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Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
Читать онлайн.Название Traum oder wahres Leben
Год выпуска 0
isbn 9783738004960
Автор произведения Joachim R. Steudel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Auf dem großen Platz trainierten nun einige junge Mönche. Für mich sahen diese Übungen aus wie Kung Fu, denn mangels Erfahrungen fasste ich alle asiatischen Kampfsportarten unter diesem Begriff zusammen. Die feinen Unterschiede kannte ich noch nicht und in diesem Moment war mir auch nicht bewusst, dass es diesen Begriff an diesem Ort, zu dieser Zeit nicht gab.
Fasziniert schaute ich zu und bewunderte die Beweglichkeit und Schnelligkeit dieser Männer. Nach einiger Zeit löste sich mein junger Führer aus der Gruppe der Übenden und kam zu mir. Er bedeutete mir, dass ich mitmachen sollte. Ich wehrte ab und versuchte, ihm verständlich zu machen, dass ich nichts dergleichen beherrschte. Aber er wiederholte diese Aufforderung immer wieder und schließlich begriff ich, dass ich es von ihnen lernen sollte. Doch bevor wir uns dieser Herausforderung zuwandten, gab es noch eine andere Hürde zu überwinden. Da ich ihre und sie meine Sprache nicht verstanden, war die Verständigung sehr schwierig und der junge Mönch wurde einer meiner geduldigsten Sprachlehrer. Wir mussten oft lachen, wenn ich versuchte ihm nachzusprechen, etwas falsch betonte, oder ein Wort im falschen Zusammenhang verwendete.
Doch begonnen hatte das Ganze mit der gegenseitigen Vorstellung. Er deutete auf sich und nannte seinen Namen:
›Wang Lee!‹
Mit Gesten forderte er mich auf ihm nachzusprechen. Ich versuchte es, doch dabei kam etwas ganz anderes heraus. Dieser Name klang in der weichen, singenden chinesischen Aussprache ganz anders und meine an das harte Deutsch gewohnte Stimme hatte Probleme, das richtig wiederzugeben. Wang Lee konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken und ließ es mich mehrfach wiederholen, bis es einigermaßen nach ‚Wang Lee‘ klang. Er war dabei sehr fröhlich und motiviert, was sich wiederum auf mich übertrug. Nachdem ich es einigermaßen hinbekommen hatte, deutete er auf mich und seinen Gesten entnahm ich, dass er nun meinen Namen wissen wollte. Ich nannte ihm meinen vollen Namen und der Gesichtsausdruck, den ich erntete, war köstlich.
Als er versuchte es nachzusprechen, hatte ich genauso viel Grund zum Schmunzeln, wie er vorher bei mir. Nach einer Weile – seine Fortschritte waren schon recht beachtlich – erschien ihm ‚Günter Kaufmann‘ zum Ansprechen oder Rufen doch viel zu lang und mit einer resignierenden Geste deutete er auf mich und sagte:
›Gü Man!‹
Ich lachte kurz auf und nickte zustimmend. Es war mein erstes unbefangenes Lachen seit dem Tod meiner Familie und es war richtig befreiend. Wang Lee freute sich anscheinend sehr, dass ich mit seiner Namensgebung einverstanden war, und so begann mein Sprachunterricht in Chinesisch, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit fortgesetzt wurde. Er fand immer einen Weg, um einen Begriff oder eine Bezeichnung zu umschreiben und dennoch sollte eine lange Zeit vergehen, bevor ich einigermaßen verstand, was gesprochen wurde.
Nachdem wir uns nun vorgestellt hatten, versuchte er herauszufinden was ich für Voraussetzungen mitbrachte, um an ihrem Training teilnehmen zu können. Bald begriff er, dass ich keinerlei Grundkenntnisse hatte. Doch er war keiner, der sich gleich entmutigen ließ. Mit verschiedenen Übungen, die er mir vormachte und die ich dann unter seiner Beobachtung nachahmte, begann er auszuloten, was bei mir möglich war und wo er ansetzen konnte. Als er sich für einen Augenblick unbeobachtet glaubte sah ich, wie er einem der anderen anwesenden Mönche einen Blick zuwarf, der so viel bedeutete wie ‚Puuh, das wird ein hartes Stück Arbeit!‘
Es dämmerte bereits, als ein Gong ertönte. Die Mönche beendeten ihr Training und strebten dem Tempelbereich zu. Keiner sprach, alles lief ruhig und entspannt ab. Nur Wang Lee forderte mich mit einem Wink dazu auf ihnen zu folgen.
