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Hyde eine Skulptur in Auftrag, die dies aufs Schönste darstellt – davon bin ich überzeugt und so gespannt wie wir alle auf das, was sich nun enthüllen wird!« Der Bürgermeister zog mit leichtem Grinsen eine Polizeipfeife aus der Manteltasche und blies kräftig hinein.

       In der allgemeinen Überraschung hörte niemand das Flügelschlagen eines großen Schwarmes weißer Vögel, der aus dem Nirgendwo kommend über die Köpfe dahin schwirrte und sich auf das weiße Ding hinab senkte. Eine halbes Hundert dressierter weißer Tauben streckte seine Krallen nach dem leichten Schleier aus und flog mit ihm davon. Gleichzeitig tönten die Nebelhörner aller Fischkutter so laut und so fabelhaft disharmonisch, dass der Rest der Feierlichkeit in lauten Jubel überging. Die Vorsitzende der Bürgervereinigung trat an die nun allen sichtbare Skulptur, sie strich über einen himmelstürmenden Stahlbogen und wandte sich um. Die Nebelhörner tuteten weiter und weiter, Jubel und Zurufe hielten an, bis sie lachend mit den Karteikarten ihrer vorbereiteten Rede winkte, sie in ihre Jackentasche versenkte und mit weitausgreifenden Armbewegungen einlud, näherzukommen und anzuschauen, was es da nun Neues gab.

       Die Menschen stürmten nach vorn, der Bürgermeister schüttelte Hände und die Flucht von Kienhardt und Picard wurde vereitelt. Amanda und Olivia standen nun noch ein wenig weiter abseits.

       »Wer hat sich bei diesem Festakt durchgesetzt, Hyde oder die Fehmaraner, was glaubst du?« Olivia sah noch hinüber. »Die Skulptur wirkt sich wie die Flöte des Rattenfängers von Hameln auf die Menschen aus und das nahe Wasser bietet sich an, die Höhle zu ersetzen.«

       »Du vergisst, das die Menschen hier mit Wasser bestens vertraut sind. Sie lassen sich nicht einfach hinein locken und Kinder sind sie auch nicht. Als Engländerin oder zumindest als halbe solltest du dem Meer geneigter gegenüberstehen.«

       Olivia lachte: »Ich liebe das Meer, wenn ich auf den Kreidefelsen von Kent oder an der Küste von Cornwall stehe. Du weißt das. Das Problem hier ist eher das Land, es ragt nicht wirklich aus dem Meer auf. Ich spüre noch immer die Sorge, dass die Ostsee einmal vergessen könnte, das es da ist und einfach darüber hin spült.«

       Amanda sah die Freundin nachdenklich an und nickte zustimmend. Sie wandte sich von den Menschen ab und schaute über den flachen Strand aufs Wasser: »Bevor wir Fehmarn entdeckten, verbrachten wir, meine Eltern und ich, einen Sommer in der Romney Marsh. Sie ist mindestens so flach wie das Land hier und durch einen schmalen, aber schiffbaren Kanal von Kent getrennt. Ich stellte mir gern vor, sie sei eine Insel, die zeitweilig an Englands sicherem Ufer festgemacht hatte. Folgerichtig, wie Kinder sein können, empfand ich Fehmarn wie ein Schiff, das jederzeit die Leinen kappen und sich ins freie Meer hinausbewegen kann, wenn es das denn will.« Nach kurzer Pause ergänzte sie: »Auf einer Insel, einer echten Insel, kann man sich enorm frei fühlen. Eigentlich weiß das jeder Engländer, auch wenn die meisten darüber wohl nicht nachdenken. Ich selbst habe dieses Freiheitsgefühl hier auf dieser Insel entdeckt. Auch dafür liebe ich Fehmarn!« Sie richtete sich noch etwas gerader auf und der zwischenzeitlich weiche Ausdruck in ihren Augen wich einem ernsten: »Die Kindheit ist vorbei! Der Regenbogen ist durchscheinend geworden. Komm – ich will Felix Picard nach Alexander fragen!«

       Die Nebelhörner schwiegen. Das stellten sie als erstes fest. Ein Fischkutter löste sich aus der hinteren Gruppe und steuerte den Sund an, mit all seinen bunten Wimpeln. »Irgendetwas dort drüben hat sich verändert, seit wir hier miteinander sprechen… merkwürdig,« Amanda beschleunigte ihren Schritt. Sie hatte Picard in einer Gruppe neben der Skulptur entdeckt, von der er sich mit einer leichten Verbeugung trennte, als er sie kommen sah.

       »Alexander ist nicht gekommen!« stellte Amanda statt einer Begrüßung fest.

