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ziehen!

      Sie suchte weiter in dem Stapel Papier, nach einem Ausdruck, einem Foto. „Ich hab’s gleich“, sagte sie, „ich hab’s gleich. Ah, da haben wir’s ja, es lag mit der Oberseite nach unten. Da kann ich ja lange suchen.“ Sie zog vorsichtig ein Blatt aus dem Stapel. Ein Farbfoto, auf normalem DIN-A4-Papier ausgedruckt, mit einem weißen Rand. Das Bild selber war überwiegend grün und braun, in der Mitte etwas Hellblaues auf etwas Weißem. Karo Bartels schob es über den Tisch. „Das hier ist unser Fall!“

      Kapitel 5

      Die Qualität des Bildes war schlecht. Als Karo aufgezählt hatte, was der neugegründeten Einheit bis jetzt zur Verfügung stand – Wasseranschluss, W-Lan und so weiter – hatte sie wohl vergessen, den Drucker zu erwähnen, der aber offenbar aus dem vorherigen Jahrhundert stammte. „Tut mir Leid, aber damit müssen Sie zunächst mal vorlieb nehmen. Die Abzüge des Fotografen kommen erst morgen“, sagte Karo. Nordhäuser beugte sich über das Bild. Da lag jemand, eine Frau, wie es aussah, in einem blauen Kleid, auf einem weißen Laken, offensichtlich im Wald. Er studierte die Details einige Minuten lang, ohne dabei etwas Interessantes zu entdecken. Dann sah er auf und Karo direkt in die Augen. „Nicht viel zu erkennen“, sagte er. „Wie ist sie ermordet worden?“

      Auf Karos Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Wer spricht von Mord?“, sagte sie. „Diese Frau hat sich selbst umgebracht. Klarer Fall von Suizid.“

      Nordhäuser spürte, wie sich sein Mund öffnete und wieder schloss. Eine mechanische Bewegung, die nicht mehr seiner Kontrolle oblag. Was sollte das sein? Eine Art Test? Wollte Karo ihn irgendwie vorführen? Er wusste, dass er diesen Job Karo und nur Karo verdankte. Natürlich, nach der Sache mit der guten Hilde war er ein paar Mal in beratender Funktion angefragt worden; er hatte Gutachten fürs Gericht angefertigt, in Freiburg und Frankfurt; einige Male hatte er beim BKA in Wiesbaden bei operativen Fallanalysen mitgearbeitet, sich Videos angesehen und wissenschaftliche Auswertungen und Diagnosen zusammengefasst, also sozusagen alles ins Deutsche übersetzt. Vor jedem Fall hatte er ein halbes Dutzend Erklärungen unterschreiben müssen, dann war er einem Ermittler zugeteilt worden, meist nur für ein oder zwei Tage, und dabei war er immer nur eine Nebenfigur und für die Ermittler einer von Draußen gewesen. Aber das sollte hier ja anders werden! Weil Karo es so gewollt hatte. Weil sie ihn für einen Jäger hielt! Waren ihr nun plötzlich Zweifel gekommen? Führte sie ihn etwa mit einer Finte aufs Eis und wollte ihn einbrechen sehen – bloß weil er sich ein wenig verspätet hatte?

      Er starrte das Bild noch mal an. Eine tote Frau auf einem großen Laken im Wald, Tod durch Selbsttötung. Das war also alles. Doch sich selbst umzubringen konnte allenfalls als Sünde gelten, ein Verbrechen war es allerdings nicht. Er zwang sich zur Ruhe und atmete tief ein und aus. „Okay. Ein Selbstmord also. Traurig, sehr traurig, aber so etwas kommt eben vor. Vor allem“, fügte er mit einem schalen Lächeln hinzu, „wenn man keinen guten Psychologen gehabt hat. Oder überhaupt keinen. Aber das ist nicht unser Problem, oder? Selbstmord ist kein Fall für eine Mordkommission, sondern für die Hinterbliebenenbetreuung.“ Er schob das Foto über den Tisch wieder zu Karo. „Was also ist unser Fall?“

