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erhob sich, schloß eine kleine eiserne Truhe in der Ecke des Zimmers auf und kehrte an den Tisch zurück mit einigen zusammen gebrochenen Bogen Papier, welche er vor Miss Garths Augen aus einander brach. Als sie die ersten Worte gelesen: »Im Namen Gottes, Amen!« wandte er den Bogen um und zeigte auf das Ende der nächsten Seite. Sie sah die wohlbekannte Unterschrift: »Andreas Vanstone.« Sie sah die gewöhnlichen Atteste zweier Zeugen und das Datum der Urkunde, der einer mehr als fünf Jahre zurückliegenden Zeit angehörte. Nachdem der Advocat ihr so die Ueberzeugung von der Formrichtigkeit des letzten Willens beigebracht hatte, kam er ihr zuvor, ehe sie ihn fragen konnte, und redete sie mit folgenden Worten an:

      – Ich darf Sie nicht täuschen, sagte er. Ich habe meine eigenen Gründe, um diese Urkunde vorzubringen.

      – Was für Gründe, mein Herr?

      – Sie sollen sie hören. Wenn Sie dann die Wahrheit kennen, so dürften diese Seiten dazu beitragen, Ihre Achtung vor dem Andenken Mr. Vanstones zu erhalten…

      Miss Garth fuhr aus ihrem Stuhl zurück.

      – Was meinen Sie damit? fragte sie mit ernster Hast.

      Er achtete nicht auf die Frage, sondern fuhr fort, als ob sie ihn gar nicht unterbrochen hätte.

      – Ich habe einen zweiten Grund, fuhr er fort, Ihnen das Testament zu zeigen. Wenn ich Sie dazu vermögen kann, gewisse Clauseln darin zu lesen, mit meiner Beihilfe, so werden Sie die Umstände selber herausfinden, welche ich Ihnen kundzuthun hierher gekommen bin, – Umstände so peinlicher Art, daß ich kaum weiß, wie mein Mund sie Ihnen mittheilen soll.

      Miss Garth sah ihm unverwandt ins Angesicht.

      – Umstände, mein Herr, welche die verstorbenen Aeltern oder die überlebenden Kinder angehen?

      – Welche beide, die Todten und die Lebenden angehen, antwortete der Advocat. Umstände, welche, wie ich bedauern muß zu sagen, die Zukunft von Mr. Vanstones unglücklichen Töchtern mit betreffen.

      – Warten Sie, sagte Miss Garth, warten Sie einen Augenblick.

      Sie strich ihr altes graues Haar von ihren Schläfen zurück und kämpfte innerlich ihren Herzensjammer und die fürchterliche Schwäche des Schreckens nieder, welche vielleicht eine jüngere oder weniger entschlossene Frau überwältigt hätten. Ihre Augen, die vom Wachen trübe geworden waren, welche Kummersthränen geröthet hatten, suchten das unergründliche Angesicht des Rechtsgelehrten.

      – Seine unglücklichen Töchter?! wiederholte sie wie im Traume. Spricht er doch, als ob es ein noch schlimmeres Unglück gäbe, als das, welches sie zu Waisen gemacht hat…

      Sie hielt wieder einen Augenblick inne und raffte ihren sinkenden Muth zusammen.

      – Ich will Ihnen Ihre harte Pflicht, mein Herr, nicht noch peinlicher machen, als ich verhüten kann, begann sie wieder. Zeigen Sie mir die Stelle in dem letzten Willen. Lassen Sie mich sie lesen und das Schlimmste erfahren.

      Mr. Pendril wandte wieder zur ersten Seite um und deutete auf eine gewisse Stelle in den eingeklammerten Schriftzeilen.

      – Fangen Sie hier an, sagte er.

      Sie versuchte anzufangen, sie versuchte seinem Finger zu folgen, wie sie ihm bereits bei den Unterschriften und den Daten gefolgt war. Allein ihre Sinne schienen an der Verwirrung ihres Geistes Theil zu nehmen, die Worte flossen ihr durcheinander und die Zeilen schwammen vor ihren Augen.

      – Ich kann Ihnen nicht folgen, sagte sie. Sie müssen es mir sagen oder vorlesen.

      Sie rückte ihren Stuhl vom Tische ab und versuchte sich zu sammeln.

      – Halten Sie ein! rief sie, als der Advocat mit sichtbarer Ueberwindung und zögernd die Papiere selbst zur Hand nahm. – Eine Frage erst. Sorgt das Testament für seine Kinder?

      – Sein letzter Wille sorgte für sie, als er es machte.

      – Als er es machte? (Etwas von ihrer angeborenen Derbheit brach bei ihr durch, als sie die Antwort wiederholte). Sorgt er jetzt für sie?

      – Nein.

      Sie riß ihm das Testament aus der Hand und warf es in einen Winkel des Zimmers.

