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doch der Wirt hob beschwichtigend die Hand. “Hannes wird Ihnen ihre Tasche hinauftragen”, sagte er, und an den Mann gewandt meinte er: “Aber vorsichtig, Hannes. Zeig der Lady ihr Zimmer und wo die Dusche ist.”

      Hannes, ein gebücktes altes Männlein, forderte sie mit einer einladende Geste und einem fast zahnlosen Lächeln auf, ihm zu folgen. Er führte sie aus der Gaststube hinaus und die gebohnerte Holztreppe hinauf in den ersten Stock. Die Treppe knarrte, es roch muffig und eingesperrt. Die Pflanzen, die auf der Fensterbank und in der Ecke des Flures standen, machten einen mitleiderregenden Eindruck, waren aber trotz der scheinbaren Vernachlässigung standhaft am Leben geblieben. Vor der Tür zu Zimmer Nummer fünf blieb Hannes stehen, noch immer die Tasche in der Hand. Er wartete, bis Laura aufgeschlossen hatte und stellte das Gepäckstück mitten im Zimmer ab. Immer wieder dienernd und mit zahnlosem Grinsen.

      “Bitte sehr, die Dame”, sagte er, machte aber keine Anstalten, zu gehen.

      Laura griff in ihre Jackentasche, suchte ohne hinzusehen ein Geldstück heraus und drückte es ihm in die Hand. Hannes dienerte wieder und wandte sich zur Tür. Ihm war nicht anzumerken, ob er mit dem Trinkgeld zufrieden war oder nicht.

      Entgegen allen Befürchtungen wirkte das Zimmer sauber und ordentlich. Es war nur spärlich eingerichtet: Ein großes breites Bett mit verschnörkelten Knaufen am Kopfende, ein dazu passender Nachttisch, auf dem eine kleine altmodische Lampe in Form eines Blütenkelches stand, ein Schrank und ein Tisch mit einem Stuhl, - das war alles. Die beiden Fenster waren aus je acht einzelnen kleinen Scheiben zusammengesetzt, davor hingen dünne schmucklose Gardinen, aber Laura stellte zufrieden fest, daß man die Übergardinen aus dickem dunkelblauem Stoff zuziehen konnte. Doch zunächst zog sie erst einmal alle Vorhänge zurück, öffnete die Fenster weit und schaute hinaus. Von hier aus konnte sie den Platz mit der Kastanie überblicken. Eine Gruppe Jugendlicher alberte herum und balgte sich. Obwohl inzwischen eine leichte Brise wehte, war die Luft noch immer warm und drückend.

      Sie zog ihre Kostümjacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und breitete, gähnend und sich streckend, die Arme aus. Sie hatte eine lange Reise hinter sich und war todmüde, und sie hoffte, daß sie trotz der allgegenwärtigen Musik aus dem Tanzsaal und trotz des Lärms der jungen Leute würde schlafen können.

      Ganz spontan änderte sie jedoch ihre Pläne. Sie hatte plötzlich Lust bekommen, hinunterzugehen und sich das Tanzvergnügen genauer anzusehen. Sie kam aus einer Großstadt, das Landleben war etwas ganz Neues und Fremdes für sie. Sie fragte sich, ob sich die Dorfjugend mangels einer Diskothek wohl genauso amüsierte wie die jungen Leute in den Städten, die sie kannte. Außerdem glaubte sie, trotz, oder gerade wegen ihrer Müdigkeit und Abgespanntheit viel zu aufgekratzt zu sein, um wirklich schlafen zu können. Der Streß der letzten Tage hatte sich noch immer nicht ganz abgebaut: Die Abschiedsfeier im Kollegenkreis, die Aufgabe ihrer Wohnung in Hannover, die Rennerei in Sachen Unterstellung der Möbel bei einer Spedition... Das alles spukte ihr noch immer im Kopf herum. Zudem war Wallberg nun ihre neue Heimat. Wenn auch die Rivas mit diesen Leuten nicht viel Kontakt hatten, wie ihr Matthias erzählt hatte, so war es doch möglich, daß sie hin und wieder im Dorf zu tun haben würde.

      Sie legte ihre Reisekleider ab und nahm aus ihrer Tasche ein leichtes knitterarmes Sommerkleid, das sie in weiser Voraussicht noch im letzten Augenblick eingepackt hatte. Sie legte es aufs Bett und suchte zunächst die Dusche am Ende des Flures auf. Danach fühlte sie sich wie neu geboren. Vor dem Spiegel über der Kommode löste sie ihr aufgestecktes Haar, bürstete die schulterlangen Locken kräftig durch und lächelte gutgelaunt ihrem Spiegelbild zu. Heute abend wollte sie nicht mehr die gefragte Diplom-Übersetzerin und Dolmetscherin sein, die von Aufgabe zu Aufgabe hetzte. Doch auch noch nicht die Frau an Matthias Rivas Seite, die von seiner Familie mit Neugier, und sicher auch mit Skepsis erwartet wurde. Heute wollte sie ganz einfach nur Laura sein, eine junge fünfundzwanzigjährige Frau, die sich unter die Dorfjugend mischte.

