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du bist ein bisschen zu alt dafür? Du benimmst dich wie ein kleines Kind“, tadelte sie sein überschwängliches Benehmen.

      „Ich bin auch nur ein Mensch!“, wies der Glückspilz sie zurecht. „Selbst Männer weinen manchmal. Es ist doch alles außergewöhnlich.“

      Bald fand der Lottogewinner aber in seine Beamtenhaltung zurück. Er winkte mir zu und ging schnurstracks zu einem alten Schrank im Wohnzimmer vor. Dort öffnete er mit einem Schlüssel eine große Schublade.

      „Das ist unser Heiligtum!“, verkündete er.

      „Erzähl keine Märchen!“, beschied Bellas Mutter ihn. „Wir bewahren darin nur unsere Bilderalben auf …“

      „Und die Post unserer Verwandten!“, unterbrach der Gatte ihren Einwand und holte eine uralte Karte hervor. „Man sollte zu seinen Wurzeln stehen.“

      Ich trat hinzu. In dem Schubfach lagen drei ordentlich übereinander gestapelte Alben, daneben zwei offene Kartons und ein verschlossener. In den offenen Kistchen entdeckte ich mit einem Bindfaden zusammengehaltene Bündel von Briefen. Bellas Vater hob den Deckel von dem dritten. Mehrere mit Banderolen umwickelte Packen neuen Geldes waren darin. Der Vater nahm den gesamten Karton heraus.

      „Die Hälfte des Gewinns gehört natürlich dir! Das hier ist ein symbolischer Vorschuss! Auf den Rest muss ich noch ein paar Tage warten.“

      Die Mutter und auch Bella nickten gewichtig. Das Teilen des hohen Gewinnes stand offenbar für alle fest und war im großen Familienrat beschlossen worden.

      Ich freute mich sehr, dass es so schnell und vor allem noch rechtzeitig geklappt hatte. Zwar war die Wahrscheinlichkeit für die errechnete Zahlenreihe groß gewesen, doch es gab immer kleine Unwägbarkeiten, die vielleicht nur zu einem Sechser ohne Zusatzzahl geführt hätten. Auch die gesamte Theorie konnte auf fehlerhaften Annahmen beruhen. Ich hatte mich sehr angestrengt, damit Bella meine Nachbarin blieb – und hoffentlich noch viel mehr für mich wurde.

      Mein Plan schien aufgegangen zu sein. Bella sah mich mit liebevollen Augen an, ich war erneut ihr Retter. Mein Blut rauschte schneller, das wild klopfende Herz drohte meine Brust zu sprengen und die Rippen zu zerstören. Vorsichtig schielte ich nach unten, ob man das sehen konnte. Da war nichts Ungewöhnliches. Beruhigt blickte ich wieder hoch.

      Allerdings plagten mich nun andere Zwistigkeiten. Entschieden trat ich von den Geldscheinen zurück.

      „Nein, das geht nicht“, lehnte ich ab. „Sie brauchen das Geld viel dringender. Ich bin nur ein Schüler und habe weder Schulden noch eine Familie zu unterhalten.“

      Meine Bescheidenheit machte die drei sprachlos. Eine eigenartige Stille breitete sich aus. War es vielleicht unhöflich gewesen?

      „Aber dann stehen wir für immer in deiner Schuld!“, stammelte der Vater. „Und vielleicht kommen einmal Zeiten, da werden du oder deine Enkel sie einfordern und wir werden sie zu dem Zeitpunkt aus irgendeinem Grund nicht begleichen können.“

      „Mir reicht es vollkommen, wenn Sie mich alle als Freund der Familie betrachten“, beschwichtigte ich ihn. Das war so ein Satz aus irgendeinem der Bücher, die ich gelesen hatte, um mich über die Bewohner dieser Welt zu informieren. Durch mein besonderes Gedächtnis hatte ich Zugriff auf eine Vielzahl passender Redewendungen. Leider wirkten diese für die heutigen Menschen zuweilen etwas gekünstelt. Ich musste da Maß halten.

      Obwohl, vielleicht sollte ich etwas anderes fordern. Die hiesigen Schriftsteller hatten mehrere Märchen geschrieben, in denen ein Held als Belohnung für seine Ruhmestat um die Hand einer Königstochter anhielt. War meine Tat großartig genug, um Bella als meine Frau zu wünschen?

      Schleunigst verwarf ich diesen Gedanken. Die Zeiten hatten sich leider verändert. Es wäre auch zu einfach gewesen. Bellas Gesicht wirkte schon jetzt steif, als dächte sie über die tiefere Bedeutung und die Konsequenzen meiner Worte nach. Und ihre Mutter schloss sich ihrem Blick an. Da sollte ich nicht noch kräftiger auftragen, wie man hierzulande sagte.

