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mein Herr.«

      »Ich kannte aber nur einen Wagner in No. 111.«

      »Ich glaube dieser ist es.«

      Justin vollendete nicht; ungefähr ein Jahr vorher war die Wagnerwerkstätte plötzlich geschlossen und sodann, von einem Schlosser bewohnt, wieder geöffnet worden. Justin wollte nichts sagen, was das Mädchen beunruhigen konnte, ehe er selbst sicher wäre, daß seine Besorgnis begründet.

      »Ah! ja, ja,« sprach das Mädchen, »ich sage sogar nicht einmal mehr, ich glaube, daß dieser es ist: ich weiß es gewiß.«

      »Wie, Du weißt es gewiß mein Kind?«

      »Ja . . . ich habe mehrere Male die Adresse gelesen, man hatte mich ermahnt, sie auswendig zu lernen für den Fall, daß ich den Brief verlieren würde.«

      Und Du erinnerst Dich des Namens, der auf der Adresse stand?«

      »Gewiß . . . Es war: ›An Herrn Durier . . . ‹

      Die zwei Freunde schauten sich an, doch ohne zu antworten.

      Da es sich einbildete, ihr Stillschweigen rühre von dem geringen Vertrauen her, das e seinen Worten schenkten, so fügte das Kind mit einer Bewegung des Stolzes bei:

      »Oh! ich kann schon lange lesen.«

      »Ich bezweifle es nicht,« erwiderte ernst der alte Professor.

      »Und was gedachtest Du bei dem Bruder Deiner Amme zu thun?«

      »Ich gedachte zu arbeiten.«

      »Was?«

      »Was man will . . . ich kann vielerlei.«

      »Unter Anderem?«

      »Ich kann nähen, bügeln, Hauben ausputzen, sticken Spitzen machen.«

      Je mehr die zwei Freunde die Kleine zum Sprechen veranlaßten, desto mehr neue Eigenschaften entdeckten sie an ihr, und desto mehr Zuneigung faßten sie für sie.

      Sie wußten bald ihre ganze kleine Geschichte; sie war in ein gewisses Geheimnis gehüllt.

      In einer Nacht hielt ein Wagen beider Bouille an; das war im Jahre 1812; es stieg ein Mann aus der in seinen Armen eine Last trug, deren Form sich unmöglich unterscheiden ließ.

      Vor der Thüre eines einsamen, am Ende des Dorfes liegenden Häuschens angelangt, zog er einen Schlüssel aus seiner Tasche, öffnete die Thüre, ging in der Finsternis hinein, und legte die Last auf das Bett, eine Börse und einen Brief auf den Tisch.

      Dann schloß er die Thüre wieder, stieg in seinen Wagen und fuhr weiter.

      Eine Stunde nachher blieb eine gute Frau, welche vom Markte von Rouen kam, vor demselben Hause stehen, zog ebenfalls einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Thüre und hörte zu ihrem großen Erstaunen. als sie die Thüre kaum geöffnet, das Schreien eines Kindes.

      Sie zündete eiligst die Lampe an und sah etwas Weißes, das sich beständig schreiend auf ihrem Bette zerarbeitete.

      Dieses weiße Etwas, das auf ihrem Bette schrie und sich zerarbeitete, war ein einjähriges kleines, Mädchen.

      Da schaute die gute Frau, immer mehr erstaunt umher und erblickte auf dem Tische den Brief und die Börse.

      Sie öffnete den Brief und las mit großer Mühe – denn sie las nicht sehr geläufig, – folgende Zeilen.

      »Frau Boivin, man weiß, daß Ihr ein gutes und redliches Weib seid. und dies bestimmt einen Vater, der Frankreich zu verlassen im Begriffe ist, Euch sein Kind anzuvertrauen.

      »Ihr findet zwölfhundert Franken in der auf Eurem Tische liegenden Böse; das ist das Kostgeld für das erste Jahr, welches Euch vorausbezahlt wird.

      »Vom 28. October des nächsten Jahres, dem Jahrestage von heute, erhaltet Ihr durch die Vermittlung des Pfarrers der Bouille hundert Franken monatlich.

      »Gebt dem Kinde die beste Erziehung, die Ihr ihm geben könnt, und besonders die einer guten Hausfrau. Gott weiß, welche Prüfungen er ihr vorbehält.

      »Ihr Taufname ist Mina; sie soll keinen andern führen, bis ich ihr den gegeben hab, welcher ihr gehört.