      Im Saal herrschte lustiges Treiben. Sie blieb eine Weile am Rand der Tanzfläche stehen und beobachtete, was rund um sie geschah. Die bunten Papiergirlanden, mit denen die Decke geschmückt war, mochten von der letzten Veranstaltung übriggeblieben sein. Die Musik kam aus einer alten Musicbox, und die jungen Leute versuchten sich in allen Variationen des Tanzens. Sie lachten, hopsten, alberten herum. Einige zogen Rockn’n Roll vor und legten die tollsten Figuren aufs Parkett, obwohl sie manchmal nicht recht zur Musik passen wollten, andere schienen sich in einer anderen Welt zu bewegen, tanzten engumschlungen und rührten sich kaum vom Fleck.

      “Was trinkst du?”, fragte jemand hinter ihr, und als sie sich umwandte, stand da ein junger Mann, der der Kellner zu sein schien, denn er hatte sich ein rotkariertes Geschirrtuch vor die Jeans gebunden.

      Laura lächelte ihn an. “Eine Cola bitte”, antwortete sie.

      Er zwinkerte und tippte sich an die Schläfe. "Kommt sofort."

      Die Cola war eiskalt und tat gut. Laura lehnte sich gegen die Holzverkleidung an der Wand und schaute den Tanzenden zu, und während sie hin und wieder an ihrem Glas nippte, stellte sie fest: Ob in einer Disco oder in einem Dorfkrug, junge Leute wollten Spaß. Sie waren ausgelassen und albern, oder verliebt und verträumt, wie überall. Laura amüsierte sich und fühlte sich wohl mitten unter ihnen.

      Irgendwann, - sie wußte nicht, wie lange sie sich schon im Saal aufgehalten hatte, - fühlte sie fremde Blicke auf sich gerichtet, und zwischen den tanzenden Paaren hindurch bemerkte sie auf der anderen Seite des Tanzbodens einen jungen Mann, der unverwandt zu ihr herüberschaute. Für Sekunden begegneten sich ihre Blicke. Er hatte blaue Augen, die von einem so strahlenden Dunkelblau waren, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Sie riß sich von diesem Blick los und widmete ihre Aufmerksamkeit einem jungen Paar, das sich wenige Schritte vor ihr an einem Tango versuchte und damit alle Umstehenden zum Lachen brachte. Doch ohne es zu wollen mußte sie immer wieder hinübersehen zu dem fremden jungen Mann. Obwohl sie versuchte, ihn zu ignorieren, wollte ihr das nicht gelingen. Unverwandt schaute er zu ihr herüber, und immer wieder ertappte sie sich dabei, daß sie seinen Blick erwiderte.

      Er trug Jeans und ein kariertes Hemd mit halb aufgerollten Ärmeln und offenstehendem Kragen. Sein Gesicht war ausgesprochen hübsch, mit weichen, sanften Zügen. Das Auffälligste an ihm war jedoch eine Fülle blonden Haares und dann diese unbeschreiblich blauen Augen. Er lächelte, und obwohl sein leicht geöffneter Mund sinnlich und verführerisch wirkte, schien er sich dieser Wirkung selbst gar nicht bewußt zu sein. Laura wußte nicht, ob sie sein Lächeln erwidern sollte, entschied sich dann aber, es nicht zu tun. Stattdessen wandte sie sich erneut den tanzenden Paaren zu.

      Doch so sehr sie sich auch bemühte, es half nichts: Die blauen Augen und das faszinierende Lächeln verfolgten sie und zogen sie immer wieder in ihren Bann. Unwillkürlich kam ihr der Vergleich mit einem Engel in den Sinn.

      'Der Engel mit dem goldenen Haar und den abgrundtief blauen Augen', dachte sie. Darüber mußte sie lächeln und wußte doch im gleichen Moment, daß der Fremde das als eine Antwort werten mußte.

      Mein Gott, sagte sie sich und schüttelte den Kopf über sich selbst, sie war doch nicht hergekommen, um mit der Dorfjugend zu flirten. Doch die Atmosphäre im Saal übte längst eine seltsame Wirkung auf sie aus, eine eigenartige Stimmung hatte sie erfaßt, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Musik und Rhytmus pulsierten in ihrem Inneren, die heiße schwirrende Luft nahm ihr fast den Atem. Ihr war, als träume sie... Und dann noch dieser Engel auf der anderen Seite. Ein Stich fuhr ihr in den Magen, als sie erneut zu ihm hinübersah, und ihr Herz begann heftig zu klopfen. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Was war denn nur los mit ihr? So etwas war ihr doch noch nie passiert. Und obwohl sie versuchte, sich dagegen zu wehren, obwohl sie wußte, daß es das Klügste wäre, sich jetzt einfach umzuwenden und zu gehen..., so wußte sie doch auch, daß es dazu bereits zu spät war. Sie verlor sich in diesem tiefen dunkelblauen Blick und alles, was sie denken konnte, war: 'Mein Gott, was macht er nur mit mir!'

      Sie sah, wie sich der Fremde einen Weg durch die tanzenden Paare bahnte und langsam auf sie zu kam, - ihr war nicht bewußt, daß sie ihm entgegenging. Sie trafen sich in der Mitte der Tanzfläche. Seine Arme umfingen sie behutsam und zogen sie an sich, und wie in Zeitlupe, ohne zu begreifen, was sie tat, legte sie die Arme um seinen Hals. Der Fremde und sie, sie tanzten

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