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Schilfrohr im Winde. Grazia Deledda
Читать онлайн.Название Schilfrohr im Winde
Год выпуска 0
isbn 9783752932911
Автор произведения Grazia Deledda
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Lange geborstene Mauern, eingestürzte Häuser ohne Dach, zerfallene Höfe und verwilderte Gärten, noch ziemlich gut erhaltene Hütten, die aber fast noch trauriger anmuten als all die Trümmer, säumen die steilen, in der Mitte mit mächtigen Sandsteinquadern gepflasterten Straßen ein; Lavabrocken liegen umher und erwecken den Anschein, dass ein Erdbeben die alte Stadt zerstört und die Bewohner in alle Winde zerstreut habe; da und dort taucht auch ein neues Haus fast schüchtern in der trostlosen Öde auf, und Granatapfel- und Johannisbrotbäume, etliche Feigensträucher und Palmen verleihen der traurigen Stätte ein freundlicheres Gepräge.
Aber je höher Efix stieg, desto öder und verlassener wurde es um ihn her, und zu allem Überfluss ragten dort am Straßenrand, im Schatten des Berges, zwischen dichtem Brombeer- und Wolfsmilchgestrüpp, auch noch die Überreste eines alten Kirchhofs und die zerfallene Basilika düster in den Himmel. Die Straßen waren wie ausgestorben, und die Felsen auf der Bergkuppe schimmerten wie Leichensteine ins Land.
Efix machte vor einem großen, an den alten Friedhof grenzenden Tor halt. Die beiden Tore waren fast gleich; drei verwitterte, grasüberwucherte Stufen führten zu ihnen empor. Aber während das Tor des alten Kirchhofs nur von wurmstichigem Gebälk überdacht war, wölbte sich über dem der Damen Pintor ein steinerner Rundbogen, und auf dem Pfeiler war ein verblasstes Wappen angedeutet: ein Ritterkopf mit einem Helm und ein mit einem Schwert gewappneter Arm. Darunter stand als Wahlspruch: Quis resistit hujas?
Efix schritt durch den weiten, viereckigen Hof, durch den sich ein breiter, wie das Straßenpflaster aus Sandsteinquadern zusammengefügter Rinnstein zog, nahm den Sack von den Schultern und blickte um sich, ob nicht eine seiner Herrinnen zu sehen sei. Das einstöckige Haus erhob sich am Ende des Hofes, im Schutz des Berges, der wie eine riesige, weiß und grün gescheckte Haube auf ihm zu ruhen schien.
Drei kleine Türen gähnten unter einer Holzveranda, die um das ganze Haus lief und zu der außen eine morsche Stiege emporführte. Ein schwärzliches Seil, das um die in der untersten und obersten Stufe eingerammten Nägel geknotet war, ersetzte das abgebrochene Geländer. Die Türen, die Stützen und das Geländer der Veranda waren zierlich geschnitzt, aber alles drohte einzustürzen, und es sah aus, als wenn das schwarzverwitterte, wurmstichige Holz beim geringsten Lufthauch zu Staub zerfallen müsste.
Eine kleine, beleibte, schwarzgekleidete Frau, die ein weißes Tuch um das dunkle, eckige Gesicht trug, trat auf die Veranda; sie beugte sich über das Geländer, erblickte den Knecht, und ihre schwarzen, mandelförmigen Augen leuchteten freudig auf.
»Ah – Fräulein Ruth! Guten Morgen, Herrin!«
Hurtig kam Fräulein Ruth die Treppe herab, mit dicken Beinen, die in dunkelblauen Strümpfen steckten. Sie lächelte ihn freundlich an und ließ die schneeweißen Zähne unter der von einem zarten Flaum beschatteten Lippe sehen.
»Und Fräulein Esther? Und Fräulein Noemi?«
»Esther ist zur Messe gegangen, Noemi steht eben auf. Herrliches Wetter, Efix! Und wie steht es mit dem Gut? «
»Gut, gut – Gott sei Dank, sehr gut. «
Auch die Küche hatte einen mittelalterlichen Einschlag: groß, niedrig, mit einer rußgeschwärzten Balkendecke. Zu beiden Seiten des gewaltigen Herdes lief eine geschnitzte Holzbank an der Wand entlang; durch das Gitter des Fensters sah die grüne Berglehne herein. An den kahlen, rötlichgrauen Wänden waren noch die Spuren der nach und nach verschwundenen Kupferpfannen zu bemerken; und die verrosteten Nägel, an denen einst die Sättel, Harnische und Waffen hingen, waren wie zur Erinnerung dort geblieben.
»Nun, Fräulein Ruth? « fragte Efix, während die Herrin einen kleinen kupfernen Kaffeekessel auf das Feuer setzte. Aber sie wandte ihm nur das breite, dunkle, weißumrahmte Gesicht zu und bedeutete ihn durch ein Blinzeln, sich noch eine Weile zu gedulden.
