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Allein. Florian Wächter
Читать онлайн.Название Allein
Год выпуска 0
isbn 9783750232877
Автор произведения Florian Wächter
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Zuhause habe ich niemanden angetroffen, weder den Hausmeister noch einen Nachbarn. Keine Geräusche im ganzen Haus. Herr Binder, der Trafikant, war nicht da. Am Kirchplatz ... kein Mensch. Auf der Straße? ... Bin ich da jemandem begegnet? ... Ich denke nicht. Keine fahrenden Autos, nicht einmal am Gürtel, ... und hier ...
Sie ließ den Blick abermals umherschweifen, sah in jeden Winkel der Halle, doch der Bahnhof, der sonst so belebt war, wie eines der großen Einkaufszentren am Stadtrand, blieb leer. Am Kiosk, im Schnellrestaurant, beim Bäcker, am Proviantladen, vor dem Wettbüro und auch an den Ticketschaltern waren weder Menschen noch sonst irgendwelche Lebenszeichen auszumachen. Die Szene erinnerte sie eher an einen Provinzbahnhof zur Mittagszeit, wenn der Bahnhofsvorsteher Mittagspause hält, weil er in der nächsten Stunde keinen Zug erwartete.
Aber das ist der Südbahnhof! Irgendwo muss doch jemand sein!
Lisa durchquerte die Halle ein wenig schneller, als sie sonst zu gehen pflegte. Immerhin war sie nun ziemlich aufgeregt. Und sehr beunruhigt. Sie trug zwar Halbschuhe mit Gummisohlen, war sich aber sicher, dass sie ein leichtes Echo ihrer Schritte hören konnte, so ruhig war es in der Halle. Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen in jede dunkle Nische, während sie zum automatischen Förderband schritt, das natürlich im Moment außer Betrieb war und daher still stand. Über dieses, das hinauf zur zweiten Ebene führte, würde sie auch zu den Bahnsteigen gelangen. Mit jedem Schritt, den sie darauf zurücklegte, entfernte sie sich vom Hallenboden. Auf der Galerie angekommen, starrte sie in die unter ihr liegende Halle.
Von oben wirkte die leere Bahnhofshalle noch unrealistischer, als von unten betrachtet, was den Eindruck des Unwirklichen an dieser ganzen Situation noch verstärkte. Sie wandte sich zuerst den Bahnsteigen zu, von denen hauptsächlich die Schnellbahnen und Regionalzüge abfuhren, doch als sie dort angekommen war, musste sie mit wachsendem Entsetzen feststellen, dass sich nur ein einziger Mensch dort aufhielt. Nämlich sie selbst.
Der Kontrollraum hinter der Glasscheibe, wo normalerweise eine Vielzahl von Bildschirmen flackerte, war dunkel und leer. Die Bahnsteige waren verlassen, niemand zu sehen.
Das gibt es doch nicht! Wenn hier keiner ist, wo dann? Vielleicht bei den anderen Bahnsteigen? Das ist die letzte Möglichkeit, die mir einfällt.
Irgendwoher erklang ein Scheppern und ein feines Klirren folgte. Lisa erschrak, und Sekundenbruchteile später fegte eine heftige Windbö über die leeren Bahnsteige. Sie blickte zwischen den Bahnsteigüberdachungen hindurch in den Himmel. Die Sonne war hinter grauen Wolken verschwunden, die sich rasch genähert haben mussten, während sie sich innerhalb des Bahnhofsgebäudes aufgehalten hatte.
Lisa drehte um und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war. Es gab zwar noch einen zweiten Stiegenaufgang zu den anderen Bahnsteigen, doch sie wollte noch einen Blick in die Halle werfen. Sie weigerte sich beharrlich, die Tatsachen zu akzeptieren. Aber auch der zweite Blick in die leere Halle hinunter brachte keine neuen Erkenntnisse.
Was hast du erwartet?
Den Tränen nahe, lief sie das Förderband zur dritten Ebene hinauf, in die kleine Vorhalle, die in die restlichen Bahnsteige mündete. Mit dem ersten Rundblick erkannte sie, dass dieser Teil des Bahnhofes genauso unbelebt war wie der Rest.
Mein Gott, was mach’ ich jetzt? Warum muss so etwas ausgerechnet mir passieren?
