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Schmerzen waren für den vierundfünfzigjährigen Leo Schwartz kaum auszuhalten. Heute Morgen verspürte er beim Anziehen seines Cowboystiefels einen heftigen Schmerz im unteren Rücken. Für einige Sekunden war ihm die Luft weggeblieben. Was war das? Umständlich hatte er es geschafft, den zweiten Stiefel anzuziehen. Der Gang von seiner Wohnung die Treppe nach unten war für ihn kaum zu bewältigen. Stufe für Stufe ging es abwärts, was ewig dauerte. Die Umgebung des idyllisch gelegenen Bauernhofes vor den Toren Altöttings war ihm im Moment herzlich egal.

      „Was ist denn mit dir los?“ Tante Gerda kümmerte sich seit über einer Stunde um ihr Gemüsebeet, das nur darauf wartete, endlich bepflanzt zu werden. Der Winter war sehr lange und kalt gewesen, der Frühling ließ sich lange bitten. Jetzt Ende Mai war es endlich warm geworden und die Meteorologen sagten einen ähnlich heißen Sommer wie im letzten Jahr voraus. Tante Gerda glaubte nicht daran. Sie beobachtete die Vegetation und die Tiere – und die prophezeiten einen eher durchwachsenen Sommer. Auch deshalb wollte sie endlich ein Gewächshaus haben, dessen Bau fürs nächste Wochenende anstand. Die Pflanzen dafür waren gekauft und warteten nur darauf, endlich einziehen zu dürfen. Bis dahin versorgte Tante Gerda das Gemüsebeet, das zum Schutz vor Wildtieren mit einem Zaun umgeben war und das sie nicht vorhatte, nur wegen eines Gewächshauses aufzugeben. Leos Vermieterin und Ersatzmutter war mit ihren siebenundsiebzig Jahren noch sehr rüstig, was jetzt besonders deutlich wurde.

      „Nun sag schon: Was ist los?“, drängelte Tante Gerda und stellte sich ihm in den Weg.

      „Kreuzschmerzen“, sagte Leo kleinlaut, als er am Ende der Treppe angekommen war. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm sogar das Sprechen schwerfiel. Konnte das sein?

      „Was habe ich dir gesagt? Zwei Wochen lang bist du nur im Liegestuhl gelegen und hast dich kaum bewegt. Wie oft habe ich dir vorgebetet, dass das noch schlimm enden wird, wenn du nur herumliegst? Aber du wolltest ja nicht auf mich hören! Der gnädige Herr hat all meine Ratschläge in den Wind geschlagen. Und jetzt haben wir den Salat! Komm mit!“

      Leo wusste, dass Tante Gerda mit ihrer Predigt richtig lag. Den Urlaub hatte er sich redlich verdient und ihn so gestaltet, wie er es für richtig erachtete. Da es seine Verlobte Sabine Kofler vorzog, statt eines gemeinsamen Urlaubs einen Job in Frankreich anzunehmen, konnte er endlich die Bücher und Zeitschriften lesen, für die er in den letzten Monaten keine Zeit gehabt hatte. Dafür hatte er im Schuppen einen alten Liegestuhl gefunden, den Tante Gerda als viel zu unbequem erachtete. Er hingegen war damit zufrieden, das alte Ding würde seinen Zweck schon erfüllen. Entgegen Tante Gerdas Rat, sich einen neuen Liegestuhl zu kaufen, benutzte er dieses antike Stück und sparte sich das Geld, was ihm als gebürtigem Schwaben sehr entgegen kam. Das Wetter spielte einigermaßen mit. Wenn nicht, dann legte er sich eine Decke über. Ja, er hatte schnell bemerkt, dass sich der alte, klapprige Liegestuhl als sehr unbequem erwies, trotzdem dachte er nicht daran, ihn durch ein neues Modell zu ersetzen. Ob davon diese Rückenschmerzen kamen? Vermutlich. Tante Gerda hatte wieder einmal Recht behalten.

      „Zieh dein T-Shirt hoch“, sagte die alte Dame, als sie mit einer Schachtel aus dem Bad zurückkam. „Du meine Güte! Was ist denn auf dem T-Shirt abgebildet? Ist das eine Hanfpflanze?“

      Leo hatte einfach nur in den Schrank gegriffen und hatte nicht darauf geachtet. Ja, das war eine Hanfpflanze, was er jetzt auch als schlechte Wahl erachtete. Das T-Shirt musste bleiben, denn den Weg zurück in seine Wohnung würde er nicht mehr schaffen.

      „Du solltest dich schämen, Leo! Als Kriminalbeamter solltest du dich nicht so respektlos kleiden. Damit wirst du dich blamieren! Wann wirst du endlich erwachsen?“ Tante Gerda schüttelte den Kopf. „Was ist nun mit dem T-Shirt? Zieh es endlich hoch!“

      „Du musst mir helfen, ich schaffe es nicht.“

      Tante Gerda griff beherzt zu. Leo stiegen Tränen in die Augen, die Schmerzen waren unerträglich. Die alte Dame schien kein Mitleid mit ihm zu haben. Sie stellte sich hinter ihn und drückte ihm ein Pflaster auf die nackte Haut, die während seines Urlaubes kaum Farbe angenommen hatte. Er sah aus wie ein einseitig gegrilltes Hähnchen, denn die Vorderseite passte nicht zu seiner Rückseite.