»Hol mir doch einen Eimer Wasser, bis Noemi herunterkommt!«
Efix holte den Eimer unter der Bank hervor, ging auf die Tür zu, schaute sich aber auf der Schwelle noch einmal scheu und fragend um und betrachtete sinnend den schwankenden Eimer.
»Der Brief war wohl von Don Giacinto? «
»Der Brief? Es ist ein Telegramm ...«
»Barmherziger Gott! Es ist ihm doch nichts zugestoßen? «
»Nein, gar nichts. Geh jetzt ...«
Es war zwecklos, weitere Fragen zu stellen, bevor Fräulein Noemi herunterkam; denn obwohl Fräulein Ruth die älteste der drei Schwestern war und die Hausschlüssel verwahrte – viel zu verwahren gab es allerdings nicht mehr –, tat sie doch nie etwas aus freien Stücken und wies jede Verantwortung von sich.
Er ging auf den Brunnen zu, der wie ein riesiges, in einem Winkel des Hofes aufgeworfenes Hünengrab aussah und eingefasst war von mächtigen Sandsteinblöcken, auf denen in alten zerbrochenen Töpfen Goldlack und Jasmin blühten. Ein Jasminzweig rankte sich an der Mauer empor und lugte über sie hinweg, wie um zu sehen, was es dort draußen gäbe in der Welt.
Wie viele Erinnerungen weckte dieser düstere, moosbewachsene Winkel mit dem hellen Braun des Goldlacks und dem zarten Grün des Jasmins im Herzen des Knechts!
Er glaubte Fräulein Lia wieder bleich und schmal wie eine Binse auf der Veranda stehen zu sehen, die Augen starr in die Ferne gerichtet, als wollte auch sie ergründen, was es dort draußen gäbe in der Welt. Genauso hatte er sie auch am Tage der Flucht dort oben stehen sehen, unbeweglich gleich einem Fährmann, der in die geheimnisvollen Tiefen des Wassers späht.
Wie schwer diese Erinnerungen sind! Schwer wie der volle Wassereimer, der in die Tiefe zieht, in den schwarzen Brunnenschacht hinab.
Doch als Efix nun wieder aufblickte, sah er, dass die große, schlanke Frauengestalt, die leichten Schritts auf den Balkon trat und die Ärmelbündchen ihres schwarzen, fein gefältelten Mieders zu hakte, nicht Lia war.
»Ah – Fräulein Noemi! Guten Tag, Herrin! Kommen Sie nicht herunter? «
Mit schwarzem, golden schimmerndem Haar, das sich in zwei breiten Flechten um ihr blasses Gesicht schmiegte, beugte sie sich über das Geländer, dankte ihm mit einem flüchtigen Blick aus ihren schwarzen, gleichfalls golden unter den langen Wimpern schimmernden Augen für seinen Gruß, sprach aber kein Wort und kam auch nicht herunter.
Sie öffnete Türen und Fenster – heute war ja keine Gefahr, dass ein Windstoß sie zuschlage und die Scheiben zertrümmere, die übrigens schon seit vielen Jahren fehlten – und breitete sorgsam eine gelbe Decke in die Sonne.
»Kommen Sie nicht herunter, Fräulein Noemi? « wiederholte Efix, der noch immer zu ihr empor sah.
»Doch, doch, gleich.«
Aber wieder strich sie sorgsam die Decke glatt und schien versonnen auf die Landschaft zur Rechten und zur Linken zu blicken, die in wehmütiger Schönheit vor ihr ausgebreitet lag: auf die weite Sandebene, durchbrochen vom glitzernden Band des Flusses, von Pappelreihen, von niedrigen Erlen und Schilf- und Wolfsmilchflächen, auf die düstere Basilika inmitten des Brombeergestrüpps, auf den alten Kirchhof, wo zwischen dem hellen Grün des wuchernden Grases wie weiße Margueriten die Gebeine der Toten schimmerten, und auf die trotzige Burgruine auf dem Hügel in der Ferne.
Noch immer lagerte die Vergangenheit düster über der Gegend. Aber Noemi ließ sich dadurch nicht traurig stimmen; seit frühester Kindheit war sie daran gewöhnt, dort drüben die Gebeine der Toten bleichen zu sehen, die im Winter zu frieren schienen in der fahlen Sonne und auf denen im Frühjahr der Tau blinkte. Niemand dachte daran, sie fortzuschaffen; weshalb also hätte sie daran denken sollen?
Fräulein Esther aber, die langsam und in sich gekehrt aus der neuen Kirche im Dorf zurückkommt, bekreuzt sich, als sie zu dem alten Friedhof gelangt, und spricht ein Gebet für die toten Seelen.