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zu Grass‘ Darstellung von Alfred Matzeraths Charakter.

      Am nächsten Tag saß Rick erneut in Marie Hartmanns Wohnzimmer auf der großen Couch. Ihm gegenüber hatte Marie in ihrem großen Sessel Platz genommen. „Viel Zeit haben wir nicht mehr. In der übernächsten Sitzung müssen wir etwas Vernünftiges präsentieren“, stellte Rick fest. „Ganz der von seiner Gewissenhaftigkeit angetriebene Musterstudent. Ich dachte, wir könnten noch einmal ein wenig über dich plaudern.“ „Wie gesagt, über meine Persönlichkeit zu plaudern, das lohnt sich wirklich nicht. Enigmatisches ist dort nicht aufzudecken.“ „Ich würde mir lieber selbst ein Bild von deiner Persönlichkeit bilden, als das, was du mir sagst, für bare Münze zu nehmen.“

      Rick sah Marie lange an und sagte dann: „Gut. Reden wir nicht länger um den heißen Brei herum. Ich finde dich äußerst attraktiv und faszinierend. Vor allem deine dreiste Art erregt mich. Dein Gesicht ist wunderschön und, mit Verlaub, ich finde deinen Körper sehr knackig. Entschuldige bitte die derbe Ausdrucksweise. Die Begegnung mit dir stellt mich vor ein Dilemma: Ich weiß, dass du Männer gern ausprobierst und sie dann, wenn deine Neugierde gestillt oder der erste erotische Reiz verflogen ist, entsorgst. Für eine solche Beziehung möchte ich mich nicht hergeben. Darüber hinaus will ich Jennifers Vertrauen in mich nicht verraten. Ich will ihr nicht wehtun. Das ist der Stand der Dinge.“

      Marie schaute Rick lange an, bis sie sich schließlich äußerte: „Ich danke dir für deine freimütige Erklärung. Ich glaube an deiner Mimik erkennen zu können, dass du ganz aufrichtig bist. Jetzt bin ich an der Reihe. Ja, ich bin äußerst promiskuitiv und viele halten mich deshalb wohl für eine schamlose, zügellose Schlampe. Das ist das Los von Frauen, die für sich das Recht beanspruchen, das zu tun, was man seit Generationen Männern zubilligt. Vermutlich hängt meine Promiskuität jedoch auch damit zusammen, dass ich bis jetzt keinen Mann gefunden habe, den ich leidenschaftlich und innig liebte. Was ich jetzt sage, klingt schmalzig und wie aus einem Trivialroman, aber es stimmt. Ich beobachte dich seit Wochen heimlich, und ich wusste dabei, dass du aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von meiner Existenz ahntest. Liefen wir aneinander vorbei, schienst du mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Und dabei wollte ich sehr von dir beachtet werden. Zum Teil deshalb belegte ich Plusters Grass-Seminar, nachdem ich herausgefunden hatte, du hattest vor, daran teilzunehmen. Kurzum, ich habe das völlig irrationale Gefühl, dass du der bist, den ich seit langem suche. Klingt das nicht unausgegoren?“

      „Wenn es ehrlich gemeint ist, ganz und gar nicht. Manche Menschen haben ein sehr kompliziertes Gefühlsleben. Ich muss eingestehen, dass deine faszinierende Wirkung auf mich bei mir ähnliche Regungen hervorruft. Wat nu?“

      Marie schwieg einige Sekunden lang. Dann fragte sie: „Rick, würdest du einmal mit mir ins Bett gehen, ganz unverbindlich? Und dann sehen wir weiter. Wenn wir danach meinen, alles war ein Missverständnis, können wir gute Freunde bleiben. Einverstanden?“ „Dann muss ich Jennifer heute Abend belügen oder zumindest den Beischlaf verschweigen.“ „Beischlaf, wie wissenschaftlich und kalt das klingt. Können wir nicht zumindest von einem Liebesakt sprechen, auch wenn wir keineswegs sicher sind, dass Liebe daraus entstehen wird? Pass mal auf. Jennifer ist kein kleines schutzbedürftiges Kind, sondern eine erwachsene Frau. Sie wird wohl wissen, wie man mit den Unbilden des Lebens fertigwird.“

      Rick saß lange da und schaute Marie unverwandt an ohne ein Wort zu sagen. Dann sagte er: „Neben dem Sportfimmel habe ich eine Reinlichkeitsmacke. Könnte ich mich vorher frisch machen?“ „Natürlich. Ich schlag vor, dass wir zusammen duschen. Dann sind wir beide frisch.“

      So stand Marie auf, ging um den Kaffeetisch, ergriff Ricks linke Hand und führte ihn zu ihrem Badezimmer. Dort zog sie ihn aus. Danach zog er sie aus. Und beide schwiegen. Danach führte Marie Rick unter die Dusche, drehte das Wasser auf und wusch ihn. Danach wusch er sie. Und beiden schwiegen. Dann trocknete sie ihn ab und dann trocknete er sie ab. Und beide schwiegen. Danach nahm sie ihn an die Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer. Und beide schwiegen. Als sie sich liebten, schwiegen sie. Wenn es ging, schauten sie sich in die Augen. Und sie schwiegen, bis Marie lange schrie und Rick brüllte.

