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Schon in meinem ersten Jahr hörte ich aufmerksam zu, wenn die Lehrerin die Klassen, die sie nach vorn gerufen hatte, unterrichtete. Dort saß man im kleinen vertraulichen Kreis und führte ein Unterrichtsgespräch. Ich machte mich oft sehr unbeliebt, wenn ich mich vom Plenum aus meldete, wenn die Großen etwas nicht wussten. Als ich einmal in meinem ersten Jahr an der Schule die Achtklässler beobachtete, hörte ich, wie die Lehrerin Joe Hanker fragte, wer der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sei. Ich erkannte an Joes glasigem Blick, dass die Frage ihn völlig überfordert hatte. Er rieb sich am Kopf und stöhnte, aber er konnte mit der Frage nichts anfangen. Das war mir völlig unbegreiflich. Ich vermutete – offenkundig zu Unrecht – dass jeder wisse, dass Harry S. Truman der Präsident sei. So meldete ich mich, was dann erlaubt war, wenn niemand in dem erlauchten Kreis da vorn eine Frage beantworten konnte, und verkündete das Offensichtliche. Meine Frechheit bescherte mir Prügel in der nächsten Pause.

       Ein Ereignis auf District 20 stellte für mich eine vernichtende, beschämende Niederlage dar: In einem Jahr musste für einige Tage meine geliebte Lehrerin Isabelle Schmidt, die den Schulbetrieb bestens im Griff hatte und die wirklich fundiertes Wissen vermitteln konnte, vertreten werden. Warum sie vertreten werden musste, weiß ich bis heute nicht. Die Vertretung hieß Frau Zatel, die in Plumcreek wohnte. Sie war völlig überfordert und es herrschte Chaos in der Schule. An einem Nachmittag war ich daran, einen Text vorzulesen, in dem das Wort „potato“ vorkam. Ich sprach das Wort absichtlich falsch aus und sagte nicht „potäto“, sondern „potato“ und fand das ungeheuer komisch. Sie verbot mir nachdrücklich das Wort wieder falsch auszusprechen. Darauf schrie ich unter hysterischem Gelächter „potato, potato, potato“. Die Frau war offenkundig mit ihren Nerven am Ende. Sie ergriff mich, zerrte mich in den „Cloakroom“, in den Raum, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Mäntel hinhängten und ihre „Lunchbuckets“, ihre großen Mittagessensbehälter, aufbewahrten, und dort fing sie an, mir auf den Po zu dreschen, und setzte ihre Tätigkeit eine ganze Weile fort, bis sie ihre aufgestaute Frustration zumindest zum Teil abgelassen hatte. Leider hatte ich, als ihre Strafaktion begann, eine volle Blase, und während sie auf mich eindrosch, entleerte ich dieselbe, was für mich unendlich beschämend war. Als sie mich schließlich losließ, rannte ich aus dem Raum und aus der Schule zu dem Jungenplumpsklo auf dem Schulgelände und begutachtete auf meiner Hose die nassen, dunklen Spuren meiner Schmach.

       Da die Unterrichtszeit noch nicht zu Ende war, musste ich zurück in den großen Schulraum. Ich eilte zu meinem Platz und schlug die Augen nieder, wohl wissend, dass alle auf mich blickten, tuschelten und hämisch grinsten

       Als die Unterrichtszeit vorbei war, verließ ich die Schule ohne die anderen anzuschauen und lief zu der Straße, die durch die Hügellandschaft nach Hause führte. Allerdings kam ich nicht weit, denn mein Vater und Grandpa, der Vater meiner Mutter, kamen in dem Pickup herangefahren um mich abzuholen. Ich rief ihnen zu, ich wolle hinten auf der Ladefläche fahren, was ich öfter zu tun pflegte. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie den dunklen Fleck auf meiner Hose sehen sollten.

       Zu Hause angekommen, lief ich sofort ins Haus, damit die beiden mich nicht genau in Augenschein nehmen konnten, und stolperte, als ich die Haustür aufriss, meiner Mutter in die Arme. Da brach es aus mir heraus und ich erzählte ihr unter Tränen, was mir am Nachmittag in der Schule widerfahren sei. Sie rief meinen Vater herbei, der Vorsitzender des Schulelternrats war, und er ging schnurstracks zum Telefon und rief Isabelle Schmidt an und machte ihr klar, dass die Vertretungszeit vorbei sei. Dann stiegen er, meine Mutter und ich ins Auto und wir fuhren zurück zur Schule.

       Während der heftigen Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und der Vertretungslehrerin stand ich am Fuß der Treppe, die in die Hauptetage hinaufführte. Meine Eltern und die Lehrerin standen vor der Tür zu dem einzigen Klassenzimmer der Schule. Ich bekam wenig von dem Gespräch mit. Mein Vater muss der Lehrerin schonungslos mitgeteilt haben, dass sie fristlos entlassen sei.

