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Sie wollte nicht stören, und womöglich war die Frau noch immer verärgert.

      „Bleibt bitte, Mara“ forderte Lorana sie auf. „Ich habe auf Euch gewartet. Setzt Euch einen Augenblick zu mir.“

      „Ihr habt gewusst, dass ich komme?“, wunderte sich Mara.

      „Ich habe damit gerechnet“, erklärte die Hohepriesterin kühl. „Ich komme oft des Nachts hierher, wenn ich in Ruhe nachdenken will. Und gerade jetzt habe ich über sehr vieles nachzudenken.“

      Mara setzte sich in gebührendem Abstand zu der Frau. „Auch über mich?“

      „Vor allem über Euch. Ihr seid …“

      „Ich bin nicht die Person, die Ihr erwartet habt“, warf Mara ein. „Und Ihr wisst nicht, was Ihr von mir halten sollt. Oder könnt.“

      „Das ist richtig. Zumindest seid Ihr nicht dumm. Könnt Ihr lesen und schreiben?“, verlangte die Hohepriesterin zu wissen.

      „Südländisch, ja, bei Manduranisch bin ich mir nicht ganz sicher.“

      „Es besteht kein großer Unterschied in der Schrift, das lernt Ihr schnell. Vielleicht solltet Ihr in nächster Zeit einmal mit Réa in die Stadt gehen, sie unterrichtet dort Kinder aus dem Hafenbezirk. Sie hält das für eine wichtige Aufgabe, obwohl …“ Die Frau zuckte die Achseln. „Es ist ihre Zeit. Ihr könntet ihr helfen und gleichzeitig selbst etwas lernen. Mein Sohn erzählte mir, Ihr könnt singen?“ Loranas Fragen klangen, als würde sie eine innere Liste abarbeiten.

      „Ja, wenn Ihr mir Text und Melodie beibringt. Ich kenne nur wenige manduranische Lieder“, gab Mara zu.

      „Ich dachte mehr an das, was während der rituellen Handlungen und Zeremonien in einem Tempel gesungen wird. Wir werden sehen. Gute Sängerinnen sind selten. Versteht Ihr etwas von der Heilkunst?“, wollte Lorana als nächstes wissen.

      „Ein bisschen, ich kann Wunden und Verletzungen versorgen, wenn nötig auch nähen, und ich weiß einige Krankheiten zu behandeln.“

      „Gut, dann werdet Ihr zusammen mit den Priesterschülerinnen Unterricht bei den Heilerinnen erhalten“, entschied Lorana. „Natürlich nur, wenn Ihr selbst es wollt.“

      Mara nickte. „Ja, natürlich.“

      „Na bestens. Kommen wir also zu den Dingen, die nicht so einfach zu regeln sind …“ Die Frau zögerte einen Moment und setzte dann erneut an: „Um es kurz zu machen, ich biete Euch an, von mir unterrichtet zu werden. Ich werde Euch alles beibringen, was ich weiß. Und Ihr erhaltet Zugang zum Tempelarchiv.“

      Mara schwieg verblüfft. Damit hatte sie nicht gerechnet! Aus irgendeinem Grund war Lorana ihr gegenüber plötzlich sehr großzügig und freundlich, und das beunruhigte sie weit mehr als ihre gestrige Feindseligkeit. Ihre Stimme klang leise und gepresst, als sie fragte: „Warum lasst Ihr mir eine solche Ehre zuteilwerden?“

      „Weil ich es für sinnvoll halte“, antwortete Lorana ungeduldig. „Ich habe eine Zauberin erwartet und Euch bekommen, ein siebzehnjähriges Mädchen, das außer der zugegebenermaßen beeindruckenden Fähigkeit, mit Leichtigkeit in das Bewusstsein anderer Menschen einzudringen, nichts kann.“

      Das war nicht die Antwort, die Mara hören wollte. Wütend stand sie auf und wandte sich zu der sitzenden, so viele Jahre älteren Frau um. „Ich will wissen, warum?!“ Der laute Klang ihrer Stimme hallte fast bedrohlich von den Wänden des Tempels wider.

      Nicht minder wütend als Mara starrte Lorana sie an. „Schreit mich nicht an, Mara, das wäre nicht sehr klug von Euch. Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, dass Ihr einige sehr mächtige Freunde habt, aber hier im Tempel müsst Ihr mit mir zurechtkommen. Und ich lasse mich von Euch nicht um den kleinen Finger wickeln.“

      „Das ist keine Antwort. Warum, Lorana?“, drängte Mara.

