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kam, wurde man Rechtsbeistand eines Mannes wie Laschner — von dem phantastischen Glücksfalle, daß man einen Kunden wie Baron Goldstein bekam, gar nicht zu träumen. Die christliche Gesellschaft und eine christliche Klientel gehörten zum Unzugänglichsten in der Welt. Also was? Entweder sich dem Löfflerschen Kreise einfügen, dessen niederes Lebensideal teilen, die Interessen zweifelhafter Geldmenschen vertreten und zum Lohne für solche brave Aufführung nach so und so viel Jahren auch eine Kanzlei besitzen, mit dem Anspruch auf die Hand und Mitgift eines Mädchens, das nach vierzehntägiger Bekanntschaft den Erstbesten heiratet. Oder, wenn einem das alles zu ekelhaft war, die Einsamkeit und Armut.

      Er war in solchen Gedanken wieder vor dem Cafe Birkenreis angelangt. Was sollte er auch jetzt schon zu Hause in seinem engen, Stübchen anfangen? Es war zehn Uhr. Schlafen gehen? Ja, wenn es kein Erwachen mehr gäbe …

      Vor der Tür des Kaffeehauses wäre er beinahe über einen kleinen Körper gestolpert. Auf der Stufe des Einganges hockte ein Knabe, Friedrich erkannte ihn: es war derselbe Junge, den er vor wenigen Stunden beschenkt hatte.

      Barsch ließ er ihn an: »Was? Du bettelst da schon wieder?«

      Der Knabe erwiderte mit fröstelnder Stimme: »Ich wart’ auf mein’ Taten.« Dann stand er auf und hüpfte wieder und schlug die Arme übereinander, um sich zu erwärmen. Friedrich war so unglücklich, dass er für das frierende Kind kein Mitleid empfand.

      Er trat in den qualmigen Raum ein und setzte sich auf seinen gewohnten Platz am Lesetisch. Um diese Stunde war das Kaffeehaus schwach besucht. Nur in den Winkeln einige verspätete

      Spieler, die sich voneinander nicht trennen konnten und immer wieder die letzten Runden ankündigten, an die sich die allerletzten und unwiderruflich letzten sowie die »Schuft mein Name« letzten anschlössen.

      Eine Weile saß Friedrich und starrte vor sich hin, dann kam ein schwatzhafter Bekannter an den Tisch heran. Friedrich flüchtete sich hinter eine Zeitung Und tat, als ob er lese. Aber wie er in das Blatt hineinsah, fiel sein Blick zufällig wieder auf die Anzeige, von der Schiffmann vor einigen Stunden gesprochen hatte:

      »Gesucht wird ein gebildeter und verzweifelter junger Mann, der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen. Anträge unter N. 0. Body an die Expedition.«

      Wie sonderbar. Jetzt passte die Anrufung auf ihn. Ein letztes Experiment! Das Leben war ihm ohnehin verleidet. Bevor er es wegwarf wie sein armer Freund Heinrich, konnte er immerhin noch etwas damit unternehmen. Er ließ sich vom Kellner einen Kartenbrief geben und schrieb an N.0. Body diese wenigen Worte: »Ich bin Ihr Mann. Doktor Friedrich Löwenberg, IX. Hahngasse 67.«

      Während er den Brief zuklebte, kam von hinten jemand an ihn heran: »Zahnbürsteln, Hosenträger, Hemdknöpf’ gefällig?«

      Friedrich scheuchte den zudringlichen Hausierer mit einem barschen Wort weg. Der zog sich seufzend zurück, mit einem ängstlichen Blick nach dem Kellner, der ihn vielleicht hinausweisen würde. Da bereute Friedrich, dass er den armen Menschen eingeschüchtert hatte, rief ihn zurück und warf ihm ein Zwanzighellerstück in das Hausiererkistchen. Der Mann hielt ihm seinen Trödel hin: »Ich bin kein Bettler… Sie müssen etwas kaufen, sonst kann ich das Geld nicht behalten.«

      Um ihn loszuwerden, nahm Friedrich einen Hemdknopf aus dem Kästchen. Jetzt erst dankte der Mann und ging weg. Friedrich sah im gleichgültig nach, wie er zu dem Kellner trat und diesem das eben erhaltene Geldstück gab. Der Kellner holte aus einem Korb altgebackene Brote hervor und lieferte sie dem Hausierer aus, der sie hastig in seine Rocktasche stopfte.

      Friedrich erhob sich, um wegzugehen. Als er vor der Tür des Kaffeehauses stand, sah er den frierenden Jungen wieder, diesmal mit dem Hausierer, der ihm die harten Brötchen übergab. Das war also der Vater des Knaben.

      »Was macht Ihr da?« fragte Friedrich.

