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Garth wich mit Schmerz, im Angesicht vor ihm zurück.

      – Sie hätten es mir ersparen sollen, Herr, in einer solchen Zeit wie diese eine solche Frage zu hören!

      Er beachtete ihre Antwort nicht, seine Augen waren fort und fort auf ihr Gesicht geheftet.

      – Beten Sie, sagte er, wie Sie noch nie zuvor gebetet haben, für die Erhaltung von Mrs. Vanstones Leben.

      Und damit ging er fort. Seine Stimme und Art und Weise drückten eine unmittheilbare Furcht vor der Zukunft aus, welche seine Worte nicht ausgesprochen hatten. Miss Garth ging ihm bis in den Garten nach und rief ihn an. Er hörte sie, aber er kehrte nicht wieder um. Er beschleunigte seine Schritte, als ob er vermiede, mit ihr zusammen zu treffen. Sie beobachtete ihn über den freien Rasenplatz weg im warmen Sommermondlichte. Sie sah seine weißen greisenhaften Hände, sah sie plötzlich gegen den schwarzen Hintergrund der Buschanlagen erhoben und gerungen über feinem Kopfe. Sie fielen herab, die Bäume nahmen ihn in ihre Schatten auf; und er war verschwunden.

      Miss Garth begab sich zurück zu der Leidenden auf ihrer Seele die Last einer neuen Sorge.

      Es war jetzt elf Uhr vorüber. Eine kurze Zeit war vergangen, seit sie die Schwestern gesehen und gesprochen hatte. Die Fragen, welche sie an eines von den Dienstmädchen richtete, brachten aus diesem nur die Meldung heraus, daß Beide auf ihren Zimmern seien. Sie verschob ihre Rückkehr an das Bett der Mutter, um vorher noch einige letzte Trostesworte den Töchtern zu sagen, ehe sie dieselben für die Nacht verließ. Noras Zimmer war das nächste. Sie öffnete leise die Thür und sah hinein. Die knieende Gestalt neben dem Bette zeigte ihr an, daß Gottes Hilfe der vaterlosen Waise in ihrer Kummersnoth nahe war. Dankesthränen sammelten sich in ihren eigenen Augen, als sie das sah, dann machte sie die Thür leise wieder zu und ging in Magdalenens Zimmer. Dort hielt sie ungewiß ihre Schritte auf der Schwelle an und wartete einen Augenblick, ehe sie eintrat.

      Ein Geräusch in dem Zimmer erreichte ihr Ohr, das eintönige Rauschen eines Frauenkleides, bald näher, bald ferner; ohne Unterlaß von einem Ende zum andern über den Boden gehend, ein Geräusch, welches ihr sagte, daß Magdalene in der Einsamkeit ihrer Kammer auf und abging. Miss Garth klopfte. Das Rauschen hörte auf, die Thür öffnete sich, und das trauernde Mädchenangesicht stand vor ihr, verschlossen in eisig kalte Verzweiflung, die großen hellen Augen mechanisch in die ihrigen blickend, so leer und so thränenlos wie immer.

      Dieser Blick that dem Herzen der gläubigen Frau unendlich wehe, welche sie auferzogen und geliebt hatte von ihrer Kindheit an. Sie nahm Magdalenen zärtlich in ihre Arme.

      – O meine Liebe, sagte sie, noch keine Thränen?! O, könnte ich Sie sehen, wie ich Nora gesehen habe! Sprechen Sie doch mit mir, Magdalene, versuchen Sie, ob Sie mit mir sprechen können!

      Sie versuchte es und sprach:

      – Nora, sagte sie, fühlt keine Gewissensbisse Er gehorchte nicht Noras Interessen, als er in seinen Tod ging, er gehorchte nur meinen.

      Mit dieser schrecklichen Antwort drückte sie ihre kalten Lippen auf Miss Garths Wangen.

      – Lassen Sie mich es allein tragen, sagte sie und schloß sanft die Thür.

      Wieder stand Miss Garth auf der Schwelle, und wieder kam und ging das Geräusch des rauschenden Gewandes bald nahe, bald fern, hin und her mit einer grausamen, mechanischen Regelmäßigkeit, welche die wärmste Sympathie erkältete und die kühnste Hoffnung niederschlug.

      Die Nacht verging. Es war ausgemacht worden, daß, wenn keine Veränderung zum Bessern am Morgen eintreten würde, der Londoner Arzt, welchen Mrs. Vanstone einige Monate früher zu Rathe gezogen hatte, zum nächsten Tag herbeschieden werden sollte. Es trat keine Besserung ein, und man schickte nach dem Arzte. Als der Morgen vorrückte, kam Frank aus dem kleinen Hause, um sich zu erkundigen. Hatte Mr. Clare seinem Sohne die Pflicht, der er den Tag vorher sich selbst unterzogen, vielleicht nur aus Widerwillen auferlegt, um nicht nach Dem, was er Miss Garth gesagt hatte, wieder mit ihr zusammenzukommen? Es mochte wohl so sein. Frank konnte darüber kein neues Licht bringen, war er doch nicht im Vertrauen des Vaters. Er sah bleich und verwirrt aus. Seine ersten Fragen nach Magdalenen zeigten, wie tief sein weiches Gemüth durch den Unglücksfall erschüttert war. Er war nicht im Stande, seine eigenen Fragen herauszubringen, die Worte zitterten ersterbend auf seinen Lippen, und seine schnell bereiten Thränen traten ihm ins Auge. Miss Garths Herz erwärmte sich für ihn zum ersten Male. Der Kummer hat Eines an sich, was edel ist, er nimmt alle und jede Theilnahme an, komme sie, woher sie wolle. Sie sprach dem jungen Manne durch einige wenige Worte Muth ein und gab ihm beim Gehen die Hand.

