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»Alexander ist so altmodisch wie du und hat keinen Telefonanrufbeantworter. Da ich es aber wirklich schön gefunden hätte, gemeinsam nach Fehmarn zu fahren, habe ich seine Zugehfrau angerufen, als er nie abhob. Sie ist mittlerweile so etwas wie sein guter Hausgeist geworden, kümmert sich um sein Atelier und seine Post, wenn er nicht da ist und erst recht, wenn er da ist. Sie ist ganz sicher, dass er nicht mal für eine Nacht in London war. Und sie wüsste es bestimmt.«

       »Das Flugpersonal streikt gerade nicht, bleibt nur noch ein Unfall…«

       Amanda nickte beinahe so langsam, wie Picard es getan hätte: »Das ist das einzige, was bleibt. Und der muss sehr schwer sein, denn mit einem gebrochenen Bein kann man ohne weiteres telefonieren. Das hätte er auch getan, Felix Picard hätte von ihm gehört!« Sie leerte entschlossen ihr Glas: »Lass uns gehen. Unser Wohnzimmer ist warm und behaglich. Und wenn ich richtig gesehen habe, stand eine Flasche Rotwein auf dem Wohnzimmertisch. Ein Hoch auf Frau Nüßler!«

      Kapitel 3

      Der neue Morgen entwickelte sich nach nebelverhangenem Zögern zu einem strahlenden Blau. Olivia hatte sich mit der Landkarte besprochen, dabei eine weitere Steilküste und einen nahe daran gelegenen Parkplatz entdeckt. Dort am Meer unter diesem enorm blauen Himmel spazieren zu gehen, musste unbedingt ein Vergnügen sein, überzeugte sie Amanda schließlich. Und wieder rollten sie über das flache Land. Im Auto herrschte Schweigsamkeit. Olivia summte leise, aber auch der Regenbogen war mit einem Ende auf Fehmarns flachem Grün aufgekommen, Amanda schien sie nicht einmal zu hören. So versuchte Olivia, sich mit den Kopfweiden zu unterhalten. Die dicken Stämme mit ihren tiefgefurchten Rinden und den lichten Laubkugeln darüber gefielen ihr und sie stellte sich vor, welche bizarren oder drohenden Gestalten sie in der Dämmerung annehmen mochten. Die Bäume ihrerseits schienen kein Gespräch mit ihr zu wollen, sie standen in trauter Reihe nebeneinander und waren sich selbst genug. So kam es ihr jedenfalls gegen Ende der kurzen Fahrt vor.

       Ruhig gingen sie am steinigen Strand entlang, zu ihrer linken ein dunkles blaues Meer, das mit nahezu lautlosem Plätschern an die Steine leckte, und zu ihrer Rechten eine weiße Steilküste, über deren oberen Rand Gras und Brombeerranken wuchsen, darüber ein Himmel in dem gleichen Blau wie die Fahne von Fehmarn.

       »Was für ein unglaublich schöner Herbsttag!« Es roch nach Algen und nassem Sand. Olivia griff nach einem kleinen flachen Stein und versuchte, ihn über die glatte Wasserfläche springen zu lassen. Zu ihrer eigenen Überraschung gehorchte er dem Befehl ihrer Hand einmal, zweimal, dreimal, dann sank er hinunter. Sie drehte sich zu Amanda um. Deren lange, blonde Haare rührten sich leicht im Wind. Aufrecht stand sie vor der Weite der Ostsee und sah sehr schön aus. Doch schien sie sich ihrer selbst heute nicht bewusst zu sein. Immerhin reagierte sie auf Olivias Blick.

       »Hoffentlich entwickelt der Tag sich weiter so strahlend… Entschuldige, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Ich hatte unbewusst fest mit einem Anruf von Alexander zum Frühstück gerechnet. Wohl weil er ausblieb, kam mir das weite flache Land heute kahl, leer und trostlos vor. Und ähnlich fühle ich mich… irgendwie… lächerlich, nicht?«

       »Nein, durchaus nicht. Seinetwegen bist du hergekommen, und er ist nicht da. Das allein reicht schon, um einem die Stimmung zu verderben. Normalerweise wärest du jetzt ärgerlich, das wäre immerhin gesund. Stattdessen hat Felix Picard dich mit seiner Angst angesteckt.«

       »Sie ist unbehaglich, das kann ich dir sagen!« Amandas Blick kehrte von der Wasseroberfläche zurück. »Vor der Sonne ist heute ein riesiger grauer Schirm aufgespannt. Selbst die Lichtflecken auf dem Wasser glitzern mich bösartig an… als wollten sie stechen.«

       »Dann beachte sie nicht mehr. Komm, lass uns vorlaufen und schauen, was es hinter der Biegung zu sehen gibt.«

