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durch und glitt elegant wieder auf die linke Spur. Schleichen musste er ja nun auch wieder nicht. Kein Mensch wusste jedenfalls, wo die gute Hilde sich versteckt halten könnte, bei wem und wovon sie lebte. Es war ein kalter Winter und eher unwahrscheinlich, dass sie in irgendeiner Laube oder etwas ähnlichem untergeschlüpft war. Man überprüfte alle Möglichkeiten und forschte in alle Richtungen, so dass ehemalige Klassenkameraden Hildes im Hunsrück oder im Taunus Besuch von der Polizei bekamen, ebenso wie Pensionwirtinnen auf Sylt oder auf Mallorca, wo sie mehrmals in Urlaub gewesen war. Schließlich hatte Jan den entscheidenden Einfall gehabt, wie Hilde vielleicht gefasst werden könnte. Die Polizei hatte dann Fotos von einem Dutzend verwahrloster Gräber machen lassen, darunter die inzwischen tatsächlich unansehnlich gewordenen ihrer drei verblichenen Ehemänner, die mit einem passenden Artikel in den Lokalzeitungen der Region unter der Schlagzeile: ‚Schandflecken auf dem Friedhof – Niemand kümmert sich!’ veröffentlicht wurden. Zwei Tage später war Hilde dann am frühen Morgen mit Gießkanne, Gartenwerkzeug und einem Zwölferpack Stiefmütterchen auf dem Friedhof aufgetaucht. Ein bißchen Glück war natürlich dabei gewesen, das war Jan klar, denn auf Sylt hätte die Gute den Artikel nicht lesen können. Oder wollte sie sich schnappen lassen, wenn sie ausgerechnet die Gräber ihrer Opfer pflegte? Während des Prozesses hatte sie ihm dann einige Male lächelnd zugenickt. Schließlich wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gutachten über ihren Geisteszustand hatte ein Kollege erstellt, der sie als voll schuldfähig einstufte, und der ihn, Jan, dann unter vier Augen der Naivität bezichtigte. „Sei mir nicht böse, Jan“, hatte er gesagt, „aber das hättest du mitbekommen müssen, dass da eine Mörderin vor dir sitzt. Definitiv.“

      Kapitel 3

      Schnurgerade Autobahn, kurz vor der Abfahrt Lutherstadt Wittenberg. Wie fremd ihm das alles immer noch war, so lange Jahre nach der so genannten Wende. Er sah auf seine Armbanduhr. Inzwischen war er so spät dran, dass der Toleranzbereich fürs Zuspätkommen ziemlich ausgereizt und die zumutbare Schmerzgrenze auch für seinen Geschmack beinahe überschritten war. Noch 60 Kilometer bis Berlin. Die Karl-Marx-Allee würde er dann wohl leicht finden, dachte er, und diese Türme am Frankfurter Tor konnte man sicher nicht übersehen. Die Büroräume der neuen Polizeieinheit, die Karo leitete, befanden sich im nördlichen der beiden Türme. Er hatte Fotos davon im Internet gefunden. Sollte er Karo doch noch anrufen? Anhalten, das Handy aus der Sporttasche kramen, Karo etwas von einem Stau erzählen? Blödsinn, entschied Nordhäuser. Einfach weiterfahren! Wie immer, wenn er gereizt war und sich unter Druck gesetzt fühlte, machte sein Verstand einen kleinen Schlenker zur Seite und ließ der Phantasie für ein paar schöne Momente den Vortritt. Er stellte sich vor, wie Karo sich ganz langsam aus ihrem Kostüm schälte, während er ihr vom Bett aus zusah. Die Pumps würde sie anbehalten und ihm den Slip zuwerfen, bevor sie dann … So musste es sein! Ihm wurde ganz anders.

      Das Handy klingelte dumpf in den Tiefen der Tasche. Nordhäuser stellte sich augenblicklich vor, wie Karo in diesem Moment wütend das Telefon ans Ohr presste und über Berlin blickte, nackt natürlich und auf hohen Hacken. Jetzt war es aber genug! „Jan!“, sagte er laut, den Innenspiegel zu sich drehend und sich selbst in die Augen sehend, „du fährst nach Berlin, um als fester freier Mitarbeiter des Teams Forensik XII zu arbeiten. Deine Chefin wird Hauptkommissarin Karo Bartels sein, es wird Fälle geben, die unappetitlich sind, und du wirst noch einiges lernen müssen. Und trotzdem ist Karo Bartels die schönste Frau, die du je gesehen hast. Scheiße!“ Er wendete den Blick wieder auf das schnurgerade Band der Autobahn und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Er hatte seine Praxis an einen ehemaligen Kommilitonen verkauft, zu einem guten Preis sogar. Klar, bei der Patientenliste und der Lage der Praxis! Auch die Wohnung hatte er aufgegeben, nicht zuletzt deswegen, weil er dort mit Marie zusammengelebt hatte. Trotz der 1-A-Lage und des Sonnenbalkons war es nach ihrem Auszug einfach nicht seine Wohnung geworden. Zu groß, zu leer, zu tot!

