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Winterkönig. N. H. Warmbold
Читать онлайн.Название Winterkönig
Год выпуска 0
isbn 9783742783073
Автор произведения N. H. Warmbold
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Mara lachte. „So habt ihr also die Kaninchen gefangen.“
„Kaninchen?“ Einen Augenblick schien Jula irritiert. „Ach so, im Wald, ja. Nicht der übliche Weg – aber wenn es schnell gehen muss. Zwei, drei Tage, bevor ihr angekommen seid, habe ich Sina getroffen, oder sie mich. Regelrecht ausgefragt hat sie mich nach dir.“
„Sie meinte, du hättest ihr von mir vorgeschwärmt.“
„Ja, das wohl auch. Wir kennen uns schon lange und sie weiß genau, wie man mich zum Reden bringt. Bestimmt hat sie dir erzählt, dass wir aus demselben Dorf stammen?“
„Hat sie.“
„Ich …“ Jula zögerte, bevor er weiter sprach. „Vielleicht sollte ich erst eine Sache zu Ende erzählen. Ihr seid angekommen und … Mara, du warst so schön, du …“ Leidenschaftlich sah Jula sie an und drückte fest ihre Hand. „Natürlich fand ich dich auch vorher schon wunderschön, aber als du mit dem Hauptmann in die Stadt kamst … in diesem Kleid … Du sahst aus wie die kommende Königin.“
Mara war sprachlos vor Erstaunen. „Wirklich?“
„Ja, und ich wette, nicht nur ich hatte diesen Gedanken.“
„Aber … Jula, das ist Unsinn“, widersprach Mara entschieden.
„Glaubst du?“, fragte er mit einem neckischen Lächeln.
„Ja. Das wäre mir wohl kaum entgangen.“
„Das ist anzunehmen.“
Die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen, der Wind frischte auf, wurde böiger. Sanft strich Jula mit den Fingern über ihren Handrücken, legte fürsorglich die Arme um sie. „Ist dir nicht kalt? Zieh lieber deine Jacke wieder an.“
„Aber es ist schöner so“, erklärte Mara „wenn du mich wärmst.“
„Verstehe …“ Jula räusperte sich, bevor er weiter sprach. „Mara?“
„Ja?“
„Du … Mara, hast du mit ihm …“, wollte Jula wissen.
„Ja.“
Sie sah ihn an und lächelte versonnen. Dann legte sie wieder den Kopf an seine Schulter. „Es war … sehr schön und … unwahrscheinlich aufregend.“
„Wie schön! Genau das sollte es auch sein.“
„Ja, so sollte es immer sein.“ Auf einmal stürmten all die verdrängten Erinnerungen mit Macht auf Mara ein, und nichts war mehr schön. Als hätte jemand die Sonne und jegliches Licht gelöscht und es wäre eisige, bitterkalte Nacht.
„Was ist?“ fragte Jula, erschrocken über den bitteren Klang ihrer Stimme, und schaute ihr ins Gesicht. „Du musst es mir erzählen, Mara. Sag doch, was passiert ist, bitte …?“
Sie begann zu weinen, klammerte sich schluchzend an ihn, selbst überrascht von der jähen Heftigkeit der aufdrängenden Gefühle. Jula streichelte sanft ihren Rücken, während er sie im Arm hielt. „Ich bin da, Mara. Und ich helfe dir. Aber du musst mit mir reden. Bitte hör auf zu weinen, Mare. Willst du mir nicht erzählen, was geschehe ist?“
Sie seufzte tief. „Jula, ich …“
„Ja?“
„Ich muss, nein, ich möchte dir etwas erzählen. Es ist … keine schöne Geschichte, ganz und gar nicht, es ist sogar eine richtig schlimme Geschichte, und ich kann verstehen, wenn du sie nicht hören willst …“
„Ich höre dir zu, Mara“, versicherte er ihr.
„Wirklich?“ fragte sie zweifelnd, dann atmete sie tief durch. „Ich … ich habe das noch keinem Menschen erzählt. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll ...“ Ihre Stimme klang, als würde sie im nächsten Moment wieder in Tränen ausbrechen.
