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sie den Brief an sich gebracht. Die Adresse war mit Schreibmaschine geschrieben, genauso der Brief, den sie jetzt herauszog: ein einfaches weißes Din A 5-Blatt, quer beschrieben. Sie drehte den Umschlag noch einmal in der Hand: »Der Stempel ist von gestern, sagt Ihnen der übrige Aufdruck etwas?« Sie reichte ihn an Frau Frese zurück.

       Die brauchte ihn aber nicht erst in die Hand zu nehmen. »Er wurde auf dem Festland eingeworfen.«

       Olivia reichte Brief und Umschlag Herrn Hinrichsen: »Sahen die anderen Briefe genauso aus?« wollte sie von ihm wissen.

       »Ich glaube ja, Genaueres wird die Polizei feststellen. Dazu muss sie diesen Brief aber erst einmal bekommen. Ich mache mich jetzt auf den Weg.«

       »Sollte ich Sie nicht begleiten?« Frau Frese sah Brief und Bürgermeister kritisch an.

       »Meiner Überzeugung nach müssen Sie hier die Stellung halten. Sehen Sie die vielen Leute, das Fest ist noch nicht vorbei.« Damit querte er die grüne Wiese Richtung Parkplatz. Olivia sah seinem steifen Gang und dem rudernden linken Arm kurz nach. In dem Augenblick hatten sich auch die beiden schweigenden Fehmaraner zurückgezogen, nur Frau Frese stand noch neben Amanda. Picard sah sich um und löste damit Olivias nächste Frage aus: »Wo ist Juro Kienhardt?«

       »Ich sehe ihn nicht. Viele Leute wollten mit ihm reden. Die Gelegenheit ist günstig für sie. Juro lebt auf der Insel und ich glaube, die Leute akzeptieren ihn als einen der Ihren und sind stolz auf ihn. Aber er lebt sehr zurückgezogen und sie müssen diese Gelegenheit nutzen. Außerdem haben sie jetzt aufregenden Gesprächsstoff.«

       »Das ist leider wahr. Frau Frese, haben Sie noch etwas Zeit für uns?« Die Vorsitzende nickte widerstrebend, Olivia übersah das Widerstrebende: »Sie sprachen von zwei Fällen in Zusammenhang mit einem ähnlichen oder gleichen Brief. Im ersten Fall traf es einen Immobilienmakler. Ist er der einzige auf Fehmarn?«

       »Bei weitem nicht, es gibt eine ganze Reihe Makler.«

       »Worin unterschied er sich von den anderen?«

       »Er bemühte sich, Touristen, die schon mehrmals hier Urlaub gemacht hatten, vom Nutzen einer eigenen Immobilie auf der Insel zu überzeugen. Das betrieb er sehr systematisch und er war dabei erfolgreicher als irgendein anderer.«

       »Stieß er denn damit hier auf Widerstand? Der Bürgermeister ist auf seine Weise auch nicht gerade zimperlich, wenn es um erfolgreichen Tourismus geht.«

       »Er hätte erst zur Polizei gehen müssen und dann hierher kommen, das ist meine Meinung. Ich fand den Brief im Kasten, als ich heute Mittag nach Hause kam, gegen ein Uhr, und bin sofort ins Rathaus gefahren.« Frau Frese fand es sichtlich notwendig, sich wenigstens teilweise von den Handlungen ihres Bürgermeisters abzugrenzen. Olivia verstand das, blieb aber bei ihrem ersten Faden.

       »Wer erhielt den Drohbrief zu dem Makler?«

       »Thea Henning, sie war mit ihm befreundet.«

       »Was unternahm die Polizei in diesem ersten Fall?«

       »Sie stellte fest, dass er in seinen beiden Büros seit Tagen nicht mehr gewesen war und gab den Fall nach Eutin weiter. Da der Mann verschwunden blieb, ging sein Fall weiter nach Kiel, eine internationale Fahndung wurde in Gang gesetzt und läuft bis heute. Milz ist spurlos verschwunden.«

       »Dann kam ein zweiter Brief. Wie lange hatte man den Architekten zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr gesehen?«

       »Eine knappe Woche. Tischlermeister Bruhn ging umgehend zur Polizei. Die Briefe wurden als identisch erkannt und die Maschinerie lief erneut an. Ohne Ergebnis auch im zweiten Fall.«

       »Hatten die beiden Verschwundenen etwas gemeinsam?«

       »Ach, es wird sehr viel geredet. Aber man hat nur diese Briefe.«

       »Was reden die Leute denn?«

       »Nun, Martin Gillhoff hat den Leuten Land abgekauft, hier ein kleines Stück, da ein kleines Stück und plötzlich hingen die kleinen Stücke zusammen und gaben schönes Bauland. Das hat er hier in Burg so gemacht und oben in Gammendorf. Für das Land in Burg legte er im Januar einen Bebauungsplan vor.«

       »Den er nun nicht mehr verwirklichen kann. Und wie passt Alexander Hyde zu diesen beiden Männern?«

       »Gar nicht! Er hat nicht einmal eine Wohnung hier!«

       »Könnte es einen anderen Grund geben, ihn als störend zu empfinden?«

       »Na hör’n Sie mal, was soll das denn heißen? Er störte niemanden, all die vielen Jahre nicht. Warum also auf einmal?«

       »Das ist die Frage… und wen…« Olivia spürte, dass sich in Dora Frese Widerstand gegen sie aufbaute und hielt es für klüger, sich für den Moment zufrieden zu geben.