      „Das wird jetzt ordentlich warm werden. Wenn die Schmerzen nicht leichter werden, musst du zum Arzt gehen. Der wird dir eine Spritze geben und dir hoffentlich auch Krankengymnastik verschreiben. Wie kann man in deinem Alter nur so dumm sein! Ich habe dir gesagt, dass es dir nicht guttut, auf der klapprigen Liege zwei Wochen faul herumzuliegen.“ Während Leo das T-Shirt in Zeitlupentempo herunterzog, hielt ihm Tante Gerda eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Wenn seine Schmerzen nicht so groß gewesen wären, hätte er vielleicht auch mitbekommen, was sie sagte.

      Nach einigen Minuten begann das Wärmepflaster zu wirken. Ob er es schaffte, so Auto zu fahren? Er sah auf die Uhr. Schon kurz nach acht. Die Kollegen warteten sicher schon.

      „Wo willst du hin?“, sagte Tante Gerda, die ihren Vortrag noch nicht beendet hatte.

      „Zur Arbeit.“

      „So kannst du ganz sicher nicht Autofahren!“

      „Wer sagt das?“

      „Ich!“

      „Das geht schon. Vielen Dank für Deine Hilfe.“

      „Du darfst so nicht fahren, sei doch vernünftig! Wenn dir dein Leben egal ist, solltest du an die anderen Verkehrsteilnehmer denken!“

      Leo überhörte die Warnungen und ging langsam zu seinem Wagen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er hinter dem Steuer saß. Schon allein den Wagen zu starten kostete unendlich viel Mühe. Immer wieder sah er auf die Uhr, die Minuten rasten dahin. Als er es geschafft hatte, den Rückwärtsgang einzulegen, parkte neben ihm ein Wagen. Es war sein Kollege und Freund Hans Hiebler. Neidisch musste Leo mit ansehen, wie der fünf Jahre ältere Mann beschwingt aus dem Wagen sprang.

      „Na, du Invalide?“, grinste ihn Hans frech an.

      „Was machst du denn hier?“, fragte Leo.

      „Tante Gerda rief mich an. Sie hat mir bereits ausführlich geschildert, wie schlecht es dir geht. Steig aus, ich fahre dich zum Arzt.“

      „Danke, aber das ist nicht nötig.“

      „Okay, wie du willst. Wir haben einen Mordfall. Bevor ich jetzt zum Tatort fahre, möchte ich sehen, ob du dich bewegen kannst. Steig aus!“

      „Nein, das werde ich nicht tun!“ Leo wurde übel, was vermutlich von der Anstrengung kam. Oder vielleicht nur, weil er noch nichts gegessen hatte? Nein, das waren ganz sicher die Schmerzen. „Ich werde jetzt nicht aussteigen. Weißt du eigentlich, wie lange ich gebraucht habe, bis ich hinterm Steuer saß?“

      „Steig aus und setz dich in meinen Wagen, du sturer Bock! Ich fahre dich jetzt zum Arzt. Das ist mein letztes Angebot. Danach kannst du zusehen, wie du zurecht kommst.“

      Leo sah ein, dass er Hans‘ Hilfe brauchte. Dass er so nicht fahren konnte, war ihm klar. Also begann er, umständlich einen Fuß nach dem anderen aus dem Fahrzeug zu bekommen. Hans griff beherzt zu und zog Leo aus dem Auto. Die Schmerzen waren unvorstellbar. Ihm wurde schwindelig und konnte dem, was Hans mit ihm machte, nichts entgegensetzen. Nur wenige Augenblicke später saß Leo in Hans‘ Wagen und konnte vorsichtig durchatmen.

      „Danke für den Anruf, Tante Gerda!“, rief Hans der alten Dame zu, die tatsächlich seine echte Tante war. Er hatte Leo die Wohnung auf dem alten, renovierten Hof vermittelt, als der nach seiner Versetzung vor fünf Jahren eine Bleibe suchte.

      „Das ist die Adresse des Arztes in Tüßling. Kümmere dich um Leo! Und bring ihm bei, dass man in seinem Alter nicht zwei Wochen auf einer alten, kaputten Liege verbringt! Er soll endlich kapieren, dass man sich bewegen muss!“

      „Ich kann dich hören“, sagte Leo.

      „Wenn das, was ich dir sage, auch in deinem Dickschädel ankommen würde, wäre ich zufrieden.“

      „Stimmt das? Bist du in den letzten zwei Wochen nur im Liegestuhl gelegen, während wir dazu verdammt waren, alte Fälle durchzuarbeiten?“

      Leo nickte nur. Er

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