      Danach lag sie mit ihrem Kopf auf Ricks Bauch und er fühlte, wie etwas Nasses auf seine Haut floss. Als er hinunterblickte, sah er, dass Marie leise weinte. Er unterbrach die Stille: „Warum weinst du?“ „Ich wusste nicht, dass ich so viel dabei empfinden könnte. Es war so unglaublich schön, dass ich weinen muss.“ „Una furtiva lacrima?“ „Rick, mach dich bitte nicht über mich lustig.“ „Das tue ich keineswegs. Es geht mir ähnlich. Ich glaubte immer, dass Geschichten von Tristan und Isolde und Romeo und Julia Hirngespinste alternder Dichter seien, die versuchten, Liebeserlebnisse der Jugend zu verherrlichen. Und nun befürchte ich den Liebesschock meines Lebens erlitten zu haben. Marie, ich bin verloren.“ „Warum verloren, mein Rick?“ „Ich wollte nie von einer Frau emotional völlig abhängig werden, denn ich wusste, wie verletzlich ich bei meiner Seelenkonstitution werden könnte, sollte ich mit völliger Hingabe eine Frau lieben. Jetzt ist es geschehen und es ist um mich geschehen.“ „Und wenn wir beide einander mit gleicher Hingabe lieben?“ „Ich glaubte nie, dass so etwas möglich wäre.“ „Probieren wir es aus. Mehr als umbringen kann die Liebe voller Hingabe uns nicht.“

      „So soll es sein, aber ich kann nicht länger mit Jennifer zusammenwohnen. Ich muss ihr heute Abend reinen Wein einschenken und wieder in meine Eiskrembude einziehen, so schmerzhaft die Trennung werden mag. Bei meiner jetzigen Gefühlslage kann ich ihr nichts vorspielen. Das hat sie nicht verdient und meine Liebe zu dir lodert zu stark in meiner Seele, als dass ich mit einer anderen Frau zusammenleben könnte, auch wenn ich Jennifer sehr schätze und mag.“ „Rick, ich habe mir einmal heimlich deine Bude angeschaut. Die ist entsetzlich. Dorthin ziehst du auf gar keinen Fall zurück. Du ziehst zu mir. Ich will, dass alle Welt weiß, dass wir ein Paar sind und dass ich mit meinem ganzen Wesen dir gehöre.“

      „Marie, weißt du, was du da sagst? Das passt gar nicht zu der Marie, die du bisher gewesen bist.“ „Das ist mir egal. Wenn das herrliche Gefühl nicht andauert, dann trennen wir uns und wir sind um eine erschütternde Erfahrung reicher.“

      „Jetzt muss ich los. Ich lade die meisten meiner Habseligkeiten in meinen Käfer und fahre sie her. Dann kehre ich zurück zu Jennifers Wohnung und lade den Rest ein. Danach warte ich auf sie und erkläre ihr, was mir widerfahren ist.“ „Was uns widerfahren ist, Rick.“

      Rick hatte schon eine Ladung Bücher, Klamotten und Ordner zu Maries Wohnung transportiert, sie hineingebracht und in ein Gästezimmer gestellt. Er war zurück zu Jennifers Wohnung gefahren, hatte seine restlichen Habseligkeiten in seinen Käfer gepackt und wartete nun auf Jennifer. Als sie die Wohnung betrat, sah sie sich um und zu Rick, der neben dem Küchentisch stand. Dann sagte sie: „Es ist schon heute so weit, Rick?“ Sie schwieg einen Augenblick und fuhr fort: „Ich habe es kommen sehen und will dir den Abschied so leicht wie möglich machen, denn du warst immer sehr lieb und rücksichtsvoll zu mir. Mach dir keine Gedanken über die Trauer, die ich natürlich empfinden werde. Ich liebe dich so sehr, dass das Ende mir unsäglich wehtut. But you know, whoever is not resilient will perish. Ich werde aber nicht zugrunde gehen, Rick. Ich beklage mich nicht. Ich habe sehr von meiner Liebe zu dir und von der Zeit mit dir zusammen profitiert. Profitiert, ein scheußliches Wort in diesem Zusammenhang. Gehen wir einander ab jetzt bitte nicht aus dem Weg. Wir können weiterhin füreinander da sein. Geh jetzt und grüße Marie von mir.“ Rick fühlte die Tränen, die über seine Wangen liefen. Er ging auf Jennifer zu, küsste sie auf die Stirn, drehte sich um und verließ ihre Wohnung.

      Kapitel 4: Liebesglück und Zweifel

      Marie und Rick genossen den schönen Sommer in Boulder und in dem Vorgebirge. Sie feierten ihre Liebe, indem sie auf Wanderungen gingen, bei denen Rick einen Picknickkorb schleppen musste. Sie fanden auf ihren Wanderungen Stellen, von denen aus die Aussicht auf die weite Ebene herrlich war. Dort lagerten sie und picknickten. Dabei aßen sie von Maries kostbaren Porzellantellern und tranken Granatapfelsaft aus ihren Kristallgläsern. An manchen Abenden gingen sie ins Freilichttheater oder besuchten Veranstaltungen der Musikfakultät, für die Rick eine starke Vorliebe hatte. Vor allem genoss er Arien. Gelegentlich sahen sie Jennifer in der Ferne und Rick empfand jedes Mal einen

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