      Der Vater griff sich von irgendwoher Gläser, die er mir und seiner Frau in die Hand drückte. Es waren alte geschliffene Kristallstücke. Sie funkelten. Prickelnder Sekt ergoss sich in diese.

      „Freund!“ Der Hausherr versuchte der Formulierung eine besondere Bedeutung zu verleihen, indem er jedem Mitglied seiner Familie lächelnd zuprostete.

      „Freund!“, stimmte die Mutter zu und ließ ihr Glas an meines klingen.

      „Freund der Familie!“ Bella stieß ebenfalls an.

      Auch ich trank auf die Freundschaft, durchdachte jedoch den von Bella hinzugefügten Anhang: Freund der Familie. Die Kurzform wäre mir lieber gewesen. Vielleicht interpretierte ich zu viel hinein. Intelligenz erschafft so manches Problem, welches Dummköpfe nicht haben.

      Andererseits wirkte meine Angebetete genauso offen wie bei meinem letzten Besuch. Wahrscheinlich hatte ich mir nur eingebildet, dass sie mir aus dem Weg ging.

      Gemeinsam setzten wir uns an den gedeckten Tisch. Eine weiße Decke veredelte ihn und Kaffeegeschirr aus vergoldetem Porzellan versuchte uns zu entzücken. Mehrere Kuchen und Torten schimmerten in der Mitte des kleinen Kreises. Wir konnten diese niemals allein essen. Die Familie hatte gehörig übertrieben.

      Raven, der schwarze Kater, der sich zu Halloween in Ravenhort verwandelt hatte, sprang währenddessen von einem Sessel auf das nebenstehende Sideboard. Dabei warf er den Bilderrahmen um, welcher dort stand. Dieser umschloss jenes Foto, das mir beim letzten Besuch auf den Boden gefallen war. Der Kater stierte mich fast schon menschlich an und maunzte unentwegt, als wollte er mich auf etwas hinweisen. Verstand Ravenhort uns auch in seiner Katzengestalt?

      Seufzend erhob sich Bellas Mutter. Sie stippte Raven zur Seite und richtete den Rahmen wieder auf. Interessiert fixierte ich das alte Foto, das Bellas Urgroßtante Gaya zeigte.

      Eine merkwürdige Erinnerung wollte sich in mir hocharbeiten. Schweiß brach auf meiner Stirn aus. Mein Kopf schwitzte dermaßen, dass ein Tropfen meinen Nacken herunter rann. Warum bewegte der Anblick mich so sehr? Ich tat äußerlich, als wäre alles ganz normal und rührte mich nicht. Einzig Bella analysierte mein paralysiertes Gesicht.

      „Das ist meine uralte Großtante in jungen Jahren. War sie nicht schön? Na du weißt ja von ihr. Soweit wir wissen, lebt Großtante Gaya noch immer“, plauderte ihre Mutter. „Dabei ist sie weit über hundert Jahre alt!“

      „Zweimal wurde sie bereits begraben und ist angeblich jedes Mal von den Toten zurückgekommen! Beim letzten Mal waren wir sogar dort“, mischte sich der Vater ein und lachte schallend. „Indianische Mythen eben. Diese kennen viele Geschichten über Geister und Dämonen, Flüche, Werwölfe, Vampire und Hexen. Bellas Urgroßtante wartet angeblich noch immer auf ihren Liebsten und will deswegen nicht sterben.“

      „Ach je, was für eine große Liebe muss das gewesen sein!“, schwärmte Bellas Mutter und faltete andächtig die Hände. „In ihrer Jugend sollen alle sie für ihre Schönheit bewundert haben. Wie doch die Zeit vergeht …“

      Ich lauschte noch interessierter. Stand diese Urtante in irgendeiner Beziehung zu mir und dem, was ich jetzt erlebte? Nach den Erlebnissen in der Halloweennacht war ich offen für Déjà-vus und Zufälle aller Art. Überdies wusste ich nach wie vor nicht, woher ich nun wirklich kam.

      „Es heißt, sie warte noch immer auf ihren Verlobten“, erzählte die Mutter verzückt weiter. „Leider ist er seit ihrer Jugend verschwunden. Die Ärmste …“

      Bella drehte nervös an ihrem alten Ring.

      „Der Ring, den Bella trägt, soll ein Geschenk von ihm sein!“

      „Das wusste ich gar nicht!“ Bella schaute das Stück erstaunt an. „Wieso juckt mich das Ding immer? Ich werde ihn zurückgeben! Es war ohnehin ein Versehen, dass ich ihn mitgenommen habe.“

      „Vielleicht hat er magische Kräfte und will zur Großtante zurück. Man weiß das nie bei unserer Großtante. Manche sagen ja, sie hätte Zauberkräfte. Ich dachte ja, sie wäre tot, als ich ihn dir gab“,

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