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um die Grundformen wiederzuerkennen, ich könnte zum Beispiel an unseren Regenbogen denken… jeder dieser Bögen zeigt in eine andere Richtung – bei Regenbögen wäre das allerdings ein Naturwunder. Der schlichte Menschenverstand wird die Richtung der Bögen geographisch deuten, denke ich mal, ein grüblerischer Mensch wird ihnen vielleicht Ideen zuordnen und alles stimmt zu dem, was man sieht und alles ist offen.«

       Lange blieben sie dort, gingen um die Plastik herum, versuchten deren Umgebung auf sie zu beziehen und tauschten ihre Gedanken aus. »Dieses Ding ist wirklich schön!« stellte Amanda entschieden fest. »Warum vertreibt man einen Künstler deswegen von der Insel? Bitte, erklär mir das!«

       »Kann ich nicht!« – Sie gingen am Wasser entlang, zügig und schweigend. Als sie den Sandstrand erreichten, wurden sie langsamer. Aber selbst jetzt reagierte Amanda weder auf den Sand noch auf das Meer. »Vielleicht könnten wir diese Fischbrötchen essen, bevor meine Finger stärker nach ihnen riechen, als Seife den Geruch vertreiben kann. Stell dir vor, ich müsste sogar im Schlaf Fisch riechen…« Olivia hielt ihr das Päckchen mit theatralischer Miene unter die Nase.

       »Fehmarn – ein Albtraum…«

       Sie machten einen langen Strandspaziergang unter tiefblauem Himmel. Meeresluft und leichter Wind umschmeichelten sie und gesellten der Angst um den Freund noch einmal die Hoffnung auf ein gutes Ende zu. Gestärkt kehrten sie zurück. Amanda telefonierte mit Felix Picard und erfuhr, dass die Polizei ihm und den Kienhardts einen Besuch abgestattet hatte. Sie hatten ihnen die Fragen beantwortet, so gut sie es wussten, selbst aber nichts Neues erfahren. Von den beiden Engländerinnen war nicht gesprochen worden.

       »Eigentlich schade,« kommentierte Olivia diese Zurückhaltung, »so kommen wir nie zu neuen Informationen.«

       »Die Polizisten waren schweigsam wie Ostseefische. Picard hat von ihnen nicht eine Information bekommen. Also wurde er auch nicht mitteilsam, geschieht ihnen ganz recht.«

       »Hältst du für möglich, dass Felix Picard je mitteilsam werden könnte? Das hat immerhin mit mehr reden zu tun…«

      Kapitel 6

      Der nächste Tag war ein Sonntag und vollkommen informationsfrei. Olivia bekämpfte ihre aufkeimende Unrast, indem sie die Arbeit für einen Text über Alexander Hyde für ihre Essayreihe in der Süddeutschen Zeitung begann und dazu Amanda in ein langes Gespräch über ihren Freund, seine Kunst und die zugehörige Szene in London verwickelte. Sie hätte den Verschwundenen wirklich gerne kennengelernt. Endlich, der Tag war schon ziemlich fortgeschritten, unternahmen sie einen langen Spaziergang unter der Steilküste hinter Katharinenhof. Der Himmel war noch immer blau, die Luft sehr weich und das Meeresmurmeln wurde nur vom Knirschen ihrer Sohlen auf Sand und Steinen übertönt.

       »Sag mal, Alexander wird doch nicht nur an dieser Skulptur gearbeitet haben, einen ganzen Sommer lang. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist er zuallererst Maler. Da ist es doch wahrscheinlich, dass es hier auf Fehmarn Bilder von ihm gibt, oder nicht? Die würde ich wirklich gern sehen. Los, lass uns Picard überfallen und ihn fragen!«

       »Weißt du denn, wo er wohnt?«

       Olivia blieb abrupt stehen: »Nein! Ist das zu fassen!« Sie sah Amanda an: »Am Telefon kann er zwar ›nein‹ sagen… aber warum sollte er das tun… Magst du ihn anrufen und dir von ihm den Weg erklären lassen?«

       Automatisch griff Amanda in die Tasche ihrer Barbourjacke. Leer zog sie sie wieder heraus: »Wie kann das sein, mein Telefon ist weg!« Erleichternd schnell erinnerte sie sich, dass es in der Ferienwohnung lag, beiseite gelegt wie zu Hause das Festnetzgerät.

      ⋆

      Olivia verfolgte schon den nächsten Gedanken: »Immerhin haben wir eine vage Erinnerung, wo die Kienhardts wohnen. Mit Hilfe der Karte werden wir sie wohl finden.«

       Amanda seufzte: »Ein Überfall auf Felix Picard wäre mir wirklich lieber, aber da ist nun keine Hilfe!«

       Und wieder rollte der Wagen über das flache Land. »Eigentlich könnte Picard uns hier umherirren sehen und eine Signalflagge aus dem Fenster hängen,« schlug Amanda vor.

