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sucht in dem außergewöhnlich liebreizenden Gesicht – so ehrlich ist er, es sich zuzugeben – nach einer Ähnlichkeit mit seiner Schwester und kann sie nicht finden. Sicher ähnelt sie ihrem Vater.

      Was für einen Charakter hat sie? Wird er mit ihr auskommen? Fragen über Fragen stürmen auf ihn ein. Er ist wie erlöst, aus seinen dumpfen Grübeleien durch seinen Oberarzt herausgerissen zu werden.

      In seiner lautlosen Art nähert er sich seinem Chef.

      »Kein Alkohol im Blut«, berichtet er sachlich. »Ich habe mir die Anschrift des Rechtsanwalts aufgeschrieben. Hier ist sie.«

      Inzwischen ist es sechs Uhr morgens geworden. Martens fühlt sie erschöpft. Aber auch sein Oberarzt sieht abgespannt aus. Eigentlich kann er stolz auf seine Mitarbeiter sein. Obwohl er keinem etwas schenkt, sind sie alle sehr anhänglich.

      Wenn er auch nicht darüber spricht: Er weiß genau, was er an seinem gutgeschulten Stab von Ärzten und Schwestern hat. Er möchte keinen missen.

      »Soll ich Sie ablösen, Herr Professor?« fragt der Oberarzt. Martens lehnt entschieden ab.

      »Legen Sie sich lieber ein paar Stunden hin. Ich warte nur das Erwachen der Patientin ab.«

      Er sagt nicht »meiner Nichte«. Er kann sich nicht von einer Stunde zur anderen daran gewöhnen, Onkel zu sein.

      Wenn es nach ihm ginge, würde keiner erfahren, wer Amelie Baxter ist. Aber es wird schnell durchsickern. In einem so großen Haus spricht sich so etwas schnell herum.

      Er ahnt nicht, daß Dr. Lenz bereits von dem Rechtsanwalt Stewing unterrichtet worden ist.

      *

      Er muß wohl eingeschlafen sein. Schwester Karla geht auf Zehenspitzen durch den Raum, zieht die Vorhänge beiseite und läßt strahlendes Sonnenlicht herein, vor dem Martens die Augen schließen muß. Sie schaltet die Nachtbeleuchtung aus und verschwindet wieder.

      Martens blickt auf die Uhr. Jetzt muß Amelie jeden Augenblick erwachen. Gespannt beugt er sich zu ihr hinunter. Die Lider flattern etwas, und dann öffnen sich die Augen. Augen von so intensivem, leuchtendem Blau, daß Martens fasziniert ist.

      »Wo – wo bin ich?« flüstert sie.

      »Im Annen-Krankenhaus«, gibt er ihr Antwort.

      »Ach«, seufzt sie, und die Lider mit den dichten dunklen Wimpern legen sich wieder über die Augen. Minuten vergehen, die Martens mit Spannung durchlebt.

      Amelie ist, als würde sie von unsichtbaren Händen aus abgrundtiefer Finsternis ins Helle getragen. Wie kommt sie in das Bett? Und warum ist ihr so sterbensübel?

      Sie versucht sich zu erinnern, vermag es nicht und kämpft gegen ihre Hilflosigkeit an.

      »Was ist geschehen?« fragt sie stockend, und jedes Wort, das über ihre Lippen kommt, bereitet ihr Schmerzen.

      »Du bist vor einen Wagen gelaufen – ich habe dich operiert.« Ganz tief muß Martens sich zu ihrem Ohr neigen, damit sie ihn auch versteht.

      »Wagen gelaufen – operiert?« wiederholt sie. Eine steile Falte steht auf ihrer schöngeformten Stirn.

      Er legt seine Hand leicht auf die ihre, die unruhig auf der Decke umherirrt.

      »Du darfst jetzt nicht so viel nachdenken, Amelie.« Er wundert sich selbst über die Weichheit seiner Stimme. Aber sie ist in diesem Augenblick nichts als seine Patientin, der er Trost zusprechen muß.

      »Du –?« Amelie reißt die Augen weit auf und begegnet kühlforschenden grauen Augen.

      »Onkel Matthias«, stellt sie fest, und sie umklammert wie hilfesuchend seine Hand. »Das ist gut, sehr gut.«

      Rührung will ihn überkommen. Er verbannt das Gefühl tief in sich. Er will nicht weich werden. Er wehrt sich mit aller Kraft gegen den Zauber, der von ihr ausgeht.

      Sekundenlang später schläft sie, tief und regelmäßig atmend.

      Seine Hand läßt sie nicht los, selbst im Schlaf hält sie sich daran fest, als brauche sie einen Halt.

