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Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung. Friedrich von Hellwald
Читать онлайн.Название Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung
Год выпуска 0
isbn 4064066112547
Автор произведения Friedrich von Hellwald
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Daran ändert der Umstand nichts, dass der Kuss vielfach zum leeren Gebrauch herabgesunken, rein zeremoniell geworden ist. An altisraelitischen Kultstätten, an welchen Götterbilder sich befanden, begegnet uns schon als Gebärde huldigender Anbetung auch der Kuss,[167] ohne dass wir jedoch erfahren, ob wirklicher Kuss oder Kusszuwerfung oder beides sich fand,[168] wie es bei den alten Hellenen weit verbreitet war. An dem schwarzen Stein der Kaaba zu Mekka wird es heute noch geübt, und im Christentume hat sich das Küssen des Kruzifixes sowie der Heiligenbilder erhalten. Seinen europäischen Verehrern ist ferner der Kuss ein uraltes Zeichen, nicht bloss der Liebe, sondern auch der Versöhnung, des Friedens und der Freundschaft. Im Märchen bewirkt er einerseits Vergessenheit und ruft andererseits Vergessenes ins Gedächtnis zurück; ein Kuss löst den Bann der zum Drachen, zur Schlange oder Kröte verzauberten Jungfrau. Der altchristliche Friedenskuss lebt noch fort in dem Osterkuss der griechischen Kirche. Bei Übernahme des Lehens küsste im deutschen Mittelalter der Vasall den Lehensherrn. Der Kuss kam ferner in Anwendung nach Abschluss eines Vertrages, zur Besiegelung eines Versprechens, daher noch heute unsere Redensart „mit Kuss und Hand“. Im feineren (höfischen, hoflichen, d. h. ursprünglich hofartigen) Verkehr des Mittelalters wird von dem berühmten steirischen Ritter und Sänger Ulrich von Lichtenstein (gest. 1275 oder 1276) unterschieden zwischen dem Kuss der Minne, der Freundschaft und der Sühne. Der Sühnekuss hat als Pfand und Siegel aufgehobener Feindschaft und wiederkehrender Zuneigung ernstere Bedeutung. Der Judaskuss ist der Kuss des Verräters. Dem Herzenskuss steht der Kuss der höfischen Sitte gegenüber. Der Ankommende küsst die Herrin, wenn er ihr an Rang wenigstens gleichsteht. Meist ersuchte die Frau den Vorgestellten um den Kuss oder bat der Geringere den Vornehmeren, seiner Gattin oder Tochter den Willkommenkuss zu bieten. Auch beim Abschied küsste man sich, und zwar auf Mund, Wangen oder Augen; die erstere Form bildet immer eine Auszeichnung. Bei den Franzosen kam dazu noch der Kuss auf Nase, Kinn und Hals. In dem Heldengedicht Titurel werden sogar dem Sieger im Turnier die Küsse von achtzig Jungfrauen in Aussicht gestellt. Der Kuss der Geliebten aber, schon gewährt oder erst ersehnt, begeistert heute noch die Dichter zu Dithyramben voll himmlischer Verzückung, und selbst ein so leichtfertiger Schriftsteller wie Adolphe Belot hat sich veranlasst gefunden, in die Physiologie und Philosophie des Kusses sich zu vertiefen,[169] worin ihm sein Landsmann H. de Molière längst vorangegangen war.[170] Dass trotz des Scheffelschen Katers Hiddigeigei tiefsinniger Frage:
Warum küssen sich die Menschen?
’s ist nicht Hass, sie beissen sich nicht,
Hunger nicht, sie fressen sich nicht,
’s kann auch kein zweckloser, blinder
Unverstand sein, denn sie sind sonst
Klug und selbstbewusst im Handeln;
Warum also, frag’ umsonst ich,
Warum küssen sich die Menschen?[171]
Dass Küssen den Kulturmenschen als ein Genuss gilt, bezeugen unter anderen die strengen Sonntagsgesetze, wie sie vor zweihundert Jahren in manchen Teilen der Vereinigten Staaten bestanden. Für den Sonntag war nicht nur Spazierengehen, das Kochen, Bartscheren u. dgl. verboten, sondern auch den Müttern untersagt, ihre Kinder zu küssen. Der Geschichtsschreiber Mac Cabe erzählt, dass diesem Kussverbote im Jahre 1654 bei einem Prozesse in Connecticut die weiteste Ausdehnung gegeben wurde, indem ein Liebespaar — Sarah Tuttle und Giacobbe Newton — wegen Übertretung desselben mit hoher Geldstrafe belegt ward.