Als der Abt mit einem monotonen Sprechgesang begann, war der Haupttempel nicht einmal zu einem Drittel gefüllt und doch schienen alle, die sich zu diesem Zeitpunkt im Klosterbereich aufhielten, anwesend zu sein. Ich hatte mich in der Nähe des Eingangs niedergelassen und keiner schien weiter Notiz von mir zu nehmen. Da ich nicht wusste, was ich nun tun sollte, mit ihren Gebeten und Zeremonien aber auch nichts anfangen konnte, schloss ich die Augen und kam innerlich langsam zur Ruhe. Ich dachte über mein bisheriges Leben nach, über die letzten Ereignisse, über den Sinn des Ganzen und versuchte mir vorzustellen wie es nun weitergehen sollte.
Nach einiger Zeit, angeregt durch mein Umfeld, begann ich über den Glauben nachzudenken. Es hatte eine Zeit gegeben, als mein Glaube an Gott und die christliche Kirche zwar nicht felsenfest, aber bestimmend in meinem Leben gewesen war. Doch irgendwann hatte ich im Alltagsstress den Glauben vernachlässigt, hatte nur noch nebenbei daran gedacht und mir nie die Zeit genommen die innere Ruhe zu finden, die nötig ist, um mit Gott zu sprechen. Jetzt fand ich das erste Mal seit langer Zeit wieder die Ruhe, um darüber nachzudenken. Mir wurde bewusst, dass ich mich im Großen und Ganzen nach den Geboten gerichtet und gelebt hatte, wie es von einem Christen erwartet wurde, doch die Verbindung zu Gott war verloren gegangen.
Hatte Gott mit den letzten Ereignissen zu tun? Wie war ich hierhergekommen? Warum war ich hier? Wenn Gott etwas damit zu tun hatte, warum war ich dann an einem Ort, wo ein ganz anderer Glaube vorherrschte? Ist der Gott, an den ich glaube, auch der wahre Gott? Gibt es überhaupt einen Gott?
Fragen über Fragen und ich fand keine Antworten. Das innere Gleichgewicht, das ich gerade gefunden hatte, begann wieder zu schwinden. Ich wurde immer nervöser und wollte mich schon erheben, um den Tempel zu verlassen, als ich fühlte, dass mich jemand beobachtete. Ich öffnete die Augen und sah nach vorn zu dem leicht erhöhten Teil, auf dem die Buddhafigur stand, und ich sah direkt in die Augen des Abtes. Dieser Blick hatte etwas, das ich nicht beschreiben konnte und ich spürte, wie sich die Ruhe des Abtes auf mich übertrug. Langsam glätteten sich die Wogen meiner aufgewühlten Gedanken und Gefühle und mir wurde bewusst, dass es eigentlich egal war warum, wie oder durch wen ich hierhergekommen war. Es zählte nur, dass ich jetzt hier war und das Beste daraus machte. Als ich diese Erkenntnis gewonnen hatte, sah ich hoch und wieder in die Augen des Abtes. Dabei dachte ich: Danke, du hast mir sehr geholfen!
Im selben Moment erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Abtes und ich glaubte, ein leichtes Kopfneigen zu bemerken. Während der restlichen Andacht der Mönche dachte ich über mein bisheriges Leben nach und kam dabei zu dem Ergebnis, dass dieses eigentlich sehr oberflächlich gewesen war. Das ständige Streben nach Besitz, Sicherheit und Anerkennung hatte mich vieles nicht mehr erkennen und verstehen lassen. In diesem Moment