      Er möchte sich aus dem Griff der schmalen Mädchenhand lösen und vermag es nicht. Schlaf ist das beste, was er ihr wünschen kann.

      So verharrt er reglos in dieser unbequemen Stellung. Schon manche Nacht hat er am Lager Schwerkranker gesessen, doch niemals mit so widerstreitenden Gefühlen. Sein Mitleid gilt dem Menschen, an dem er alle ärztliche Kunst versucht hat, um sein Leben zu retten; seine Abneigung gilt der Frau, die seine Nichte ist und die in sein Privatleben eindringen will.

      *

      Aus Schwester Karlas Händen nimmt Dr. Lenz eine Tasse starken Kaffee entgegen.

      »War ein arbeitsreicher Tag und eine aufregende Nacht«, beginnt er ein Gespräch, dabei nimmt er Schluck um Schluck von dem belebenden Trank. »Ach, das tut gut«, stöhnt er vor Behagen. »Keiner versteht so guten Kaffee zu kochen wie Sie.«

      Die Schwester neigt sich tiefer über den Tisch. Sie ist bis unter die Stirn rot geworden. Jedes Lob aus seinem Mund bringt sie in Verlegenheit. Sie hat ihn sehr gern, den ernsten Arzt mit dem blonden Haar und den tiefblauen Augen.

      »Trinken Sie nicht mit?« fragt er erstaunt. Sie schüttelt abwehrend den Kopf.

      »Zuerst muß ich dem Professor eine Tasse bringen«, erklärt sie mit abgewandtem Gesicht. »Ich – ich habe viel gutzumachen an ihm und seiner Nichte.«

      »Tun Sie das, Schwester Karla«, ermutigt er sie und schaut interessiert zu, wie sie Kaffee in die Tasse schenkt, Zucker und Sahne dazugibt, so wie der Professor es liebt, und sich dann zur Tür wendet. »Ich bin gleich wieder zurück.«

      Professor Martens’ Nichte, sinnt Dr. Lenz. So ein Glück im Unglück, ausgerechnet von Martens operiert worden zu sein. Er hätte keinen Pfifferling mehr um ihr Leben gegeben. Nun scheint alles gut zu sein.

      Er wartet Schwester Karlas Rückkehr ab. »Was macht die Kranke?« überfällt er sie förmlich.

      »Anscheinend alles in Ordnung«, gibt sie mit tiefem Aufatmen zurück. Sie ist durchsichtig blaß, blasser als gewöhnlich.

      »Sie dürfen sich die Sache mit dem Telegramm nicht so zu Herzen nehmen.« Er sucht ihren Blick, doch sie weicht ihm beharrlich aus.

      »Das sagen Sie so«, erwidert sie schuldbewußt. »Hätte ich das Telegramm nicht vergessen, wäre jemand zum Flugplatz gefahren und hätte die Nichte des Professors abgeholt. Ewig werde ich mir Vorwürfe machen.«

      Er hebt leicht die Schultern. »Eines Tages werden Sie darüber hinweggekommen sein. Es geschehen so viele unverständliche Dinge im Leben, die wir einfach mit Zufall bezeichnen. Es kann auch Bestimmung gewesen sein. Was weiß ich.«

      Sie schlägt die brennenden Augen voll zu ihm auf. »Sie meinen es gut mit mir. Augenblicklich ist das aber kein Trost für mich. Dieses junge Mädchen muß durch ein Meer von Schmerzen gehen, und ich habe die Schuld.«

      »Unsinn, Schwester Karla.« Er erhebt sich aus seiner lässigen Lage und kommt auf sie zu. Er hebt ihr Kinn an und blickt ihr in die tränenverdunkelten Augen. »Kopf hoch, Schwester Karla.« Seine Stimme klingt weich und zärtlich, und ihr klopft das Herz bis zum Halse, als wolle es ihr die Brust sprengen. Sie fühlt, es ist nicht nur eine kollegiale Geste. Es liegt mehr, viel mehr darin. Und das macht sie noch verwirrter, als sie schon ist.

      Er gibt sie ebenso rasch frei, wie er ihr Kinn zärtlich umfaßt hat. »Warum wollen Sie päpstlicher als der Papst sein? Wenn der Professor es hingenommen hat, warum wollen Sie sich länger quälen?«

      Er blickt auf die Uhr. »Ich bin verteufelt müde, Schwester Karla. In zwei Stunden beginnt mein Dienst wieder. Ruhen Sie sich auch aus. Sie werden sehen, wenn Sie ausgeruht sind, sieht alles ganz anders aus. Guten Morgen!«

      »Guten Morgen, Herr Oberarzt«, flüstert sie und sieht seiner aufrechten Gestalt im weißen Kittel versonnen nach.

      *

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