       Olivia lachte: »Ich verwahre mich gegen das Wort ›umherirren‹.« Energisch drückte sie ihren Finger auf die Karte: »Wir sind hier, kurz vor Meeschendorf, von da wollen wir nach Staberdorf, das wird ja wohl ausgeschildert sein, und hinter Staberdorf halten wir die Augen offen nach dem Schild ›Verboten is‹, da wollen wir dann hinein. Und was Felix Picard betrifft, kann ich ihn mir gar nicht als Fenstergucker vorstellen.«

       Sie fanden das Verbotsschild und bogen unter fröhlicher Missachtung desselben in die gesperrte Straße ein. Hinter dem Hofgitter schaltete Amanda rücksichtsvoll in den ersten Gang. Doch machte das ihren Wagen natürlich nicht unsichtbar und sie sah im Rückspiegel, wie sich die Tür des Gutshauses öffnete und eine Gestalt drohend den Arm hinter ihnen her schwenkte. Ungerührt und unverändert langsam rollte sie weiter und bog um die Ecke der Scheune.

       »Fehmaraner Gastfreundschaft. Ein Gefühl im Magen sagt mir, dass die Kienhardts unser Auftauchen auch nicht begeisternd finden werden.«

       »Unwichtig!« erklärte Olivia. »Schließlich sind wir nicht zum Spaß hier.« Sie läutete.

       Es brauchte eine Weile, bis Juro Kienhardt öffnete: »Ja…«

       »Guten Tag!« grüßte Olivia ihn freundlich. »Sie erinnern sich an uns? In den letzten Tagen haben wir so viel über Alexander geredet, dass ich gar zu gerne Bilder von ihm sehen würde. Da kam mir der Gedanke, dass es hier auf Fehmarn doch sicher einige geben wird. Die würde ich gern anschauen.«

       »Meine Agnes ist nicht da. Ich kann Ihnen deshalb nicht helfen.« Kein Muskel rührte sich an dem Sprecher. Verblüfft musterte Olivia ihn: die schmalen Augen mit einem ganzen Fächer von Falten, als blinzele er ständig gegen die Sonne, eine scharfe Nase, Lippen wie nach innen gezogen unter einem kleinen Schnauzbart. Würde nicht die hohe Stirn Großzügigkeit in dieses Gesicht bringen, wäre sie jetzt geneigt, ihn für einen Troll zu halten.

       »Schade… Aber Sie können uns doch sicher sagen, wo wir Felix Picard finden.«

       Es regte sich weiterhin kein Muskel an Juro. Als Olivia gerade überlegte, ob er sie schon wieder vergessen haben konnte, sprach er. Picard wohnte, von ihrem jetzigen Standort aus gesehen, am Ortseingang von Staberdorf. Der Dachaufbau machte dass Haus unverwechselbar. Es klang ziemlich einfach. Olivia bedankte sich, Amanda neigte leicht den Kopf und Juro Kienhardt schloss die Tür, bevor sie sich noch zum Gehen gewandt hatten.

       »Hat man Töne!« Dieser Ausruf entfuhr Amanda allerdings erst, als sie die Autotür hinter sich zugeschlagen hatte. »Dieser Gnom! Ich mochte ihn schon gestern nicht.«

       »Meine Assoziationen waren noch unfreundlicher,« Olivia kniff die Augen zusammen, »mir kam er wie ein Troll vor, einer von der großen, hintergründigen Sorte, der Mann dürfte mindestens eins neunzig groß sein.« Auf der Karte fanden sie Auskunft darüber, dass es einen zweiten Weg zur offiziellen Straße zurück gab; sie mussten den Gutsbesitzer nicht noch einmal ärgern.

       »Wenn wir noch eine kleine Weile hier bleiben, werden wir alle auf der Karte verzeichneten Straßen und Wege einmal gefahren sein,« teilte Olivia mit, »ziemlich kurios, nicht wahr?«

       »Eine Insel ist eben eine Insel.« Diese Feststellung war unangreifbar.

      ⋆

      Felix Picard begrüßte das englische Überfallkommando auf seine bedächtige Weise wie alte Freunde. »Gerade überlegte ich, ob Sie wohl heute Abend mit mir irgendwohin zum Essen gehen würden. Dieses Warten ohne Nachrichten ist doch sehr ärgerlich. Und es ist alles andere als gastfreundlich, Sie dabei auch noch sich selbst zu überlassen.« Während er sie einließ, grüßte er zur Straße hinüber.

       Olivia fing das Bild eines Radfahrers mit Schirmmütze ein. »Einen interessanten Anhänger hat dieses Rad,« stellte sie fest.

       Picard hielt den Türgriff tatenlos fest: »Selbstgebastelt aus Bauholz, nicht sehr groß, aber sehr stabil.« Als Olivia ihm weiter

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