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ich nur meine Fähigkeit, Englisch zu verstehen, einfach abschalten hätte können, oder wenigstens dialektresistent wäre. Aber mein Gehirn funktionierte einfach weiter, gegen meinen Willen. Ich saß da wie angenagelt und hörte ihm zu. Er lallte über Berlin, die Stadt aller Städte.

      Ich antwortete ihm, dass das hier nicht Berlin sei, sondern der Black Forest. Warum machte ich das? Warum hielt ich nicht einfach die Klappe und verzog mich? Muss meine schwäbische Dressur sein. Erst austrinken. Dann zahlen. Dann gehen. Das ist das heilige Gesetz. Ich nippte an meinem schalen Bier, während mir der Typ versicherte, das hier sei Berlin, er sei extra hierher getrampt. Und er sei dazu da, die Stadt zu retten. Er sei mit diesem Auftrag gekommen, weil wir Deutschen hätten ja keine Ahnung, was da wirklich los wäre.

      Don‘t you see, the Russians are coming. They take over Berlin. News are fake. I am here to save you all. Don‘t you see? All fake!

      Der war wohl in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs hängen geblieben. Er hatte viel zu sagen darüber, was wir alles falsch machten und dass das böse enden würde. Dann fing er an zu weinen. Berlin war egal. Er schaltete um auf seine schwere Kindheit und das ganze erwartbare Zeug. Können nicht die ganzen Abgestürzten mal was anderes anführen zur Rechtfertigung ihrer Lage, als immer wieder eine schwere Kindheit?

      Das war der Tiefpunkt meines Lebens aus zweiter Hand. Nicht mal mehr die ausgeliehenen Existenzen machen mehr Spaß. Sie bedrängen mich. Wie der Ärmel dieses Kerls, der meinem immer näher kam, und der Geruch, der sich nicht an Grenzen von Anstand und guter Erziehung hielt. Ich geriet in Besorgnis. Wenn ich mich jetzt schon auf Anstand und gute Erziehung berief, dann musste es ernst sein. Der Typ nahm sich einen Stapel Servietten aus dem Tischhalter und rotzte los, ein Teil ging tatsächlich in die Serviette, der Rest in seinen Whisky und sonstwohin.

      Dann starrte er mich an, ließ seine tabakverfärbten Zähne sehen und neigte sich zu mir herüber. Whiskydunst, Kippen und Pisse. Gleich würde er mich anfassen. Wie fertig musste ich aussehen, dass er auf so eine Idee kommen konnte?

      Ich löste mich aus meiner Erstarrung und stand auf, um aufs Klo zu gehen. Mir war schlecht und ich stellte fest, dass ich wohl auch ein Arschloch war wie alle anderen Menschen auch. Warum sollte er auch nicht versuchen mich anzubaggern? Auf meine Art und Weise war ich ebenso weit abgestürzt wie er. Gegen diese Tatsache half auch Arroganz nichts. Unten ist unten. Ich fand die Tür mit der Aufschrift „Damen“ und hätte gerne einen Edding gehabt, um den Text zu Schlampen, Bitches oder in ein neutrales W zu ändern, denn alles Damenhafte in mir, wenn es je etwas davon gegeben hatte, war an dem Abend gestorben.

      Die Mädels von der Freiwilligen Feuerwehr waren offenbar auch nicht mehr so zielsicher an dem Abend, und eine hatte ganz offensichtlich ihre Tage, die Klobrille sah entsprechend aus.

      Glücklicherweise war ich nüchtern genug, um meine Blase einigermaßen leer zu kriegen ohne irgendwas zu berühren. Zu meinem Unglück war ich aber auch nüchtern genug, um den Abend Revue passieren zu lassen, dort in der Klokabine.

      Die Bilanz war niederschmetternd: Ich hatte mir meinen persönlichen Traumprinz gewünscht für diesen Abend. Okay, hier am Ende der Welt war das zugegebenermaßen ein bisschen ambitioniert. Aber trotzdem. Wenn ich mir anschaute, was da geliefert worden war, gab es nur eine logische Schlussfolgerung: Ich war am Ende. Was ich nie wahrhaben wollte, war an diesem Abend mit brutaler Klarheit in mein Bewusstsein getreten, und seitdem ist es da und geht nicht mehr weg. Es lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Die Welt bietet mir nicht nur Langeweile oder vorhersehbare Kleinbürgerlichkeit. Sie bietet mir eine volle Ladung Absturz. Auf dem Klo hatte ich noch gehofft, dass es wieder vorbeigehen würde. Aber ich lag die ganze Nacht in meinem muffigen Zimmer wach und dachte nur eins:

      Das mache ich nicht mehr mit.

      Ida, verpiss dich, sagte der Große Zensor. Es gibt nichts mehr, was du von deinem Leben erwarten kannst, außer Ekel, nicht mal mehr die Second Hand Leben funktionieren für dich, du bist fertig.

      An dem Abend beschloss ich, meinen fünfzigsten Geburtstag auf diese ganz besondere Weise zu feiern. Ich gebe zu, eine kleine Hintertür hatte ich mir offen gelassen. Hätte ja sein können, dass mir noch etwas begegnet, was mich umstimmt. War nicht so. Also sitze ich hier.