       »Es ist viel schlimmer!« Felix Picard wirkte trotz seiner Wetterbräune fahl. »Seid heute Mittag gibt es einen Brief. Darin steht: ›Wir haben Alexander Hyde davon überzeugt, Fehmarn nie wieder zu betreten. Vereinigung Inselschutz.‹ Die Vorsitzende der Bürgervereinigung, die die Plastik in Auftrag gegeben hat, Dora Frese, die Dame, die ihre Rede den Nebelhörnern opferte, fand ihn unter ihrer Post.«

       »Das klingt wie ein Drohbrief,« stellte Olivia prompt fest. »Warum sollte jemand einen Künstler davon abhalten wollen, sich feiern zu lassen?« Picard sah sie mit seinem eigentümlich finsteren Ernst an und schwieg. »Wer wagt, einen freien Menschen daran zu hindern, seine Termine einzuhalten? Und wieder: warum?«

       »Kommen Sie, Frau Frese soll es Ihnen selbst erzählen. Dann haben Sie es aus erster Quelle.« Zielstrebig wand er sich zwischen den redenden Gruppen hindurch. Der Brief hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Die Gäste und Zuschauer rundum waren aufgeregt, nicht mehr angeregt, beobachtete Olivia, bis sie bei Dora Frese ankamen. Bürgermeister Hinrichsen stand bei ihr und noch zwei Fehmaraner, wie sich schnell herausstellte.

       Frau Frese wandte sich ihnen zu und Picard hielt sich mit Höflichkeiten gegenüber einem Gespräch, das er sichtlich gerade unterbrach, nicht auf: »Frau Cranfield und Frau Lawrence sind Freunde von Alexander Hyde und für das heutige Ereignis aus England nach Fehmarn gekommen. Bitte erzählen Sie Ihnen, was Sie mir erzählt haben.«

       Die so Angesprochene drückte ihnen stumm die Hand, sah zu Picard hinauf und suchte fast hilflos nach den richtigen Worten. Die anderen schwiegen, sogar der Bürgermeister.

       »Wir haben den kurzen Text des Briefes gehört, den Sie heute bekommen haben,« kam Olivia ihr zu Hilfe. »Ist es dieser eine Satz, der die Stimmung hier so dramatisch umschlagen ließ?«

       Frau Frese nickte: »Der Brief und die Tatsache, dass Herr Hyde wirklich nicht gekommen ist.«

       »Zu Beginn der Veranstaltung wusste es niemand?«

       »Nur wir zwei,« schaltete sich der Bürgermeister ein, »wir wollten uns von einem Drohbrief die festliche Enthüllung nicht verderben lassen, uns nicht und unseren Gästen nicht. Die Fehmaraner leben zu einem ganz wesentlichen Teil vom Tourismus.«

       »Ja, so ist es,« bestätigte Frau Frese. »Aber dann fragten die Leute nach dem Künstler und als Ärger aufkam über sein Fernbleiben, hielt ich es für richtig, die Situation zu erklären.« Sie sah den Bürgermeister herausfordernd an: »Rufmord zuzulassen ist ganz schlechte Tourismuswerbung, glauben Sie mir!«

       »Die Leute hier sind offensichtlich aufgeregt und bedrückt zugleich,« fuhr Olivia unbeirrt fort, »was steckt hinter dem Brief? Was ist das für eine ›Vereinigung Inselschutz‹?«

       »Wir wissen es nicht, niemand kennt sie…«

       »Und weiter!« drängte Olivia. Sie sah von Frau Frese zu Bürgermeister Hinrichsen, ihr war es gleich, wer antwortete, nur sollten sie endlich zum Kern des Falles kommen.

       »Also,« Dora Frese raffte sich auf, »dieser Brief ist der dritte seiner Art. Von den anderen habe ich nur gehört. Der erste kam vor einem Jahr und betraf einen Immobilienmakler, der hier und in Heiligenhafen eine Agentur hat. Er kam nicht nur nicht wieder auf die Insel, er wurde überhaupt nicht wieder gesehen. Der zweite Brief fällt in das letzte Frühjahr und war an einen Tischlermeister adressiert. Der Brief bezog sich auf einen Lübecker Architekten, der bei uns auf der Insel einige Projekte laufen hat, unter anderem in Zusammenarbeit mit jenem Tischlermeister.« Sie schwieg.

       »Und der Lübecker Architekt wurde ebenfalls nicht wieder gesehen?«

       »Nein.«

       »Weder hier noch in Lübeck?« drängte Olivia voran.

       »Entsetzlich, nicht?«

       Amandas Augen klammerten sich an den Maler: »Alexander ist tot. Deswegen war er nicht in London. Deswegen überwachte er die Aufstellung der Plastik nicht selber. Und deswegen ist er jetzt nicht hier. Sie glauben das auch, nicht wahr?« Felix Picards dunkle Augen stimmten ihr zu.

       »Ich nehme an, die Polizei ist bereits an der Arbeit?« Olivia sah Herrn Hinrichsen abwartend an.

       »Sie weiß noch nichts von dieser Entwicklung. Ich hatte gehofft, die Presse könne morgen erst einmal in Ruhe vom heutigen Tag berichten. Frau Frese wird mir den Brief jetzt geben und ich fahre von hier direkt zur Polizeistation.« Er sah auf die Uhr. »Das sollte innerhalb der nächsten Stunde passieren. Wenn Sie mir den Brief aushändigen wollen,« er streckte die Hand vor und trachtete gleichzeitig, Olivia zu übersehen.

      

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