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meist locker leisten, genau so wie notfalls auch einen Anwalt. Durch den Fall Knifflinger hatte er dann zum ersten Mal Kontakt mit der Polizei gehabt, denn nur er allein wusste überhaupt etwas über die Dame. Im Fall eines Mordes war die ärztliche Schweigepflicht natürlich aufgehoben. Danach war er mehrmals in verschiedenen Fällen zu Rate gezogen worden, von der Kriminalpolizei in Freiburg ebenso wie auch zwei, drei Mal vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden.

      „Wie die Jungfrau zum Kind bin ich dazu gekommen“, hatte er zu Karo gesagt, als sie ihn nach der Wiesbadener Tagung beim Abendessen im Schwarzen Bock angesprochen hatte. „Ich bin als Psychologe ja für die Lebenden da. Wenn Sie so wollen, mache ich ihnen das Leben für eine kleine Gebühr wieder lebenswert. Mord und Totschlag interessieren mich eigentlich gar nicht.“ Sie hatte ihm das nicht abgenommen und großes Interesse an seiner Arbeit gezeigt, speziell am Fall Knifflinger. Leider nur daran, denn seine kleinen feinen Flirtversuche hatte sie eiskalt abgeblockt, auch nachdem sie übereingekommen waren, sich zu duzen. Am Ende des Abends war sie dann ein wenig verärgert gewesen, weil er immer wieder abgestritten hatte, dass seine wahre Berufung eher im Aufspüren und Jagen und sein eigentliches Talent womöglich im Erstellen von Täterprofilen liege. Ihre Worte und die Leidenschaft, mit der sie ihre Meinung vertrat, hatten ihn sogar ein wenig befremdet. Vielleicht hatte Karo auch ein bisschen zu viel von dem ausgezeichneten Riesling gehabt. Obwohl: Wenn er sich richtig erinnerte, hatte sie den ganzen Abend über nur Wasser getrunken. Er war auf jeden Fall ziemlich betrunken gewesen und war schließlich alleine auf sein Hotelzimmer getorkelt.

      „Du bist ein Menschenjäger, das kann ich deinen Augen ansehen“, hatte Karo jedenfalls mehrmals gesagt. Ihre Worte waren ihm noch lange im Kopf herumgespukt. Nicht, weil er glaubte, dass sie Recht haben könnte. Aber er hatte schon überlegt, dass sie wahrscheinlich doch noch rumzukriegen gewesen wäre, wenn er ihr einfach zugestimmt hätte. Ja, klar, ich bin ein Menschenjäger. Für dich, Karo! Für diese Nacht! Er wusste selbst nicht, warum er ihr so vehement widersprochen hatte, doch wahrscheinlich, so dachte er damals, würde er sie ohnehin nie wiedersehen.

      Aber dann hatte er geraume Zeit später ihre Stimme gehört, nicht in seinem Kopf, sondern aus dem Radio. Er hatte auf der A 5 irgendwo zwischen Basel und Freiburg im Stau gestanden und einen Nachrichtensender gehört, als der Bericht über ein neues Kompetenzzentrum der Kriminalpolizei in Berlin angekündigt wurde. Die Leitung einer der neuen Einheiten sollte eine junge, dynamische und taffe Hauptkommissarin übernehmen: Karo Bartels. Allein die Erwähnung ihres Namens hatte ihn schon elektrisiert, aber als er dann auch noch ihre raue, dunkle Stimme hörte, versetzte es ihm einen regelrechten Schlag. Karos Stimme klang nach filterlosen Zigaretten, Whisky pur, schummerigen Bars, Chansons und gedämpfter Klaviermusik. Und das in ihrem Alter! Wie alt mochte sie sein. Mitte dreißig? Nordhäuser war klar, dass das alles nicht wirklich zu der nordisch blonden, leidenschaftlichen und gleichzeitig kühl beherrschten Frau passte, die er in Wiesbaden kennengelernt hatte. Überhaupt nicht! Außerdem meinte er sich zu erinnern, dass Karo Bartels eine ernsthafte Läuferin und eine beinahe militante Nichtraucherin war. Er hatte sich beherrscht und war nur ein Mal, als sie zur Toilette mußte, vor der Tür gewesen zum Rauchen, doch als er wieder an den Tisch zurückgekommen war, hatte sie die Nase gerümpft. Trotzdem musste er bei ihrer Stimme an Zigaretten denken, an Whisky, an Chansons und all diese wunderbaren alten Tom-Waits-Songs – an Dinge, die ihm gefielen.

      Zwei Tage nach dem Radiobericht hatte Karo ihn in seiner Praxis angerufen. „Erinnern Sie sich an mich, Nordhäuser?“, hatte sie mit ihrer rauen Stimme gefragt.

      „Karo? Waren wir nicht beim Du?“, hatte er sofort zurück gefragt.

      „Im Moment bin ich bei einer Freundin in Emmendingen. Einen Katzensprung von Ihnen entfernt. Können wir uns treffen? Ich will Ihnen ein Angebot machen, Jäger.“

      „Okay“, sagte er und spürte, wie ihm ganz heiß wurde.

