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Sie sie engmaschig, ich komme morgen wieder und wir schauen, wie es ihr dann geht. Und sie darf Besuch bekommen.“

      Ich mache eine Bestandsaufnahme: Ich kann hier nicht weg. Es gibt nichts, was ich sehen, hören oder sagen will. Es gibt nichts, was ich tun kann, nicht einmal sterben. Aber ich kann mich wenigstens tot stellen. Thanatose ist die Selbstverteidigung der Ringelnatter. Ich schwimme in einem kleinen See, und neben mir schwimmt die Schlange mit der gelben Krone.

      Thanatose. Ich stelle mich tot. Akinese. Ich bewege mich einfach nicht mehr, weil sich bewegen weh tut und die Menschen nur dazu verleitet, mit mir kommunizieren zu wollen. Ich schließe eine Wette mit mir selbst ab, darüber, wie lange ich das durchhalte.

      Wenn ich die Augen nur einen Spalt weit öffne, sehe ich einen dunklen Fleck an der Zimmerdecke. Er hat die Form eines unförmigen, massigen Wesens. Hallo Kettenmann. Fast vierzig Jahre lang warst du weg. Ich muss mich fürs erste wohl wieder an dich gewöhnen.

      Es gibt einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem alles gut ist. In Ermanglung von Alternativen trainiere ich ab sofort, diesen Zustand zu halten, so lange es geht. Andere nennen es vielleicht Wegtreten, ich nenne es Meditation. Oder Tagträumen. Ich träume mich weg, woanders hin, auch wenn das Weggehen bisher nie so wirklich geholfen hat. Ich denke einfach an meinen Indien-Urlaub. Nicht wegen Indien, sondern wegen Tulio. Der war vielleicht das einzig Gute in Indien, auch wenn ich mir nicht viel davon erlaubt habe.

      Ich bin ein Klischee, der Urlaub war es auch. Viele Jahre wollte ich nicht nach Indien fahren, weil es das Indien, das ich sehen will, nicht mehr gibt. George Harrisson ist tot. Rishikesh ist voller Bettler, die sich entweder als Bettler oder als Sadhus verkleiden. Bei den als Bettler verkleideten kann man sehen, dass sich die Familien viel Mühe gegeben haben, ihre Kinder auf den Beruf vorzubereiten. Wahrscheinlich haben sie ihnen die Beine gebrochen. Oder ein paar Jahre lang eingebunden, so dass sie ganz verbogen weiter gewachsen sind. Bei anderen ist ein Teil des Unterschenkels so dünn, als hätte man sie in den ersten Jahren in ein Stahlrohr gesteckt, damit gar nichts weiter wachsen kann. Und dann sitzen diese Leute da an der engsten Stelle des Weges und zupfen an deiner indischen Pluderhose und du stehst davor und kannst nichts richtig machen. Wegschauen fühlt sich mies an und Geld geben auch, denn damit bedient man ja ein Geschäftsmodell, das man nicht wirklich unterstützen kann.

      Bei den als Sadhus verkleideten Bettlern denke ich, dass es für alle passt: Die Touristen haben das Gefühl, einen echten indischen Heiligen zu sehen. Manche haben vielleicht einfach nur Angst davor einen echten indischen Heiligen nicht zu erkennen und geben deshalb prinzipiell jedem Geld, der da so am Straßenrand hockt, zur Sicherheit. In jedem Fall verdienen die Sadhus genug. Sie tun auch was dafür, sehen sehr folkloristisch aus und achten auf ihr schmuddeliges Äußeres, penibel verschmierte Aschemuster auf der Stirn und lange wirre Haare, damit sie authentisch wirken.

      Indien ist ein heruntergekommener, zugemüllter Abklatsch von allem, was man sich in seinen Träumen und Alpträumen ausmalen kann. Alles, was ich gut finde, findet woanders statt. An anderen Orten. Zu anderen Zeiten. You live now sagen die amerikanischen Self Improvement Prediger. Aber now is shit. Was hilft es in der Gegenwart zu leben, wenn sie mir vorkommt wie ein alter Kaugummi, den jemand unter eine Schulbank geklebt hat? This is the Law of Attraction sagen sie. Ich kenne nur ein Gesetz, das ständig wirkt. Das Gesetz der Schwerkraft. Und das besagt, dass du dich nicht an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen kannst. Ist leider physikalisch unmöglich.

      Anziehung hin oder her. The Law of Attraction ist was für Leute, die Telecommerce Sender schauen und sich was verkaufen lassen, nur weil jemand sagt, dass es eine Weltneuheit ist und dein Leben verändern wird. Mein Leben hat sich schon verändert durch diese großartige Idee vom Gesetz der Anziehung. Es fühlt sich nicht nur abgestanden an, sondern ich hasse mich auch noch, weil ich selber dran schuld bin, dass es ist wie es ist.