      – Sie denken wohl, sagte sie, mich so mehr zu schonen, aber Sie verschwenden Ihre Zeit und nutzen meine Kraft ab. Wenn der Wille unbrauchbar ist, so lassen Sie ihn dort liegen. Sagen Sie mir die Wahrheit, Mr. Pendril, die ganze Wahrheit und auf der Stelle mit eigenen Worten!

      Er fühlte, daß es eine unnütze Grausamkeit wäre, diesem Ersuchen nicht zu willfahren. Es blieb keine andere Wahl zum Erbarmen, als auf der Stelle zu antworten.

      – Ich muß Sie an das heurige Frühjahr erinneren. Miss Garth. Können Sie sich des vierten März entsinnen?

      Ihre Aufmerksamkeit schweifte wieder ab, ein Gedanke schien sich in dem Augenblicke, als er sprach, ihrer bemächtigt zu haben. Anstatt auf eine Frage zu antworten, stellte sie selbst eine Frage.

      – Lassen Sie mich die Aufklärung selber suchen, sagte sie, lassen Sie mich Ihnen vorgreifen, wenn ich es anders im Staude bin. Sein unnützes Testament, die Ausdrücke, in denen Sie von seinen Töchtern sprechen, der Zweifel, den Sie zu empfinden scheinen bezüglich meines fortdauernden Respects vor seinem Andenken, haben mir ein neues Licht gegeben. Mr. Vanstone ist als zu Grunde gerichteter Mann gestorben: ist es Das, was Sie mir zu sagen haben?

      – Weit entfernt, Mr. Vanstone ist gestorben und hinterläßt ein Vermögen von über achtzig Tausend Pfund, ein Vermögen, das in den besten Sicherheiten angelegt ist. Er lebte nach seinem Einkommen, aber niemals über dasselbe hinaus. Alle seine Schulden zusammen genommen würden noch nicht zweihundert Pfund betragen. Wenn er als zu Grunde gerichteter Mann gestorben wäre, so würde ich seiner sehr bedauert haben, aber ich hätte nicht gezögert, Ihnen die volle Wahrheit zu sagen. Jetzt aber nehme ich Anstand Lassen Sie mich eine Frage wiederholen, die Sie, glaube ich, überhörten, als ich sie zum ersten Male stellte. Leiten Sie Ihre Gedanken zurück zum Frühling dieses Jahres. können Sie sich des vierten März entsinnen?

      Miss Garth schüttelte mit dem Kopfe.

      – Mein Gedächtnis; für Daten ist schlecht, wenn ich ausgezeichnet bei mir selber bin, sagte sie. Jetzt vollends bin ich zu verwirrt, um es sofort sicher angeben zu können. Können Sie Ihre Frage nicht anders stellen?

      Er stellte sie in folgender Form:

      – Können Sie sich eines Familienereignisses im Frühlinge dieses Jahres entsinnen, welches Mr. Vanstone stärker als gewöhnlich zu berühren schien?

      Miss Garth legte sich auf ihrem Stuhle etwas vor und sah Mr. Pendril aufgeregt über den Tisch an.

      – Die Reise nach London! rief sie aus. Es war mir mit dieser Reise nach London Von Anbeginn nicht recht richtig! Ja wohl! Ich entsinne mich, daß Mr. Vanstone einen Brief erhielt, ich erinnere mich, wie er ihn las und so ganz verwandelt aussah, daß er uns Alle erschreckte.

      – Bemerkten Sie ein äußerlich wahrnehmbares Einverständnis; beider, Mr. und Mrs. Vanstone, in Bezug auf den Inhalt des Briefes?

      – Ja wohl, bemerkte ich Das. Eins der Mädchen – es war Magdalene – erwähnte den Poststempel, einen Ort in Amerika. Jetzt fällt mir Alles wieder ein, Mr. Pendril. Mrs. Vanstone sah ängstlich aufgeregt aus in dem Augenblicke, wo sie den Ort trennen hörte. Den Tag darauf gingen Beide nach London. Sie sprachen sich aber darüber Weder gegen ihre Töchter, noch gegen mich näher aus. Mrs. Vanstone sagte nur, die Reise geschehe in Familienangelegenheiten. Ich vermuthete etwas Schlimmes; ich konnte mir aber nicht klar werden, was. Mrs. Vanstone schrieb mir aus London, indem sie angab, ihr Zweck sei einen Arzt zu befragen über den Stand ihrer Gesundheit, sie habe ihre Töchter nicht erschrecken wollen, sonst hätte sie vorher davon gesprochen. Etwas in dem Briefe war damals beinahe kränkend für mich. Ich dachte, es möchte wohl noch ein anderer Grund vorliegen, welchen sie vor mir verborgen hielte. That ich ihr Unrecht?´

      – Sie thaten ihr nicht Unrecht. Es war allerdings noch ein ganz anderer Grund vorhanden, den sie Ihnen verschwieg. Indem ich Ihnen nun diesen Beweggrund offenbare, offenbare ich Ihnen zugleich das schmerzliche Geheimniß,

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