      »Ich geb ihm die Kipfeln, gnädiger Herr,« sagte der Hausierer; »daß er sie soll zu Haus tragen zu mein’ Weib. Es ist heut’ mei’ erste Losung.«

      »Ist das wahr?« forschte Friedrich.

      »So soll es nicht wahr sein, wie es wahr ist,« sagte der Mann stöhnend. »Überall werfen sie mich heraus, wenn ich handeln will. Wenn man ein Jud is, soll man lieber gleich in die Donau gehen.«

      Friedrich, der noch kurz vorher mit dem Leben abgeschlossen hatte, sah plötzlich eine Gelegenheit, sich zu betätigen, jemandem nützlich zu sein. Eine Ablenkung seiner Gedanken. Er steckte den Kartenbrief in einen Postkasten. Dann ging er mit den beiden weiter und ließ sich vom Hausierer erzählen.

      »Wir sind von Galizien hergekommen. In Krakau hab’ ich gewohnt in ein’ Zimmer mit noch drei Familien. Wir haben gelebt von der Luft. Hab’ ich mir gedacht, schlechter kann es nit mehr werden, und bin mit mei’ Weib und meine Kinder hergekommen. Hier is es nit schlechter, aber auch nit besser.«

      »Wieviel Kinder haben Sie?«

      Der Hausierer begann im Gehen zu schluchzen: »Fünfe hab’ ich gehabt, drei sind mir gestorben, seit wir hier sind. Jetzt hab’ ich nur den da und das kleine Mädel, was noch an der Brust is … David, lauf’ nit so schnell.«

      Der Knabe drehte sich um: »Die Mutter war so hungrig, wie ich ihr die drei Kreuzer von dem Herrn da gebracht hab’.«

      »So? Sie waren der gute Herr?« sagte der Hausierer und haschte nach Friedrichs Hand, um sie zu küssen.

      Friedrich zog die Hand rasch zurück: »Was fällt Ihnen denn ein? … Sag’ mein Junge, was hat deine Mutter mit den paar Kreuzern angefangen?«

      »Milch hat sie geholt für Mirjam,« sagte der kleine David.

      »Mirjam ist unser anderes Kind,« bemerkte der Hausierer erklärend.

      »Und die Mutter hungerte weiter?« fragte Friedrich erschüttert.

      »Ja, Herr,« erwiderte David.

      Friedrich hatte noch einige Gulden bei sich. Ob er die besaß oder nicht, war ziemlich gleichgültig, da er ohnehin mit dem Leben fertig war. Diesen Leuten konnte er die bitterste Not erleichtern, wenn auch nur für kurze Zeit.

      »Wo wohnt Ihr?« fragte er den Hausierer.

      »Auf der Brigittenauer Lände. Wir hab’n a Kabinett - aber es ist uns schon gekündigt.«

      »Gut, ich will mich überzeugen, ob das alles wahr ist. Ich gehe mit Ihnen nach Hause.«

      »Bitte!« sagte der Hausierer. »Sie wer’n ka Vergnüg’n hab’n, gnädiger Herr. Wir lieg’n am Stroh … Ich hab noch in andere Kaffeehäuser gehen wollen. Aber wenn Sie wünschen, geh’ ich zu Haus.«

      Sie gingen über die Augartenbrücke der Brigittenauer Lände zu. David, der jetzt neben seinem Vater einher schlich, fragte mit leiser Stimme: »Tate, darf ich ein Stückl Brot essen?«

      »Eß nur,« entgegnete der Alte. »Ich werd’ auch ein Stückl essen. Für die Mutter bleibt noch.«

      Und nun kauten Vater und Sohn hörbar an dem harten Gebäck, das sie aus ihren Taschen hervorgeholt hatten.

      Vor einem hohen, neugebauten Hause an der Lände blieben sie stehen. Das Haus atmete noch den feuchten frischen Baugeruch aus. Der Hausierer zog die Klingel. Alles blieb still. Nach einer Weile zog er wieder den Messingknopf und sagte: »Der Hausmeister weiß schon, wer da is. Da lasst er sich Zeit. Oft steh’ ich da a Stund! Er ist ein grober Mensch. Manchesmal trau’ ich mich gar nit her, wenn ich ihm keine fünf Kreuzer Sperrgeld geben kann.«

      »Was tun Sie dann?« fragte Friedrich.

      »Dann geh’ ich herum bis in der Früh, bis das Haustor offen is.«

      Friedrich ergriff nun selbst den Knopf und riss ein paar Mal heftig die Klingel. Jetzt wurde Geräusch hinter dem Tore vernehmbar. Schlurfende Schritte, Klirren von Schlüsseln, und durch die Ritzen drang ein Lichtschein. Das Tor ging auf. Der Hausmeister hielt ihnen die Laterne entgegen und schrie: »Wer reißt denn so an der Glocke? Was? Die Judenbagasch?«

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