      Falls er sich irgendwelche Hoffnungen gemacht hatte, Karos Angebot könne vielleicht ein unmoralisches sein, hatte er sich getäuscht. Sie war nicht nur kleidungsmäßig extrem zugeknöpft. Auch ihr Ton machte klar, dass es sich nicht um ein privates Treffen handelte. Sie trafen sich im Art-Café in der Freiburger Innenstadt, ganz nah an der Uni, das Nordhäuser immer auswählte, wenn ein Gespräch tagsüber auf neutralem Boden stattfinden sollte. Wie immer waren viele Studenten da, er ergatterte aber fast sofort einen Platz und bestellte sich einen Kaffee, „einen normalen bitte, wie früher.“ Die Bedienung zog die Augenbrauen zusammen, strahlte ihn dann aber an. Danach bestellte er sich ein Bier. Karo verspätete sich.

      „Nett hier“, hatte Karo dann gesagt, noch bevor sie sich überhaupt zu ihm gesetzt hatte. Sie bestellte ziemlich schnippisch, wie Jan fand, ein stilles Mineralwasser mit einem Eiswürfel und einer ganzen Zitronenscheibe. Irgendwie hatte sie sich verändert, schien ihm. Vielleicht war sie ja nur müde, doch ihre Augen hatten nicht mehr den Glanz, an den er sich erinnerte. Außerdem schien sie zugenommen zu haben, aber das konnte auch daran liegen, dass sie flache Schuhe trug, wie er enttäuscht feststellte. Nordhäuser nahm jetzt einen doppelten Espresso. Karo kam sofort zur Sache. Sie wollte ihn in ihrer Einheit dabei haben, in Berlin. Er sollte für sie arbeiten, mit ihr arbeiten.

      „Ich brauche einen guten Psychologen im Team, Nordhäuser, nicht so einen Sesselfurzer. Ihre Aufgabe ist eintauchen, nachfühlen, sich Klarheit verschaffen, begreifen, was passiert ist, aufklären natürlich, und was der Schlagworte noch mehr sind, kurz, einen Profiler, wie man das im angloamerikanischen Bereich nennt.“

      Als er nichts sagte, fuhr sie fort: „Das Verhindern von Straftaten gehört ausdrücklich auch zu unserer Aufgabe, das wurde in der Polizeiarbeit der Vergangenheit zu sehr vernachlässigt. Deswegen ist das Begreifen so wichtig, verstehen Sie! Und das Erstellen einer entsprechenden Datenbank, das natürlich auch. Also, was sagen Sie?“

      Na bitte, da war das Funkeln ihrer Augen ja wieder. Sie hatte an ihrem stillen Wasser genippt und ihn über den Rand ihres Glases hinweg angesehen. Es lag nichts Forschendes in ihrem Blick, keine Zweifel, keine Frage, sondern einfach der Ausdruck eines Triumphs, der sich einstellt, wenn man einen anderen richtig eingeschätzt hat. Wenn der genau so reagierte, wie man es vorausgesehen hatte. Sie schien auch nicht einen Moment daran gezweifelt zu haben, dass er sein geliebtes Freiburg verlassen würde, um in diesen grausigen Moloch Berlin zu ziehen. Und das, obwohl das Beraterhonorar, das sie ihm anbieten konnte, für ihn sicher nur ein schlechter Witz sein würde! Aber sie hatte sein Interesse geweckt, das konnte sie sehen, seinen Jagdinstinkt, seine Neugierde auf etwas ganz Neues.

      Was für eine Wendung, überlegte er, als er mit Tempo 105 gemächlich eine Lastwagenkolonne überholte: Bis vor einem Monat noch praktizierender Psychologe in Freiburg, und nun fester freier Mitarbeiter der Kriminalpolizei in Berlin. Auf einmal musste er wieder an Hilde Knifflinger denken. Die gute Hilde!, kam es ihm reflexartig in den Sinn. In ihrer Kindheit und Jugend hatten alle sie immer nur die gute Hilde genannt. Ihre Eltern besaßen ein Weinlokal in Eltville, und während Hildes jüngere Schwestern geheiratet und ein eigenes Leben aufgebaut hatten, hatte sie jahrelang im Lokal ihrer Eltern geschuftet. Ein gutes und fleißige Mädchen, das sich ohne zu murren ausbeuten ließ. Bis sie ihren ersten Mann kennengelernt hatte, Kurt. Als Hilde Knifflinger das erste Mal zu Nordhäuser in die Praxis gekommen war, hatte sie die sechzig bereits überschritten und war zum vierten Mal verheiratet. Die Sitzungen bestanden aus endlosen Schimpftiraden auf ihren Vater … und die Männer, mit denen sie verheiratet gewesen war: Kurt, Hannes und Adalbert, alle verstorben. Die Sitzungen waren wie ein immer gleiches Theaterstück, das aus einem einzigen zornigen Monolog bestand, nur unterbrochen von einigen wenigen Fragen seinerseits. Am Ende sagte Hilde immer, sozusagen als Schlusswort: „Aber natürlich kümmere ich mich trotzdem um ihre Gräber. Die sehen immer picobello aus, da kann mir niemand was vorwerfen!“ Die gute Hilde! Und dann hatte eines Tages die Polizei bei ihm in der Praxis gestanden.

      Ein wütendes Hupen riss Nordhäuser aus seinen Gedanken. „Ja doch!“, brüllte er und zog auf die rechte Spur. Er wusste schon, warum er lieber die Landstraße benutzte.

      Die gute Hilde hätte das Ende seiner Karriere bedeuten können, einen schlechten Ruf hat man schnell weg. Als die Polizei bei ihm aufgetaucht war, lag Ehemann Nummer Vier mit einer schweren Vergiftung im Krankenhaus, und die inzwischen siebenundsechzigjährige Hilde hatte sich den Polizisten, die sie zur Vernehmung mit aufs Revier nehmen

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