       Eine junge Frau um die Dreißig, relativ groß, schlank, mit hellen Haaren und blauen Augen, näherte sich raschen Schrittes, fasste Felix Picard freundschaftlich mit beiden Händen am Ärmel und wandte sich an Frau Frese: »Was für eine wunderschöne Zeremonie ist das gewesen, Dora! Da drüben,« sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war, »ist ein Journalist der ›Lübecker Nachrichten‹ und quält die Leute mit neugierigen Fragen nach Alexander Hyde. Könntest du womöglich versuchen, sein Interesse wieder auf die neue Plastik zu lenken? Deswegen ist er doch schließlich gekommen!«

       Die Vorsitzende der Bürgervereinigung ›Brücken – heute‹ zog auf der Stelle ihr Jackett zurecht, das es gar nicht nötig hatte, nickte Olivia zu und machte sich auf den Weg. Die junge Frau sah ihr überrascht nach: »So etwas! Muss ich aber energisch gewirkt haben. Felix, habe ich sie bei einem wichtigen Thema unterbrochen?«

       »Die Frage kommt ein wenig verspätet.« Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich um die schmalen Lippen des Malers. »Tatsächlich hast du ihr zu einem erwünschten Abgang verholfen. Frau Lawrence hatte sie mit ihren Fragen ein wenig in die Enge getrieben. Wo ist Juro?«

       »Genau deswegen komme ich: Er ist auf dem Weg zum Auto, ich möchte dich fragen, ob du mit uns kommen willst. Ich denke, ihr beiden solltet hier verschwinden, bevor ein Journalist euch festnageln kann.«

       »Verstehe. Ich komme gern mit. Agnes, diese beiden Damen sind Freundinnen von Alexander, können sie auch mitkommen?«

       »Sicher, wenn sie sofort kommen.« Und schon bahnten die vier sich ihren Weg zum nahen Parkplatz. Agnes fuhr mit ihrem Mann davon, Picard kam mit Amanda und Olivia. Sie parkten etwas entfernter.

       »Warum diese Eile?« wunderte sich Amanda, während sie rasch zu ihrem Wagen voranschritt. Die Dringlichkeit der jungen Frau, hier wegzukommen, hatte sie miterfasst und sie wehrte sich dagegen.

       Picard blickte wieder ganz ernst: »Agnes ist der praktische Verstand von Juro und für mich gleich mit, solange ich allein hier auf der Insel lebe. Sie wird uns den Grund schon noch sagen.«

      Kapitel 4

      Die Sonne stand mittlerweile tief am Horizont und die Knicks – dichte Hecken zwischen den Feldern, die den Wind brechen – warfen lange Schatten. Olivia zählte mit: Vier Dörfer durchquerten sie in rascher Folge, zwischenzeitlich hatte sie in der Ferne das Meer gesehen, jedenfalls nahm sie das an. Felix Picard lotste Amanda von der offiziellen Straße hinunter. Den Hinweis ›Durchfahrt verboten‹, der das normale Verkehrsschild zu einer strengen Warnung machte, ignorierte er. Auf einer Wiese grasten Rehe, die bei dem Motorengeräusch in den Schatten des nächsten Knicks flohen, der sie vollständig unsichtbar machte. Ein Wäldchen nahm sie auf und entließ sie durch ein Tor auf eine leere Fläche. Amanda schaltete auf Picards Bitte hin in den ersten Gang hinunter.

       »Wir sind auf Gut Staberhof,« er deutete nach links, »dort das Wohnhaus und ihm gegenüber hier rechts vorn die Barockscheune, die Ernst Ludwig Kirchner gemalt hat. Wir wollen an ihr vorbei in den Weg da vorn und gleich nach links.«

       Weit dehnte sich das Ackerland, es wurde von hohen Bäumen umrahmt. In der Ferne ahnte Olivia so etwas wie einen Wald, es war schön hier. Doch Felix Picard führte sie, ohne einen Blick für das Land in der einsetzenden Dämmerung zu haben, ins Haus. Und durch einen geräumigen Windfang, in dem sie ihre Jacken aufhängten, gleich wieder hinaus. So kam es Olivia

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