Es spricht nun, glaube ich, für meine im ersten Kapitel entwickelte Vermutung, wonach die Geschlechtsfreuden des Urmenschen geringer bemessen gewesen seien, dass selbst heute noch, der poetischen Auffassung Steeles zum Trotz, das Küssen durchaus nicht allerorten Brauch ist, namentlich das Küssen auf den Mund. Der Kabyle küsst ins Gesicht, oft auch auf den Mund, während der Araber, nach Heinrich von Maltzan, meist nur die Schulter küsst.[172] Das Küssen ist natürlich von vorne herein ausgeschlossen bei allen Völkern, welche die Lippen aufschlitzen und kleine Hölzer einsetzen, wie es die Stämme an der Küste des Beringsmeeres und ihre Nachbarn, die Koljuschen, ferner die Botokuden in Brasilien und die mittel- und südafrikanischen Schwarzen thun, deren Frauen das „Pelele“ tragen.[173] Aber auch wo solche materielle Hindernisse fehlen, verschmäht man den Kuss in Afrika wie in Amerika und Ozeanien. Der Weltreisende Dr. Otto Kuntze, welcher manchen tieferen Einblick in die Lebensgeheimnisse der verschiedensten Völker nahm und darüber mit anerkennenswerter Offenheit berichtet, weiss vom Küssen gar nichts zu erzählen; ja, ich glaube, das Wort kommt in seinem umfangreichen Werke gar nicht vor. Winwood Reade erregte das Entsetzen eines Negermädchens, als er sie küsste, denn in ganz Westafrika sind solche Liebkosungen völlig ungebräuchlich, was neuerdings auch wieder Hugo Zöller bestätigte.[174] Desgleichen in Ostafrika, bei den Somal. Von den Kariben Guyanas bemerkt Karl Ferdinand Appun, vom Küssen sei bei ihnen gar nicht die Rede und diese angenehme Beschäftigung ihnen völlig unbekannt.[175] Weder Feuerländer noch Eskimo kennen diesen Ausdruck der Zärtlichkeit und sogar im europäischen Lappland stiess Bayard Taylor bei den Frauen auf eine entschiedene Abneigung gegen jede derartige Berührung. Kusslos sind auch nach Darwins Ermittlungen die Südseevölker, wie die Maori Neuseelands, die polynesischen Tahitier, die Papua und endlich die Australier.[176] Die Nervenempfindsamkeit aller dieser Völker ist eben noch nicht genügend entwickelt, um den Kuss als einen Sinnengenuss zu erkennen. Während mit fortschreitender Gesittung und Nervenverfeinerung das Lustgefühl bei uns sich ungemein ausgebildet hat, schärfte aber das Leben des Urmenschen, wie heute noch das der Wilden, die übrigen Sinne: Gesicht, Gehör und Geruch, daher bei ihnen das Riechorgan vielfach die Stelle des Mundes vertritt. Dafür zeugt der noch bei einzelnen Rassen und Völkerfamilien verbreitete „Nasengruss“,[177] wobei der Geruchssinn, nicht die Berührung, die Hauptrolle spielt, indem der Freund vom Freunde einen Teil von dessen individueller Ausdünstung durch den Nasengruss in sich aufzunehmen sucht. Die Hügelstämme von Tschittagong sagen nicht: „küsse mich“, sondern „rieche mich“. Die Maori Neuseelands reiben sich die Nasen zum Zeichen der Liebe und Freundschaft, oder, wie man in Neuseeland sagt: „Die Maori schnäbeln sich.“[178] Auch die ungleich höher stehenden Malgaschen gebrauchen statt des Kusses ein Drücken oder Reiben der Nasen: manóraka. Jetzt fangen sie wohl an, sich an den ihnen bisher unbekannt gewesenen Lippenkuss zu gewöhnen, doch kommt ein solcher heute noch sowohl zwischen alten als auch jungen Malgaschen nur höchst selten einmal vor.[179]
Selbst ein Kulturvolk vom Range der Chinesen kennt den Kuss nicht, und Gustav Kreitner, welcher das Innere des Himmlischen Reiches mit scharf beobachtendem Auge