      Sie schob das Foto zu ihm zurück. „Die Selbsttötung ist unser Fall“, sagte sie und lächelte wieder. „Diese Frau“, sie tippte mit ihren dunkelrot lackierten Fingernägeln auf das unscharfe blaue Etwas, „wurde tot im Wald aufgefunden. Die Kollegen von Eins bis Elf haben temporäre Teams gebildet und ihre Untersuchungen heute Nachmittag abgeschlossen. Schlaftabletten und Alkohol. Ziemlich eindeutig Suizid. Aber eben nicht dort.“ Sie tippte jetzt auf die undeutlichen grünen Umrisse, vor denen die Tote lag. „Nicht in diesem Wald. Sondern in ihrer Wohnung.“ Nordhäuser setzte sich auf. Seine Brust juckte. Er kratzte sich. Als er Karos Blick bemerkte, ließ er die Hand sinken. „Was willst du damit sagen?“, fragte er. „Sie hat sich in ihrer Wohnung umgebracht und dann ...“ Er führte den Satz nicht zu Ende. Karo nickte. „Dann ist die Leiche vom Totenbett auferstanden – in ihrem Fall war es wohl eine Art Couch – hat sich hübsch zurecht gemacht und ist von ihrer Wohnung aus quer durch Berlin zu dieser lauschigen kleinen Waldlichtung gewandert. Dort hat sie ein frisches Bettlaken ausgebreitet und sich darauf endgültig zur Ruhe gebettet. Übrigens mit gefalteten Händen und ein Bein hübsch neben das andere gelegt.“ Unwillkürlich zog Nordhäuser das Foto noch einmal näher an sich heran und versuchte, die gefalteten Hände zu erkennen. Wieder stieg ihm sein eigener Schweißgeruch in die Nase. Wenn man sich selber riecht, dachte er, ist eigentlich schon alles zu spät. Außerdem hatte er Hunger und sehnte sich nach einem kalten Bier. „Du meinst, dass sie irgendjemand aus ihrer Wohnung in den Wald gebracht und sie dort so drapiert hat?“, sagte er und sah wieder Karo an. Ihr Grinsen hatte etwas Arrogantes, fand er. Wahrscheinlich wollte sie ihm damit zu verstehen geben, dass er etwas übersah, etwas Augenscheinliches, etwas, was die große Karo an seiner Stelle schon längst erkannt und richtig eingeordnet hätte. Unter anderen Umständen hätte ihr bescheuertes Grinsen vielleicht sogar seinen Ehrgeiz geweckt. Jetzt allerdings reizte es nur seinen Zorn. Er war müde und wollte hier raus. „Und wenn es so war ... so what?“, fragte er gereizt. „Was wäre das? Leichenschändung? Störung der Totenruhe? Warum sollte ich deswegen in Freiburg alles stehen und liegen lassen und auf der Stelle zu dir rüber fliegen?“

      „Du fliegst nicht“, erinnerte sie ihn süffisant und betonte auch noch das Du.

      Er stand auf. „Wissen Sie was, Frau Bartels“, sagte er – und auch das war jetzt ein weiter Weg gewesen vom Du in Wiesbaden bis zu Frau Bartels, aber er hatte die Schnauze voll, „ich nehm mir jetzt ein Hotelzimmer und hau mich erst mal aufs Ohr. Morgen kann ich dann gern weiter Rätselraten mit Ihnen spielen.“

      „Setzen Sie sich“, forderte Karo ihn barsch auf und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Zu seinem Ärger zuckte er zusammen. Aber er setzte sich nicht. Er kochte. Wenn er nur an das Chaos in seiner Freiburger Wohnung dachte, wurde ihm schlecht. Und wieso sollte er hier bleiben? Um Spielchen zu spielen? Er ging an ihr vorbei durch die offenstehende linke Glastür und trat auf den Balkon hinaus, eine schmale mit einem gold-weißen Geländer versehene Plattform, die einmal um den ganzen Turm führte. Das lange, gerade Band der Karl-Marx-Allee, an deren Ende der Alexanderplatz lag. Die Sonne war grade untergegangen, ein leichter Wind wehte, der ihm kühl vorkam. Um die silberne Kugel des Fernsehturms hingen ein paar rosafarbene Wolken an einem schon eher dunkelblauen Himmel. Nordhäuser fischte eine reichlich zerdrückte Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und zündete sich eine an. Er inhalierte tief und spürte das Nikotin warm durch seinen Körper strömen. Im Konferenzraum hinter sich hörte er Karo mit ihren Unterlagen rascheln. Er stieß den Rauch durch die Nase aus.

      „Wer“, fragte er, ohne sich umzudrehen, „wer hat sie in den Wald gebracht? Ihr Mann? Ein Freund? Ein Familienangehöriger? Er findet sie – tot – und ... kann es vielleicht irgendeine Art von Bestattung sein?“ Er war nicht sicher gewesen, ob Karo ihn überhaupt hören konnte, aber sie antwortete prompt: „Es gibt tatsächlich Kulturen, die ihre Toten nicht wie wir unter die Erde bringen. Im Gegenteil. Sie setzen sie bewusst den Naturgewalten und irgendwelchen Aasgeiern aus und kommen regelmäßig nachschauen, wie weit die Verwesung vorangeschritten ist. Kaum zu glauben, oder? Aber wahr. Allerdings habe ich meine Zweifel, dass das auf unseren Fall zutrifft. Davon abgesehen haben wir bisher keine näheren Angehörigen ermitteln können. Die Mutter ist früh verstorben, der Vater unbekannt. Auch einen Freund oder Ehemann gibt es nicht. Die Frau war erst 27 Jahre alt und von Beruf Verkäuferin. Zuletzt hat sie in einem Drogeriemarkt gearbeitet, der insolvent gegangen ist. Nach dem Verlust ihrer Arbeit hat sie sehr zurückgezogen, beinahe isoliert gelebt.“ Mit jedem Wort war Karos Stimme etwas näher gekommen, und als er sich jetzt umschaute, sah er sie in der offenen Balkontür lehnen.

      „Was ist mit – wie sagt man heute dazu? – virtuellen Freunden? Hat sie viel im Internet gesurft? Was ist mit Facebook und Co.?“

      Karo zuckte mit den Schultern. „Ein Internetzugang war vorhanden, auch einen Computer hatte sie. Da sind wir noch dran. Allerdings ist es eine uralte Kiste, und der Schreibtisch, auf dem er stand, sah nicht aus, als wäre er oft benutzt worden.“

      Nordhäuser schloss kurz die Augen. Dann fragte er: „Derjenige, der sie gefunden und in den Wald gebracht hat – wie ist er in ihre Wohnung gekommen?“

      „Das

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