       Ein Ereignis, das jedes Jahr im Spätfrühling wiederkehrte, war Rural Field Day. An diesem Tag versammelten sich alle Schülerinnen und Schüler der kleinen Landschulen auf dem Gelände der Schule in Plumcreek. Da veranstaltete man Sportwettbewerbe, wie zum Beispiel Weitsprung, Laufen und Ballweitwurf. War man nicht gerade bei einem Wettbewerb beschäftigt, prügelte man sich mit irgendeinem Schüler von einer Nachbarschule. Jedes Jahr gewann ich den Lauf- und den Weitsprungwettbewerb in meiner Altersgruppe.

       Am Ende des Vormittags gab es ein Essen in der Turnhalle der Schule. Alle Schülerinnen und Schüler brachten Gerichte mit und diese wurden auf Tische gestellt. Alle hatten Pappteller und Plastikbesteck mit und nahmen sich etwas zu essen. Nach der Mahlzeit kehrte man zu der jeweiligen Landschule zurück. Meistens beförderte mein Vater in seinem Pickup einige Schüler und die jeweilige Lehrerin transportierte die restlichen in ihrem Auto.

      Nach der belebenden Lektüre des Auszugs stand Richard vor der schwierigen Aufgabe, zu schildern, wie er seine erste Frau kennen gelernt hatte, wie ihre Ehe zustande kam und warum sie scheiterte. Wie konnte er die Begebenheiten einigermaßen aufrichtig darstellen, ohne seine Kinder zu schockieren? Immerhin wussten sie schon in groben Zügen von seinen Erlebnissen in der Universitätsstadt am Fuße der Rocky Mountains. Er musste nachdenken. Er musste die Ereignisse Revue passieren lassen.

      Kapitel 2: Jennifer – Boulder im Juni 1967

      Richard betrat die Wohnung seiner Freundin. Schon zwei Monate zuvor hatte sie ihm einen Schlüssel zu ihrer kleinen Wohnung regelrecht aufgedrängt. Die Wohnung befand sich im Keller eines großen Hauses, das in viele Wohnungen aufgeteilt und nun von Studenten bewohnt war. Das Haus stand an einer stark befahrenen Straße in der Nähe des Universitätsgeländes in der rasant wachsenden Stadt am Fuße der Rocky Mountains. Richards eigene Wohnung war ein baufälliger ehemaliger Eiscremeverkaufsstand, der Jahre zuvor zu einer winzigen Studentenwohnung umgebaut worden war. Die Bude sollte der Bauwut, die das sehr schnell wachsende Städtchen ergriffen hatte, bald zum Opfer fallen, denn sie stand auf einem Gelände, auf dem der Bau eines neuen Einkaufszentrums geplant war. Richard verbrachte kaum noch Zeit in der Bude, denn die Wohnung seiner Freundin Jennifer lag ganz in der Nähe der Universität auf dem sogenannten Hügel.

      Außerdem konnte er von Jennifers Wohnung aus mit seinem Rennrad schnell einen Sportplatz mit einer Laufbahn erreichen, auf der er seine Runden drehen konnte. Oder er konnte bei schlechter Witterung die kurze Laufbahn in dem „Field House“ benutzen. Darüber hinaus konnte er meistens in der Nähe der Wohnung einen Parkplatz für seinen alten VW-Käfer finden. Aber er fuhr nur sehr selten Auto. Er lief meistens zu Fuß oder war mit dem Fahrrad unterwegs.

      Das kurze Sommersemester hatte gerade angefangen. An diesem späten Nachmittag wollte Rick, wie üblich, Jennifer ein schönes Abendessen zubereiten. Er hatte eine Art Parmesana geplant, selbstverständlich fleischlos, denn Jennifer war rabiate Vegetarierin. Jennifer stammte aus Hannover. Ihre Mutter, eine Amerikanerin, hatte vor Jahren einen deutschen Geschäftsmann geheiratet und war mit ihm nach Hannover gezogen. Sie hatte ihre kleine Tochter Jennifer aus erster Ehe selbstverständlich mitgenommen und die Tochter war in Hannover zweisprachig aufgewachsen. Nach dem Abitur war Jennifer nach Boulder gezogen um dort zu studieren. Nach ihrem BA-Grad studierte sie als Graduate-Studentin Komparatistik.

      Als Rick die Auflaufform in den Ofen geschoben hatte, hörte er Jennifer die Kellertreppe herunterkommen. Bald stieß sie die Wohnungstür nach innen auf und trat, mit einem Rucksack und einer Tragetasche schwer bepackt, in die Wohnung ein. Sie schleppte immer viele Bücher und Hefte mit sich herum, damit sie zwischen ihren Veranstaltungen nicht nach Hause zu kommen brauchte. Sie stellte die Tasche auf ihren kleinen Schreibtisch und den Rucksack daneben. Dann eilte sie auf Rick zu, umarmte ihn und küsste ihn auf die Lippen.

      Der Kuss dauerte länger und Jennifer fragte: „Wie lange müssen wir warten, bis das Essen im Offen fertig geworden ist? Hätten wir Zeit für erotische Spielchen?“ „Das wäre eine reizvolle, aber gefährliche Idee. So wie ich mich kenne, würden die Spielchen so lange dauern, bis das Essen völlig verkohlt wäre. Vielleicht können wir die Spielchen als lustvolle Nachspeise betrachten. Dann werden wir nicht unter Termindruck stehen.“ „Einverstanden!“,

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