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nicht auf Maschinenteile, Bestellnummern und Rechnungen konzentrieren. Zumindest nicht auf diese Art Rechnungen. Auf meinem Zettelkasten liegt der blaue Lego-Stein und blinzelt mich auffordernd an: ‚Paulina, jetzt mach schon. Fang noch mal an zu rechnen!‘

      Mein Schreibblock füllt sich rasant mit allen Beträgen, die jeden Monat fällig sind. Dabei darf ich auch nicht vergessen, dass es Ausgaben gibt, die erst in ein paar Monaten auf mich zukommen. Wenn ich den Durchschnitt nehme, bleiben mir für Essen und Unvorhergesehenes noch... Ich glaub es nicht und rechne nochmals nach, aber es wird nicht mehr: fünfunddreißig Euro. Nicht mal zehn Euro pro Woche! Dabei habe ich aber die Reparaturkosten für meinen fahrbaren Untersatz nicht mitgerechnet. Das Abo für die zwei Zeitschriften, die ich sowieso immer nur überflog, den Mitgliedsbeitrag für den Alpverein und die Zusatzversicherungen, die mir kürzlich ein kompetenter Makler dieser Branche aufgeschwatzt hatte, werde ich auf jeden Fall kündigen. Aber egal wie ich rechne, es bleibt kaum etwas übrig. Ich kaue trübselig auf meinem Bleistift und überlege. Wie kann ich, ohne dieses geheimnisvolle Geld anzunehmen, wieder auf die Füße kommen? Ohne dies stehe ich momentan mit ungefähr dreihundert Euro in der Kreide und der Monat hat gerade erst angefangen. Bald wäre mein Disporahmen von tausend Euro wieder ausgeschöpft. Herrn Bäuerles Igelhaare nicken bestätigend vor meinem inneren Auge. Der größte Brocken sind die Raten für meine Wohnung. Die drücken mich am meisten, denn dass sich mit Gerd als er verschwand, auch sein monatlicher Beitrag zu unserer Gemeinschaftskasse in Luft auflöste, hatte ich in meiner Verzweiflung erst mit Verzögerung mitbekommen.

      Ich würde die Wohnung verkaufen müssen. Es bliebe, wenn Makler und Bank sich bedient hätten, sicher noch etwas übrig, und ich könnte eine günstige mieten. Aber zuerst mal eine finden! Der Wohnungsmarkt in unserer Gegend ist wie leergefegt. Ich habe Horrorgeschichten von überhöhten Mietpreisen, üblen Löchern und unverschämten Vermietern gehört. Manche meiner Kollegen haben eine halbe Tagesreise hinter sich, wenn sie in der Firma eintreffen. Dazu kommen die Kosten für Benzin und der Wertverlust des Autos durch die vielen gefahrenen Kilometer. Ich höre sie fast täglich darüber stöhnen.

      Dann muss ich eben doch wieder bei Papa einziehen. Er würde mich bestimmt aufnehmen. Sie fahren erst morgen. Ich könnte ihn noch erreichen. Es wäre bestimmt nur vorübergehend, und falls es länger ginge, würde ich mich ganz arg zurücknehmen, damit ich seine Elfi nicht verscheuche. Hoffentlich versteht sie das.

      Aber er würde nicht unbeschwert losfahren können. Es muß eine andere Lösung geben! Vielleicht reicht es, meinen kleinen Flitzer zu verscherbeln. Das Gefühl von Großartigkeit und Freiheit ist sowieso den Bach runter. Es gibt Leute, die haben nicht mal ein Auto und schon gar kein so flottes Gefährt. Und die halbe Stunde Fußweg hierher wird mich schon nicht umbringen. Weitere große Reisen kann ich mir grade sowieso nicht leisten, und ich könnte mir dazu gleich noch das Fitnessstudio und den Anblick von Frau Müller-Oberbauer im heißen Sportdress ersparen!

      Viel würde ich für den Wagen wahrscheinlich nicht mehr bekommen: Die Reparatur, das Alter, der Wertverlust. Ich hätte zwar nur noch vier Raten abzubezahlen, aber wenn die sofort wegfallen würden? Kein TÜV wäre mehr fällig, keine Versicherung, keine Steuern, keine neuen Reifen, keine Reparaturen. Warum eigentlich nicht? Ein kleines Licht fängt an zu flackern. Das erste Mal seit den vergangenen Tagen atme ich etwas freier. Ich rechne von vorne.

      „Hallo, Paulina!“ In der geöffneten Tür steht Carola, unsere Buchhalterin und rauft sich die modisch kurz geschnittenen schwarzen Haare. „Ich habe meine Unterlagen für das Meeting verlegt. Darf ich deine schnell kopieren?“

      „Oh.“ Ich bin völlig überrumpelt, habe ich den Termin zur Info über die Einführung der neuen Software doch glatt vergessen. „Schon so spät? Ich muss sie erst raussuchen. Dann kopiere ich sie und bringe sie mit.“

      „Danke, du bist ein Schatz! Bis gleich.“

      Sie dreht sich nochmals um: „Hast du dich schon in die Liste für den Wochenendausflug nach Davos eingetragen? Morgen wird sie abgehängt. Es ist ja schon in einer Woche!“

      Jetzt heißt es, stark sein...