      Jetzt keinen Fehler machen. Die A 10, der Berliner Ring, Richtung Frankfurt – ‚Oder’ wohlgemerkt, dann auf die A 115. Jan merkte, wie hungrig er war, mehr als ein paar Snacks und drei oder vier Dosen Cola hatte er nicht zu sich genommen seit heute morgen. Und jetzt klingelte schon wieder das scheiß Handy! „Fick dich!“, brüllte er, bereute es aber sofort, obwohl das lächerlich war. Die B1, Feierabendverkehr natürlich, Baustellen. Als er endlich in der Nähe des Bersarinplatzes einen Parkplatz gefunden hatte und taumelnd die Straße runter Richtung Frankfurter Tor ging, die Sporttasche über den Rücken geworfen, zeigte seine Armbanduhr 20:07 Uhr. Um 20.11 Uhr drückte er den obersten Klingelknopf, der als einziger unter Dutzenden unbeschriftet war. Um 20.12 Uhr betrat er den Nordturm und etwas mehr als eine Minute später den kleinen, fast antik wirkenden Fahrstuhl, um dann genau um 20.15 Uhr im zehnten Stockwerk anzukommen. Dreizehn Stunden, null Minuten und null Sekunden nach dem Starten des Wagens heute morgen und ein paar Stunden und fünfzehn Minuten zu spät. „Sechzehn Uhr, spätestens“, gellte es in seinen Ohren. Als die Aufzugstür langsam zur Seite ruckelte, gab sie den Blick auf eine Furie frei. Groß, blond und unglaublich sexy, aber trotzdem eine Furie. Instinktiv zog Nordhäuser die Schultern ein.

      „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?“, zischte Karo Bartels ihn an, kaum dass er einen Schritt aus dem Fahrstuhl gemacht hatte. „Sogar ziemlich genau“, hätte er am liebsten geantwortet, aber er beherrschte sich. Sie giftete weiter: „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Und wo wir hier sind? Beim Kaffeekränzchen?“ Seine Standardantwort, „das hat mit Glauben nichts zu tun“, konnte er jetzt wohl kaum bringen. Den Kardinalfehler, sich zu entschuldigen, wollte er aber natürlich auch nicht machen.

      „Schönen Abend auch, Karo“, sagte er etwas gepresst. „War `ne lange Fahrt. Ich könnte einen Kaffee gebrauchen.“ Ein Fehler! Sie starrte ihn an, und einen Moment lang glaubte er, sie würde ihn mit einem einzigen Fausthieb wieder in den Fahrstuhl zurückbefördern und den Abwärts-Knopf drücken. Aber dann machte sie auf dem Absatz kehrt – und was das für Absätze waren!

      „Kommen Sie mit“, sagte sie, einen leichten Parfumduft hinter sich her ziehend, der ihm zugleich mit seinem eigenen Schweißgeruch in die Nase stieg. Das konnte ja heiter werden!

      Kapitel 4

      Karo Bartels stieg schnell die Wendeltreppe ins Konferenzzimmer hinauf. Sie kümmerte sich nicht darum, welchen Eindruck die Büroräume des Teams Forensik XII auf Nordhäuser machen würden. Eigentlich hatte sie gedacht, ihm alles in Ruhe zu zeigen, doch das war jetzt natürlich passé. Als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, war sie beeindruckt gewesen. Von jedem Raum aus bot sich ein atemberaubender Blick auf die Stadt. Die Unterbringung ihres Teams ganz oben über den Wohnetagen in der doppelstöckigen Kuppel und dem Geschoss darunter war aber nur temporär, und bei dem Gedanken, hier wieder raus zu müssen, blutete ihr jetzt schon das Herz. Man konnte sogar bei gutem Wetter auf der viereckigen, umlaufenden Dachterrasse arbeiten, und um den Turm oben lief auch noch eine Balkon rundherum, ideal zum Nachdenken, fand sie.

      Karo Bartels war vierunddreißig Jahre alt und leitete das neue Team Forensik XII, das zur Polizeidirektion I gehörte, zuständig für Delikte am Menschen und für Prävention. Forensik XII war ein Pilotprojekt, das die Effektivität der polizeilichen Ermittlungsarbeit erhöhen sollte, indem in sogenannten Kernteams gearbeitet wurde. Ein Team bestand meistens nur aus einem Hauptkommissar und ein oder zwei Spezialisten aus den Bereichen Chemie, Biologie, IT und so weiter. Allerdings arbeiteten nicht alle dieser Spezialisten hauptberuflich für die Polizei, einige waren an einer Uni oder einem Institut beschäftigt oder hatten eigene Praxen oder Firmen. Alles natürlich auch aus Kostengründen, das Land Berlin musste sparen. Doch wenn es Karo Bartels gelang, das Pilotprojekt erfolgreich zu etablieren, gäbe es womöglich mehr Geld und mehr Planstellen. Jedenfalls war das jetzt ihre Chance, ihr Ehrgeiz war angestachelt wie nie!

      Jetzt gerade war sie allerdings vor allem damit beschäftigt, ihren Ärger auf Nordhäuser in den Griff zu bekommen. Der Ärger war natürlich berechtigt, denn was bildete sich dieser Kerl überhaupt ein! Sie atmete tief durch. Beruhig dich, sagte sie sich, für die Arbeit, die jetzt ansteht, brauche ich einen klaren Kopf. Leider weigerte sich ihr Kopf gerade irgendwie, die Gedanken wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Und vor ihm die Treppe hinaufzugehen ist natürlich falsch gewesen, dachte sie jetzt unwillkürlich, sozusagen gegen ihren Willen. Wenn der Typ wüsste, wie schwer es gewesen ist, auch nur annähernd

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