem Vorhang klappert es metallisch, Wasser fließt. Sarah horcht auf. Schritte des Mannes sind zu hören, ein wenig schlurfend. Tatsächlich, er setzt Wasser

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