      „Nein, habe ich nicht. Ich fahre nicht mit.“

      „Nein? Das ist aber schade. Wieso denn?“

      Weil ich mir den Anblick von Gerds knackigen Waden, die neben denen Billes vor mir her stapfen würden, ersparen will. Und weil ich mir die Zusatzkosten sowieso nicht leisten kann.

      „Keine Lust. Ich habe nicht die Absicht, schon wieder zur Belustigung aller zitternd über einem Abhang zu hängen.“

      Nur Mike, mein Kollege aus der Abteilung Marketing, der Wagemutigste von allen — er hat schon einige Klettersteige bezwungen und war kürzlich sogar Fünfter bei irgendeinem Autorennen — hat damals nicht gelacht. „Nicht jeder braucht das, sich die Flügel zu verbrennen“, hat er vor den anderen zu mir gesagt, und mir über die schwierige Passage geholfen. Die Erinnerung an meine schmachvolle Darbietung bei der letzten Wanderung mit der Betriebssportgruppe treibt mir jedoch immer noch die Schamröte ins Gesicht.

      „Und du kannst dir sicher denken, dass ich die Plantschbecken in den engen Schluchten sehr gerne den anderen überlasse.“

      „Ich doch auch. Aber wenn uns die Geschäftsleitung schon mal zur Belohnung einen Ausflug finanziert. Du hast dir doch an dem Projekt auch einige Zähne ausgebissen. Und es geht doch in die Schweiz! In diesem Hotel soll es eine traumhafte Wellness-Anlage geben. In eine warme Decke eingewickelt, einen Drink dazu und die prachtvolle Berglandschaft von unten betrachten. Das hat doch was!“

      Ihre dunklen Augen leuchten, und ich kann mir gut vorstellen wie sie sich in ihrem Liegestuhl genüsslich räkeln und höchstens ab und zu eine Runde um den Swimmingpool drehen wird. Und ich weiß nur zu genau, was so ein kleiner zusätzlicher Drink in der Schweiz kostet. Ein Vermögen! So was ist ab sofort für mich gestrichen. Das passt absolut nicht in meinen Sparplan, den ich als sich die Tür öffnete, blitzschnell abgedeckt habe.

      „Ach komm“, legt sie nach. „Ich will nicht den ganzen Abend mit Leuten reden müssen, die sich nur über spitze Hörner, Steilwände und Grate unterhalten wollen. Es wäre so schön, wenn du mit dabei wärst.“

      Während ich im Druckerraum die Blätter durch den Kopierer laufen lasse, denke ich über diesen Ausflug nach. So etwas würde ich mir in der nächsten Zeit natürlich nicht mehr leisten können. Die Fahrt, die Übernachtung und ein exzellentes Abendessen würden von der Firma bezahlt werden. Bei allem anderen müsste ich mich eben rausreden. Und die Berge ziehen mich an. Nicht die Gipfeltouren, bei denen ich mir vor Angst in die Hosen mache, aber die sanften Almwiesen, das überwältigende Panorama. Die frische, klare Luft. So wie ich es von meiner Kindheit her kenne. Von den Ferien im Allgäu bei Onkel und Tante. Beide leben leider nicht mehr, und zu meinen Vettern habe ich schon lange den Kontakt verloren. Was aber nicht an ihnen liegt. Beschämt frage ich mich: wie lange war ich nicht mehr dort? Die Antwort lautet ganz einfach: Seit meiner Beziehung mit Gerd.

      Auf einmal drängt es mich mit Macht, doch mitzufahren. Ich müsste ja nicht hinter diesen verrückten Sportlern her keuchen und würde garantiert auch keinen Liegestuhl verteidigen wollen. Aber ich könnte meinen Skizzenblock mitnehmen...

      Fast schon entschlossen stoße ich den Papierstapel in Form und hefte ihn zusammen. Draußen höre ich bereits den Smalltalk einiger Kollegen vor dem gegenüberliegenden Besprechungszimmer.

      „... heißt die nette, großäugige Kleine von der Konstruktionsabteilung? Die mit den langen, kastanienbraunen Haaren und dem klasse Fahrgestell?“

      Ich spitze die Ohren. Obwohl ich mich gerne gut kleide mag ich es gar nicht, nur auf mein Aussehen reduziert zu werden. Die Stimme, dunkel und rau, kenne ich nicht. Aber diejenige, die antwortet. Es ist der helle Tenor von Mike Krüger.

      „Welche Kleine? In dieser Abteilung arbeitet nur eine Frau, und das ist Paulina Werner. Klasse hat die. Aber klein ist die nicht gerade.“

      Na ja, im Verhältnis zu dem kraftstrotzenden Mike, dem ich wenn ich auf meinen schicken Plateausohlen-Stöckelschuhen stehe fast auf den Scheitel sehen kann, bin ich eine Riesin. Ich habe den Verdacht, dass er seine

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