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als würde sie sich selbst beobachten. Sie empfand diese Szene wie ein Videoband, das in der Endlosschleife lief. Schließlich holte Ellen tief Luft, lief zu der schluchzenden Frau hinüber und legte tröstend den Arm um sie. „Metastasiert?“, fragte sie nach einem Moment der Anteilnahme.

      „Weiß man noch nicht. Aber das mit dem Kind kann ich mir jetzt abschminken“. Ellen reichte ihr ein Taschentuch. Gestern hatte sie sie noch auf ihr eigenes Alter geschätzt, aber wenn sie von Kindern redete, konnte sie doch noch nicht so alt sein.

      „Sie denken jetzt bestimmt, dass ich doch schon viel zu alt für Kinder bin.“ Ellen antwortete nicht und die Frau fuhr fort: „Mein Mann und ich haben uns erst vor zwei Jahren kennengelernt. Wir haben beide eine Ehe hinter uns und beide erwachsene Kinder. Wir wollten gemeinsam noch einmal von vorne anfangen und ein gemeinsames Kind haben. Als es nicht klappte, ging ich zum Arzt und dachte, dass es bestimmt damit zu tun hat, dass ich 44 bin. Der hat dann Krebs festgestellt.“ Sie schnäuzte sich ausgiebig und Ellen war einmal mehr darüber verwundert, wie offen manche Leute wurden, wenn sie verzweifelt waren. Sie kannten sich doch gar nicht und doch erzählte sie ihr ihre privatesten Dinge.

      „Nun bin ich hier und muss mit meiner angeschlagenen Psyche diese Frau da ertragen. Ständig singt sie und wie sie über Krebs und übers Sterben redet… Einfach geschmacklos. Ich habe ja schon nach einem anderen Zimmer gefragt, aber die Schwester sagt, es wird erst morgen eins frei.“

      „Ja, das kenne ich alles“, sagte Ellen und lächelte verständnisvoll. „Ich bin gestern entlassen worden, nachdem ich einen Tag und eine Nacht mit Josephine in diesem Zimmer verbringen musste. Mir ging es genauso wie Ihnen. Ich wollte mit meinem Schmerz alleine sein, wollte mich in Selbstmitleid flüchten und Josephine gab mir dazu keine Gelegenheit. Ihre Art, über das Leben, den Tod und den Krebs zu sprechen, ist tatsächlich etwas seltsam, aber ich muss sagen, sie gibt mir irgendwie Mut. Deshalb bin ich zurückgekommen.“

      „Na, dann. Ich kann damit nichts anfangen“, antwortete die Frau verständnislos, holte ihr Smartphone aus dem Nachttisch, begann darauf herumzutippen und gab Ellen deutlich zu verstehen, dass dieses Gespräch für sie beendet war.

      Als Ellen gerade gehen wollte, öffnete sich die Tür aufs Neue und Josephine, von einer Schwester begleitet, betrat das Zimmer. Sie sah etwas besser aus, als gestern.

      „Schau mal einer an“, rief Josephine, sichtlich erfreut, Ellen zu sehen. „Du hast einen weiteren Rekord gebrochen: Du bist nicht nur die erste, die freiwillig bei mir im Zimmer geblieben ist, du bist auch die erste, die zurückkommt, um mich zu besuchen.“

      „Hallo Josephine“, sagte Ellen und umarmte sie herzlich. Die Schwester, die Ellen auch kannte, schaute etwas verwirrt, verließ aber kurz darauf wieder das Zimmer, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass bei ihren beiden Patientinnen alles in Ordnung sei.

      „Ich habe dir was mitgebracht“, sagte Ellen und deutete auf die Portflasche auf dem Nachttisch.

      „Bist du verrückt? Den hättest du doch in eine Saftflasche umfüllen müssen. Wenn das die Schwestern sehen, krieg ich Ärger“, zischte Josephine.

      „Man muss zu seinen Lastern stehen. Und darf man denn im Krankenhaus keinen Schlaftrunk nehmen?“ „Andere Patienten vielleicht. Aber mir kommen sie dann immer mit ‚in ihrem Zustand ist das nicht zu empfehlen, Frau Althoff‘. Ich denke mir dann immer: Was soll’s? Was kann schon passieren? Mehr als….“

      „…sterben kann ich nicht“, ergänzte Ellen.

      „So ist es“, bestätigte Josephine und goss sich gleich einen guten Schluck des Ports in ihr Glas.

      Die Frau im Nebenbett tippte wild auf ihrem Smartphone herum und blickte immer wieder genervt zu den beiden hinüber.

      „Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“ fragte Ellen, die sah, dass die andere Patientin gerne ihre Ruhe haben wollte.

      „Ja, gerne. Aber zuerst füllen wir das Zeug hier in meine Saftflasche und die nehmen wir dann mit“, antwortete Josephine mit einem Zwinkern.

      Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster in der Cafeteria. „Warum bist du eigentlich schon wieder hier?“ wollte Josephine wissen. „Du bist doch gestern erst entlassen worden.“

      „Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen. Ich habe die ganze Nacht über Chemos und Brustkrebs recherchiert. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“ „Und dann kommst du zu mir? Ich sagte dir doch bereits, was ich tun würde, beziehungsweise was ich nicht tun würde, aber das wolltest du nicht hören.“

      „Ich bin total durcheinander. In vier Tagen soll es losgehen und nun bin ich hin- und hergerissen. Die Nebenwirkungen scheinen heftig zu sein. Auf der anderen Seite hänge ich am Leben, es war mir bisher gar nicht bewusst, wie sehr.“

      „Das ist ganz natürlich. Jeder Mensch hat einen natürlichen Überlebenstrieb“, antwortet Josephine. „Wäre ja komisch, wenn du sagen würdest: Ich nehm die sechs Monate und kratz dann ab.“

      „Aber gestern hattest du doch gesagt, dass…“

      „Ich habe gesagt, ich würde dir zu den sechs Monaten ohne Chemo raten, weil ich die Nebenwirkungen kenne und weiß, wie man sich fühlt. Es gibt Tage, da sehnst du dir den Tod herbei, weil es dir so beschissen geht. Du liegst da wie ein Häufchen Elend, dir ist schlecht, du musst dich am laufenden Band übergeben, deine Finger und Zehen fühlen sich taub und kalt an, du siehst beschissen aus, weil deine Haare ausgefallen sind und alles, was du isst, schmeckt nach überhaupt nichts mehr. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, gut zu essen und zu trinken. Wenn du nichts mehr schmeckst, und keinen Appetit mehr hast, hat es meiner Meinung nach keinen Wert, wenn du ein paar Monate länger lebst. Nicht bei so einer Diagnose. Wenn es Chancen auf Heilung gäbe, sähe die Sache wieder anders aus.“ Josephine wartete auf Ellens Reaktion. Als keine kam, fuhr sie fort: „ Aber ich kann auch verstehen, wenn man denkt: Ich versuch’s. Vielleicht werde ich geheilt. Vielleicht gibt es gerade für mich eine Chance. Vielleicht bin ich der Wunderpatient, von dem die Medien berichten werden. Ich selber würde es nur nicht mehr machen. Das ist alles.“

      Ellen schwieg. Ihre Gedanken spielten verrückt. Sie war gekommen, um einen konkreten Rat von Josephine zu bekommen, eigentlich wäre ihr noch lieber gewesen, wenn sie gesagt hätte: „Nein, das machst du nicht.“ Nun wusste sie immer noch nicht, was sie tun sollte.

      „Hier, trink erst mal ein Schluck von diesem leckeren Saft“, grinste Josephine, und machte Ellens Glas halbvoll. Als Ellen immer noch nichts erwiderte, rief Josephine schließlich: „Kindchen, das ist alleine deine Entscheidung. Du musst damit leben können. Wie auch immer du dich entscheidest. Natürlich besteht jederzeit die Möglichkeit, die Chemo abzubrechen, wenn du nicht mehr kannst. Die Ärzte werden aber von dir erwarten, dass du sie durchziehst. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie nur den Tod als Grund für einen Abbruch akzeptieren würden und auch das nur sehr widerwillig.“ Sie kicherte vor sich hin. Ellen nahm einen kräftigen Schluck Port und sagte dann: „Danke. Ich glaube, du hast mir geholfen. Ich denke, ich habe mich entschieden.“ Josephine fragte nicht nach, für welche Variante und Ellen sagte es auch nicht. Diese Frau war schon eine seltsame Nummer, dachte sie, aber trotzdem ging es ihr nach diesem Gespräch wesentlich besser.

      „Weißt du schon, wann du wieder nach Hause darfst?“ wollte Ellen wissen.

      „Na, das wird schon noch ein paar Tage dauern. Ich bin ja erst gestern operiert worden“, meinte Josephine.

      „Ich werde dich besuchen. Auch wenn du zu Hause bist“, versprach Ellen mit einem Lächeln.

      „Das würde mich freuen, denn außer Port trinke ich auch gerne Champagner und Rotwein und alleine macht das nur halb so viel Spaß“, erwiderte Josephine mit einem verschmitzten Lächeln und goss sich noch etwas Port nach. „Ach ja, und das mit dem guten Essen hatte ich ja auch erwähnt, nicht wahr?“

      7

      Dienstag.

      Ellens Chemotherapie sollte beginnen. Die vergangen Tage hatte Ellen Josephine täglich im Krankenhaus besucht. Die Mitpatientin von Josephine musste nicht das Zimmer wechseln.

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