„Ist ja gut“, beruhigte Jula sie. „Fang einfach am Anfang an.“
Und Mara begann, ganz am Anfang, schilderte Jula ihr ganzes Leben in allen Einzelheiten, erzählte von ihren Eltern, der Zeit, als die Mutter noch lebte und die Dinge einfach waren. Erzählte Jula dann vom Tod ihrer Mutter und wie ihr Leben danach so viel schwieriger und freudloser wurde. Sprach von den Träumen und den ständigen Schikanen, den Schlägen und der Prügel, die sie nicht allein von ihrem Vater bezog. Von ihrem Vater und davon, dass dieser von dem Wolf getötet wurde, ihrer Wut und all dem angestauten Hass, auch auf ihn.
Mara sprang in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Erlebnisse vor und zurück, brach zwischendurch immer wieder in Tränen aus. Manchmal schrie sie wütend, manchmal flüsterte sie nur noch. Jula hörte die ganze Zeit schweigend und ernst zu. Nicht ein einziges Mal unterbrach er sie, sondern ließ sie einfach reden.
Schließlich erzählte sie ihm von ihrer Freundschaft zu Anella. Berichtete stockend von dem Tag, als Ludeau sie im Stall beobachtet hatte und Mara abfing, als sie Anella ins Haus folgen wollte. Sie schluchzte und ihre Stimme klang heiser vom langen Sprechen. Den Kopf an seinen Hals gedrückt fuhr sie fort: „Er hat mich erpresst! Er hat gesagt, wenn ich nicht tue, was er verlangt, würde er Luca alles verraten und der würde Anella dann nicht mehr heiraten wollen. Immer wieder hat er mich geohrfeigt und mich immer wieder gegen die Wand gestoßen. Was sollte ich denn tun?! Ich konnte mich nicht wehren, weil … Ich hätte Anellas Leben zerstört! Er hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken! Er hat mir wehgetan, Jula, immer und immer wieder, ich konnte nichts tun, und das wusste er genau!“
Sie presste die Zähne aufeinander, dann fuhr sie fort. „Aber wie weh er mir auch tat, ich habe nicht geschrien, ich habe nicht geweint. Ich habe ihn auch nicht angefleht, mir wenigstens nicht mehr so weh zu tun, mich nicht mehr zu schlagen. Das nicht! Eines Tages wird er dafür bezahlen, sagte ich mir immer wieder, irgendwann bringe ich ihn um. Dann habe ich mir in allen Einzelheiten ausgemalt, wie ich ihn töten würde. Und glaub mir: es wäre ein langwierig und qualvoller Tod für diesen Dreckskerl geworden.“
Mara verstummte, schloss müde die Augen. Sie fühlte sich ausgelaugt, vollkommen leer. War ganz ruhig, lauschte dem Wind, den Geräuschen der Stadt, Julas Atem.
Er schluckte, seine Stimme klang rau, heiser. „Mara?“ begann er schließlich, „Du weißt, dass er tot ist?“
„Ja, Reik hat es mir erzählt. Er hat es … gewusst, die ganze Zeit über. Er hat kein Wort gesagt. Bis er dann … er sich wohl dachte, ich würde es von mir aus niemals sagen, jedenfalls nicht ihm, und … Manchmal habe ich das Gefühl, ich weiß überhaupt nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Er … hat Gedanken und Hintergedanken und daneben noch mehr Gedanken. Ich glaube, er denkt sehr … um die Ecke. Sicher spielt er gut Schach, da muss man so denken.“
Sie bemerkte Julas verzweifelten Blick und legte behutsam die Hand an seine Wange. „Jula? Was ist denn? Oh, Jula, es tut mir leid, ich hätte dir das nicht erzählen sollen, nicht jetzt, ich habe dir den ganzen …“
„Darum geht es doch gar nicht, Mara“, wandte er mit belegter Stimme ein. „Es war absolut richtig, dass du mir alles erzählt hast, und ich bin überwältigt von deinem Vertrauen. Nur, dass ich nicht so schnell zu einem anderen Thema übergehen kann, nicht nach dem, was du mir anvertraut hast. Wenn du das kannst, ist das bewundernswert und womöglich auch notwendig, um nicht verrückt zu werden. Aber ich kann das nicht.“
„Ja, es ist notwendig, jedenfalls … war es das bisher. Wenn ich zu lange, wenn ich überhaupt auch nur daran gedacht habe, war eine solche Wut in mir, ein solcher Hass, dass ich das Gefühl hatte, davon … verschlungen zu werden. Als könnte allein der Gedanke mich zerstören“, erklärte sie. „Und von ohnmächtiger Wut, von dem Hass,