      Noch Vormittag kehrte Frank mit einem andern Auftrage zurück. Sein Vater wünschte zu wissen, ob nicht Mr. Pendril auf Combe-Raven an diesem Tage erwartet werde. Wenn die Ankunft des Advocaten in Aussicht stehe, so solle Frank ihn an der Station erwarten und ihn mit nach dem Nachbarhause nehmen, wo ein Bett für ihn bereit gehalten werden solle. Diese Botschaft nahm Miss Garth Wunder. Sie zeigte ihr, daß Mr. Clare von der Absicht seines verstorbenen Freundes, nach Mr. Pendril zu senden, unterrichtet war. War des alten Mannes vorsorgliches Erbieten seiner Gastfreundschaft vielleicht ein anderer indirecter Ausdruck des natürlichen menschlichen Beileids, das er verkehrterweise verbarg? Oder dachte er schon im Voraus an gewisse geheime Umstände, welche Mr. Pendrils Anwesenheit nöthig machten, von welcher zur Zeit die Verwaiste Familie nicht die entfernteste Ahnung hatte? Miss Garth hatte das Herz zu voll und zu wenig Hoffnung, als daß sie sich bei einer dieser Erwägungen aufgehalten hätte. Sie sagte Franc daß Mr. Pendril um drei Uhr erwartet würde und schickte ihn mit bestem Dank zurück.

      Kurz nach seinem Weggehen wurden die Besorgnisse, welche ihre Seele in Betreff Magdalenens etwa hegen konnte, durch bessere Nachrichten von ihr gemildert, als sie die Erfahrung von letzter Nacht hätte füglich erwarten lassen. Noras Einfluß war thätig gewesen, um die Schwester aufzurichten, und Noras ruhiges Mitgefühl hatte dem verhaltenen Kummer endlich einen Ausgang verschafft. Magdalene hatte schwer gelitten, sie mußte bei einer Anlage wie die ihres Charakters unter der Bemühung, sie zu trösten, leiden. Die innen verhaltenen Thränen waren nicht leicht gekommen, sie waren mit einem quälenden, leidenschaftlichen Ungestüme zum Ausbruch gekommen. Aber Nora hatte sie nicht eher verlassen, als bis der Kampf zu Ende und die Ruhe eingetreten war. Diese günstigere Nachricht gab Miss Garth Muth, sich in ihr eigenes Zimmer zurückzuziehen und der Ruhe zugenießen, deren sie so sehr bedurfte. An Leib und Seele aufgerieben, schlief sie aus plötzlicher Erschöpfung und hatte ein paar Stunden einen schweren Schlaf ohne Träume. Es war zwischen drei und vier Uhr Nachmittags, als sie von einem der Dienstmädchen geweckt wurde. Das Mädchen hatte ein Billet in der Hand, ein Billet, das Mr. Clare, der Sohn, mit der Aufforderung, daß es augenblicklich an Miss Garth abgegeben werde, zurückgelassen hatte. Der Name auf dem unteren Ende des Umschlags war »William Pendril«. Der Advocat war angekommen.

      Miss Garth öffnete das Billet. Nach einigen einleitenden Sätzen des Bedauerns und des Beileids zeigte der Schreiber seine Ankunft unter Mr. Clares Dach an und ging dann offenbar infolge seines Berufs weiter, um ein sehr auffallendes Verlangen zu stellen.

      – Wenn, schrieb er, eine Veränderung zum Bessern bei Mrs. Vanstone eintreten sollte mag es auch nur eine Besserung für kurze Zeit, oder eine andauernde Besserung, auf welche wir Alle hoffen, sein —: in beiden Fällen lassen Sie mich es augenblicklich wissen. Es ist von der äußersten Wichtigkeit, daß ich mit ihr spreche, sobald sie Kraft genug erlangt, um mir fünf Minuten ihre Aufmerksamkeit zu schenken und um nach Ablauf dieser Zeit im Stande zu sein, ihren Namen zu schreiben. Haben Sie die Güte, mein Begehren im strengsten Vertrauen den zugezogenen Aerzten mitzutheilen. Diese werden die ungeheure Wichtigkeit begreifen, welche ich auf diese Unterredung lege, wenn ich Ihnen sage, daß ich Anordnung getroffen habe, alle anderen Geschäfte auf mich zu nehmen und daß ich mich stets in Bereitschaft halte, um Ihrer Aufforderung sofort nachzukommen in jeder Stunde des Tages und der Nacht.

      Solchergestalt schloß der Brief. Miss Garth las ihn zwei Mal durch. Beim zweiten Lesen verbanden sich in ihrer Seele durch ein dunkles Band des Zusammenhanges das Ersuchen, das der Advocat an sie jetzt stellte, mit den Abschiedsworten, welche die vorige Nacht Mr. Clares Lippen entschlüpft waren. Es war also noch irgend ein anderes ernstes Interesse gefährdet, das Mr. Pendril und Mr. Clare kannten, noch außer dem ersten und heiligsten Interesse der Wiederherstellung von Mrs. Vanstone.

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