       Entschlossen ausschreitend kamen sie bis zum Leuchtturm von Staberhuk, Amandas ausgestreckter Arm zeigte nach oben. Dort stand der schwere Turm hinter Weißdorngestrüpp gegen den Himmel, er ragte noch einmal so hoch auf wie die weiße Küste, auf der er stand. In Olivias Gesicht blitzte ein kurzfristiges Vergnügen auf: »Das deutsche ›huk‹ in seinem Namen meint Ecke,« legte sie dar, »die Niederländer haben dieses Wort auch, sie schreiben es bereits mit oe und hinter dem Kanal in England heißt es dann ›hook‹, wie Captain Hook in ›Peter Pan‹ mit seinem Haken statt der einen Hand. Es gibt viele Brücken, die man über Europa schlagen kann. Der Name der Skulptur, die wir heute zu sehen bekommen werden, gefällt mir sehr.« Sie drehte sich herum und streckte den Arm aus: »Und der Streifen dahinten am Horizont – Land?«

       »Land. Wieder Mecklenburg. Die geographischen Realitäten sind ziemlich stabil, jedenfalls an der Länge eines Menschenlebens gemessen.« Auf Amandas Gesicht zeigte sich ein leichter Glanz, ähnlich dem auf dem gekräuselten Meerwasser. Immer noch ziemlich schweigsam, doch einträchtig machten sie sich auf den Rückweg.

      ⋆

      In ihrer Küche unter der Schräge aßen sie eine Kleinigkeit, deren Herstellung Olivias Kochkunst nicht weiter strapaziert hatte. Die Stimmung der Freundin stellte dagegen eine echte Herausforderung dar. Üblicherweise betrachtete Amanda die Mitmenschen mit dem distanziert klugen Blick der Schriftstellerin, neigte dazu, alles um sich her zu Material für ihre Romane zu verarbeiten. Der Wirklichkeit so unmittelbar ausgeliefert wie jetzt hatte Olivia sie nur selten gesehen. Sie dachte an die sehr dunklen Augen und die fest geschlossenen schmalen Lippen von Picard, an sein langsames Sprechen. Alles an ihm zeugte von großem Ernst, der offensichtlich umstandslos die vielen Schichten zwischen Amanda und der Welt überwunden hatte. So war seine Angst auch zu ihrer geworden. Deshalb saßen sie hier in den bergenden Wänden des Nüßlerschen Hauses, erreichbar, ohne das jemand das wollte. Warten war ganz schlecht.

      ⋆

      Zwei Uhr mittags. Burgtiefe. Die Wiese. Die beiden Engländerinnen standen auf grünem Rasen, etwas abseits der vielen redenden, rufenden und lachenden Menschen, die sich um das weißverhüllte Ding am Ufer sammelten. Ebenfalls abseits, nah an der Wasserkante, stand ein großgewachsener Mann, dessen sichtliche Neugier auf die zusammenströmenden Leute seinem abgesonderten Standort widersprach. Auch hier Wasser ringsum, Olivia stellte es eher beiläufig fest, dieses Mal das gegenüberliegende Ufer sehr nah, es war die andere Seite der Bucht, also auch Fehmarn. Sie sah dort einen großen roten Speicher mit Treppengiebel, ansonsten nicht viel, denn die Wasserfläche zwischen den beiden Inselufern trug eine Flotte von Fischkuttern, mit hoch hinauf gespannten Wimpelketten, als liefen sie noch unter Segeln.

       Irgendwo schlug eine Schiffsglocke vier Glasen. Das Stimmengewirr verebbte. Ein barhäuptiger Mann in dunkelblauem Mantel, weißes Hemd und Krawatte leuchteten hochoffiziell daraus hervor, räusperte sich. »Liebe Freunde, wir haben uns hier im Zeichen der Brücke versammelt. Nicht im Zeichen der Belt-Brücke, die als zukunftsweisender Schatten am anderen Ende unserer Insel für kontroversen Diskussionsstoff sorgt, sondern im Gegenteil und am entgegengesetzten Ufer im Zeichen gegenwärtiger und vergangener Brücken. Vergangen ist die Künstlervereinigung ›Die Brücke‹, deren herausragendster Vertreter Ernst Ludwig Kirchner vor achtzig Jahren vier Sommer auf unserer Sonneninsel verlebte. Zahlreiche seiner bedeutendsten Bilder entstanden hier und zeugen heute in den Museen der Welt von Fehmarns Schönheit. Von ihm führt eine Brücke der Tradition zu unseren gegenwärtigen Malern Juro Kienhardt, Felix Picard und Alexander Hyde.« Auf seine einladend auffordernde Geste hin traten Kienhardt und Picard neben ihn. Freundlicher Applaus grüßte die beiden Künstler. Fest griff Amandas Hand in Olivias Ärmel.

       »Eine Gruppe weltoffener Fehmaraner, die sich den Namen ›Brücken – heute‹ gab…« Olivias Augen flogen über die Menschen und umkreisten Felix Picard und Juro Kienhardt. Beide starrten in das Gras schräg vor ihren Schuhspitzen und hörten aufmerksam zu. Allerdings blieben ihre Mienen unbewegt bei jeder Anspielung, die die anderen Zuhörer zum Schmunzeln oder Lachen brachte. Der Griff in ihrem Ärmel wurde noch fester. »Er ist nicht gekommen.« Olivia schüttelte bestätigend den Kopf.

       »Auf Fehmarn zu leben, bedeutet, Brücke zu sein zwischen den Völkern Europas. Als Insel in der Ostsee zwischen den Ländern des Kontinents und Skandinaviens ist Fehmarn mehr als ein Schatten unter der Vogelfluglinie, es ist eine handelnde und verbindende

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