      Also Indien. Das Indien von heute, weil ein anderes nicht zu haben ist. Alleine hätte ich mich nicht hingetraut. Aber ich hatte da so eine Freundin. Falls man das eine Freundin nennen kann, wenn sie mir in schöner Regelmäßigkeit mitteilt, wie seltsam ich bin. Aber diese Freundin hat von ihrem Mann eine Indienreise zum Geburtstag geschenkt bekommen. Kein Wochenende im Harz mit Secret Escapes, sondern eine Rundreise durch die Heiligen Städte. Und weil sie nicht alleine fahren wollte, hat sich mich gefragt, ob ich mitkomme. Hört sich gut an. Dachte ich am Anfang. Also habe ich mir die Reise selbst zum Geburtstag geschenkt.

      Dass die Sache als Gruppenreise mit einer Horde durchgeknallter Yogalehrerinnen geplant war, hielt ich im Vorfeld für zumutbar. So wie wenn man den Beipackzettel eines Kopfschmerzmittels liest und feststellt, dass die Nebenwirkungen unter anderem Kopfschmerz sind und man denkt, dass es einen schon nicht erwischen wird.

      Als ich dann mit denen im Hotel in Delhi auf der Dachterrasse saß, wusste ich, dass ich den Beipackzettel hätte ernster nehmen sollen. Ich war in beunruhigender Weise an meine Grundschulzeit erinnert, als ich meine Klassenkameraden nur in zwei Kategorien unterscheiden konnte: Die Unsichtbaren und die Unerträglichen. In Gruppen gerate ich von jeher sofort in Schockstarre und warte, bis ich wieder heil aus der Angelegenheit rauskomme. In Gruppen von erwachsenen Frauen potenziert sich das Grundschulgefühl, wenn sie die ganze Palette von schiefen Blicken über subkutanes Mobbing bis hin zu offener Zickigkeit absondern. Nichts wird besser, und ich hätte es wissen müssen.

      Law of Attraction. Weißt du, sagen die Gurus, was du da erlebst, spiegelt dir nur deine eigenen zickigen und bösartigen Seiten. Du ziehst es an, weil du selbst so bist. Law of Gravity sage ich. Wenn du in so einem Scheiß feststeckst, dann steckst du eben. Du kannst dich halten oder tiefer einsinken, je nach Eigengewicht und Untergrund.

      Da saß ich also und begutachtete die ganze Bandbreite neonfarbener Yogaleggins, kombiniert mit Spaghettiträger-Hemdchen, die unheimlich spirituelle Aufdrucke trugen, und wollte wieder heim. Nicht wirklich heim. Aber woanders hin.

      Aber es war, wie es war, und ich tat mein Bestes, um mich mit meinen Gefährtinnen zu vertragen. Immerhin war ich in Indien.

      Meine Tagträume waren auch schon besser. Vielleicht sollte ich mir was ausdenken und das mit dem Erinnern sein lassen. Indien war ein Traum. Die Wirklichkeit war eine mittelmäßige Erfahrung mit mittelmäßig viel Dünnschiss. Aber der Ashram war besser, das muss ich zugeben. Ich habe immer noch keine Ahnung, wer genau der Guru dort war und was ihn auszeichnete, aber immerhin. Es war ein kleiner Ashram mit jeder Menge Mantras und Muschelhorntuten und Feuerzeremonien und all dem. Von den anderen stand niemand um zehn vor fünf auf, um dem Heiligen Fluss zu huldigen. Das war für mich die beste Zeit des Tages. Ich hockte am Feuer, tat mein Bestes die Mantras aus dem Heftchen abzulesen und wartete, bis die Sonne aufging. Ich mochte den Ganges, und ich hatte was übrig für Shiva, den Gott der Zerstörung. Wenn man nichts kaputt macht, gibt es auch keinen Platz für Neues. Heute Nacht mache ich Platz, viel Spaß damit.

      Und natürlich gab es Yoga in diesem Ashram, und wenn ich an Yoga denke, kommt mir Tulio wieder in den Sinn, so hat das ja angefangen mit meiner indischen Erinnerung. Ich sitze auf dem Grünen Felsen und denke an Indien. Und an Yoga. Und an Tulio.

      Man sollte ja meinen, dass man sich beim Yoga entspannt, aber für Tulio war das nicht so. Ich habe keine Ahnung, was ein verheirateter südamerikanischer Wirtschaftsfuzzi alleine in einem nordindischen Ashram zu suchen hat, und er hat es mir auch nicht verraten. Seine Liebe zum Yoga kann es aber nicht gewesen sein. Er saß da auf seiner Matte und hielt sich die Schulter.

      Verspannungen sind ja immer eine gute Möglichkeit sich näher zu kommen, also hab ich ihm die Schulter massiert. Wirklich nur die Schulter. Der Typ war klein und ein bisschen zu dick und das kann ich beides nicht besonders leiden. Aber die Schulter hat sich gut angefühlt.

      Schon komisch manchmal, dass man blöde Vorlieben hat, die einen Großteil der potentiell interessanten Menschen von vorne herein rauskickt. Der visuelle Ersteindruck wird wirklich überschätzt. Eine Woche oder so habe ich ihm jeden Morgen die Schulter massiert. Dann kam er eines Abends in mein Zimmer und teilte mir mit, dass es jetzt Zeit sei die Massage zurück zu geben. Ausziehen. Alles.

      Und seitdem denke ich darüber nach, warum es dafür keine Worte gibt. Ich kann nur obszöne Begriffe. Sexheft-Sprache. Wenn ich nicht über Lust sprechen

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