      „So etwas Stures ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Wieso seid Ihr eigentlich so sicher, dass ich Euch antworte?“

      „Nicht ich habe siebzig Männer über die Berge geschickt, um eine Zauberin zu holen“, bemerkte Mara spitz.

      „Ihr seid … wirklich nicht dumm. Ich brauche Euch, der Tempel braucht Euch. Euch, die mächtige Zauberin Mara I’Gènaija.“

      Mara überhörte Loranas Spott. „Warum?“

      „Habt Ihr noch nicht genug gehört? Weil es in naher Zukunft Krieg geben wird in Mandura ... Und so, wie es momentan aussieht, sind unsere Aussichten nicht besonders gut.“

      „Mandura wird den Krieg verlieren?“, fragte Mara betroffen.

      „Ihr habt es doch selbst gesehen!“

      „Gesehen habe ich es nicht“, wehrte Mara ab. „Ihr legt es nur so aus! „Aber nicht alles, was man in Träumen sieht, geschieht auch, das wisst Ihr besser als jede andere, Lorana.“

      Die Hohepriesterin betrachtete sie mit wachsendem Interesse. „Ihr seid eine richtige kleine Kämpferin.“

      Da sie nicht wusste, worauf die Frau hinaus wollte, schwieg Mara. Womöglich wollte Lorana sie nur provozieren.

      „Ihr möchtet am Unterricht im Schwertkampf teilnehmen?“, wechselte Lorana das Thema.

      „Ja“, bestätigte Mara knapp.

      „Ich habe keinen Anlass, es Euch zu verbieten“, beschied die Hohepriesterin. „Ihr könnt gehen.“

      „Gestattet Ihr mir noch eine Frage, Lorana?“

      „Wenn es sein muss“, antwortete die Frau unwillig.

      „Warum habt Ihr Angst vor mir?“

      „Wie kommt Ihr darauf, dass ich Angst vor Euch haben könnte?“

      „Weil Ihr Euch nicht allein mit mir trefft.“

      „Wie bitte?“ Loranas Stimme klang schrill und empört.

      „Ich weiß, dass Malin irgendwo im Dunkeln hinter mir steht“, erklärte sie ruhig.

      „Also das ist … ich habe doch keine Angst vor einem unverschämten kleinen Mädchen, wie Euch!“

      Mara beugte sich zu Lorana, sah ihr lange in die Augen. „Seid Ihr Euch da so sicher?“

      Eilig lief Mara die Stufen zum hinteren Tempelausgang hinauf, rannte lachend durch den Regen. Sie würde lernen, alles, was sie wollte, sie würde sogar kämpfen lernen, mit einem Schwert!

      Und sie hatte Zugang zum Tempelarchiv; sie wusste zwar nicht einmal, wo sich dieses befand, aber es hörte sich großartig an.

      Ausgelassen tanzte sie in ihrem Schlafzimmer herum, ließ ihre Kleidung nachlässig auf den Boden fallen und warf die Stiefel hinter sich. Dann ließ sie sich mit ausgebreiteten Armen aufs Bett fallen. Die sandfarbene Katze, die auf dem Kaminsims gesessen und Maras Treiben gleichgültig zugeschaut hatte, schnupperte neugierig an ihrem Hals. „Möchtest du gestreichelt werden? Oder lieber spielen? Gut, aber nicht kratzen. Ich bin keine Maus.“

      Nein, sie war keine Maus. Manchmal war sie die Katze, die um den Topf mit der Sahne schlich, manchmal war sie selbst die Sahne. Seltsame Gedanken huschten durch Maras Kopf: nicht mehr die Beute sein, sondern der Jäger. „Jawohl, die Beute hat die Seiten gewechselt. Die Beute hat keine Lust mehr, länger das Opfer zu sein. Klingt verrückt, was? Genau so verrückt, wie mit einer Katze zu reden.“

      Sie beobachtete die Katze, die sich sorgfältig das Fell leckte. Bei diesem Anblick kam Mara der Gedanke, dass sie sich auch mal wieder kämmen könnte, einen Kamm hatte sie ja nun. Ihre Haare waren völlig verknotet, es dauerte ewig, bis sie sie auch nur einigermaßen durchgekämmt hatte. Am Ende standen sie wirr in alle Richtungen. Seufzend fuhr Mara sich mit den Fingern durch ihr widerspenstiges Haar, irgendwas machte sie falsch.

      Es musste längst Mitternacht sein, und Sina war noch nicht vorbei gekommen. Ungeduldig lauschte Mara auf ein Geräusch von der Tür und vertrieb sich die Zeit, indem

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