»28. October 1812.«

      Frau Boivin las den Brief dreimal, um ihn recht zu verstehen; als sie ihn ganz begriffen hatte, schob sie ihn in die Tasche, nahm das Kind in ihre Arme, die Börse in ihre Hand, und lief zum Pfarrer, um ihn über das, was sie thun sollte, um Rath zu fragen.

      Die Antwort des Pfarrers war nicht zweifelhaft: er gab der Mutter Boivin den Rath, das Kind, das ihr Gott vertraute, anzunehmen und mit der größtmöglichen Sorgfalt aufzuziehen.

      Die Mutter Boivin ging also wieder mit der Börse, dem Kinde und dem Briefe nach Hause.

      Das Kind wurde in die Wiege des zwei Jahre vorher gestorbenen Sohnes der Mutter Boivin gelegt; der Brief wurde in ein Portefeuille eingeschlossen, in welchem die brave Frau die Dienstetats ihres Mannes aufbewahrte, der, Sergent bei der alten Garbe, in diesem Augenblick den Rückzug aus Rußland zu machen beschäftigt war; die zwölfhundert Franken aber wurden in ein Versteck gelegt, dem die Mutter Boivin ihre Ersparnisse anvertraute.

      Man hatte nichts mehr vom Sergenten Boivin gehört.

      War er todt? war er Gefangener? Nie hatte die wackere Frau Nachricht von ihrem Manne erhalten.

      Sieben Jahre lang war das Kostgeld des Kindes pünktlich bezahlt worden; seit drittehalb Jahren aber waren die Anweisungen zu ihrer Verfallzeit ganz ausgeblieben, was die gute Frau nicht abhielt, dieselbe Sorge für Mina zu tragen, die sie als ihre eigene Tochter betrachtete.

      Vor acht Tagen war sie gestorben, sie hatte dem Pfarrer die Sorge für das Kind hinterlassen, es sollte zu einem Bruder, einem Wagner in Paris, geschickt werden, den sie lange nicht mehr gesehen, dessen Redlichkeit sie aber versicherte.

      Dieser Bruder hieß Durier und wohnte im Erdgeschoße des Hauses Nr. 111. Faubourg Saint-Jacques in Paris.

      Das war es, was das Mädchen erzählt hatte, und was die Freunde wußten, als sie in die Stube von Justin kamen.

      Kehrte Justin spät nach Hause zurück, so fand er seine Schwester immer wachend und ihn erwartend.

      Diesmal, wie immer, erwartete Céleste so hieß sie, ihren Bruder.

      Sie öffnete die Thüre beim Geräusche der Tritte und hörte sich rufen.«

      Sogleich ging sie hinab, und das Erste was sie sah, war die kleine Mina, die ihr Bruder ihr vorstellte.

      Erstaunt über die Schönheit der Kleinen, küßte sie diese, ohne nur zu fragen. woher sie komme.

      Dann hob sie das Mädchen von der Erde auf, nahm es in ihre Arme und trug es in aller Eile in das Zimmer ihrer Mutter.

      »Die Mutter konnte das Kind nicht sehen; doch sie hatte, wie alle Blinde, Augen an den Fingerspitzen; sie berührte die Waise und überzeugte sich, daß sie schön war.

      Man erzählte der Mutter die ganze Geschichte; Céleste hatte große Lust, diese Geschichte zu hören, doch man zeigte ihr das Kind, das vor Schlaf umfiel; Céleste mußte ihm also so rasch als möglich ein Bett in ihrem Zimmer aufschlagen.

      Das war etwas Leichtes.

      Man ging ins Erdgeschoß hinab, nahm dort die große Tafel, welche zu arithmetischen Erläuterungen diente, setzte sie auf vier Schemel, breitete eine Matratze aus, und Madame Corby nahm die Stirne des Kindes und legte ihre Hände darauf als einen dreifachen Segen der Mutter, der Blinden und der Hauswirthin, ein Segen, der der Kleinen Glück bringen sollte.

      Diese legte sich zu Bette und versank, als sie sich kaum ausgestreckt hatte, in einen tiefen Schlaf.

      Am andem Morgen, ehe seine Kinder in ihre Classe kamen, begab sich Justin zu einem der Nachbarn des ehemaligen Wagners, einem ihm bekannten wackern Köhler Namens Toussaint und fragte ihn, ob er ihm Auskunft über den Wagner geben könnte, der im Erdgeschoße des Hauses 111 vor dem Schlosser gewohnt habe, der jetzt dort wohne.

      Justin traf es sehr gut.

      Toussaint

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