      Ich nehme einen Schluck und höre den Eichelhähern zu, die sich hinten im Wald gegenseitig vorkrächzen, was für tolle Typen sie sind. Die Wildgans auf meiner Whiskyflasche sagt nichts dazu, ich nehme noch einen Schluck.

      Ich weiß nicht, was anders war an diesem Abend. Vielleicht, weil nicht einmal der Große Zensor sich noch anständig benahm. Es reicht ja wohl, wenn der Rest der Welt mich mies behandelt. Jedenfalls war das der Moment, in dem ich aufgab. Die einzigen Pläne, die ich seit diesem Abend vor einer Woche noch geschmiedet habe, waren die, wie ich meinen letzten Abend verbringen würde.

      Ich drehe mir eine. Ist ein gutes Gefühl, wenn man rauchen kann und dabei nicht darüber nachdenken muss, was das in zehn Jahren mit meiner Lunge machen würde.

      Ich finde ja, die Bilder auf den Tabakpäckchen sind das Ungesündeste am Rauchen. Das ist Voodoo, das sollte als suggestive Körperverletzung geahndet werden. Ich wollte mir ja immer mal ein eigenes Tabakpäckchen zum Nachfüllen basteln, mit lauter positiven Symbolen drauf und so. Aber das hätte ja bedeutet, dass ich mich im Rauchen einrichte, und das wollte ich mir auch nicht eingestehen. Also rauche ich weiter und sehe mir weiß geschminkte Männer an, die vor einer Heizung zusammenbrechen und von ihren Gattinnen beweint werden. Oder Krebsgeschwüre auf Zungen. Oder Raucherbeine und was es sonst noch so gibt. Man kann Wegsehen üben bei diesen Verpackungen. Aber offensichtlich hat das bei mir nicht wirklich geklappt.

      Ich ziehe an meiner Zigarette und denke über Sex nach. Wenn ich gewusst hätte, dass das so ungefähr das Wichtigste im Leben ist, hätte ich wahrscheinlich einiges anders gemacht. Oder auch nicht, Klappe, Großer Zensor, wahrscheinlich sogar nicht.

      Guter Sex könnte mich heute Nacht vielleicht von meinem Vorhaben abbringen. Aber ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt noch weiß, wie das geht. Außerdem werde ich langsam zu betrunken für alles außer hier sitzen und mir selbst zuhören.

      Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich tot sein will? Es war schon so, bevor Paul geboren wurde, das kann ich sicher sagen. Denn als er auf der Welt war, dachte ich: Ich will tot sein, aber für ihn wäre es besser, wenn ich noch eine Weile im Spiel bliebe. Tot zu sein war kein intensiver Wunsch, eher so etwas wie eine friedvolle, entspannte Alternative zum Leben. Und da es nicht wirklich drängte, gab ich mein Bestes und hielt durch.

      Jetzt ist Paul siebzehn. Offenbar hat er meine Einstellung zum Leben mit der Muttermilch aufgesogen, denn nichts an ihm überzeugt mich davon, dass er nicht tot sein will. Er hat die Schule geschmissen, kifft sich die Birne weg und woher er das Geld dafür hat, will ich gar nicht wissen. Unsere Kommunikation ist spärlich und einseitig. Konkret gesprochen: Ich schreie ihn morgens an, er soll endlich aufstehen, was er nicht tut, und ich whatsappe ihn abends an, er soll heimkommen, was er auch nicht tut.

      Das einzige, was ich von ihm mitbekomme, sind seine Klamotten im Wäschekorb, wenn er alle paar Wochen eine Schicht vom Fußboden seines Zimmers abträgt, weil er einen Gürtel sucht oder so. Also dafür hat es sich nicht gelohnt.

      Und Lena? Die entwickelt sich zielsicher zu der Sorte Mädchen, die mir in der Grundschule das Leben vermiest haben. Wichtig ist für sie, ob sie hübsch ist (ja, ist sie), dass ihr bester Freund reich ist (ja, ist er) und dass sie zur Klassensprecherin gewählt wird (ja, wird sie). Lena ist der eindeutige Beweis dafür, dass Genetik zur Vorhersage von Eigenschaften stark überschätzt wird, denn was dieses Mädchen mit mir zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Und nein, sie wurde nicht im Krankenhaus vertauscht, da habe ich aufgepasst.

      Kurz und gut, Paul kommt auch mit mir nicht zurecht und Lena kommt auch ohne mich bestens zurecht. Insofern kann der Große Zensor aufhören auf die Tränendrüse zu drücken, für meine Kinder ist es das kleinste oder gar kein Problem, wenn ich weg bin. Sie können sich zudem auf jede Menge emotionale Boni von allen freuen, wenn sie dann als Halbwaisen ihr bemitleidenswertes Dasein fristen. Vielleicht hätte ich noch eine Lebensversicherung abschließen sollen. Aber die Finanzen sind auch nicht mehr mein Problem.

      Es

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