Sie spürte, wie sich ihr Magen langsam umdrehte, während sie zur Glaswand wankte, von der aus man auf das Parkhaus und einen Teil der Stadt hinabsehen konnte. Sie versuchte verzweifelt wenigstens außerhalb des Gebäudes Menschen auszumachen, jedoch vergebens. Sie konnte die dicht gedrängten Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen, einige leere Taxis, die vor dem Seiteneingang der Halle geparkt standen, die Straßenbahnstation, aber keine Menschen. Der Wind trieb lediglich einige Blätter, Papierfetzen und anderen Unrat vor sich her.
Ihr Herz schlug nun so heftig, dass ihre Halsschlagader zu schmerzen begann.
Ich bin allein! Dieser Gedanke ließ sie erschauern.
Sie war nun schweißgebadet, und ihre Bluse klebte an ihr wie eine zweite Haut. Sie erspähte ihr eigenes bleiches Gesicht mit den dünnen blutleeren Lippen, das für einen kurzen Augenblick von der Panoramascheibe reflektiert wurde. Verwirrt wandte sie sich von der Glaswand ab und schlurfte auf den Bahnsteig hinaus, der am nächsten lag, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. An den Wangeninnenseiten schmeckte sie den säuerlichen Geschmack, der sich bildet, kurz bevor man sich übergeben muss. Doch soweit kam es nicht.
Mama! Ihr letzter Gedanke galt ihrer Mutter, bevor sich die Welt um sie herum zu drehen begann. Sie fühlte nichts mehr. Sie wollte auch nichts mehr fühlen. Sie wollte endlich aus diesem Albtraum erwachen, um festzustellen, dass sie nur geträumt hatte. Sie nahm ein konstantes Rauschen wahr, das ihren ganzen Kopf zu erfüllen schien. Die ganze Welt bestand nur noch aus diesem brausenden Geräusch, dann sah sie den Fußboden in Zeitlupentempo auf sich zukommen. Das Rauschen verebbte, der Körper, über den sie keine Kontrolle mehr hatte, schien schwerelos zu sein. Den Aufprall bekam sie nicht mehr mit. Vollkommene Schwärze hüllte sie ein und entführte sie in eine tiefe Ohnmacht.
6.
Robert rieb seine müden Augen und stellte den Feldstecher auf dem Fensterbrett ab. Er suchte nun schon seit geraumer Zeit die Straße und die gegenüberliegenden Fensterreihen systematisch nach Lebenszeichen ab, hatte jedoch nichts weiter feststellen können, als dass sich nördlich der Stadt über dem Kahlenberg Gewitterwolken zusammenbrauten.
Eigenartig, dass nirgendwo jemand am Fenster steht, so wie ich. Die anderen Leute müssten doch auch neugierig sein und herausschauen, wenn, ... wenn was?
Ein Gedanke, eine Idee, was es mit all dem auf sich haben könnte, versuchte an die Oberfläche seines Denkens zu gelangen, schaffte es aber nicht, scheiterte an der Unvorstellbarkeit dieser Situation. Seit er daheim angekommen war, zermarterte er sich sein Gehirn auf der Suche nach einer logischen Erklärung, was geschehen sein könnte. Er hatte ebenso erfolglos versucht mit den Nachbarn Kontakt aufzunehmen, war von Tür zu Tür gegangen, hatte geklopft, gerufen, gewartet. Doch das Haus, in dem auch einige Büros und eine Zahnarztpraxis untergebracht waren, erwies sich als genauso leer wie die Straßen vor dem Haus.
Er hatte sein altes Kofferradio, das vor zwei Jahren einer neuen Stereo-Anlage weichen musste, aus einem Karton im Bettzeugraum hervorgekramt, mit Batterien ausgestattet und war auf Sendersuche gegangen. Vergebliche Mühe, wie sich herausstellte. Außer einem konstanten Rauschen konnte es nichts empfangen.
Gähnend ging er ins Badezimmer und benetzte sein Gesicht mit kaltem Wasser. Das war momentan die einzige Möglichkeit frisch zu bleiben, da die Espressomaschine und der Elektroherd nicht einsatzfähig waren. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel und fuhr mit der Hand über die kurzen Bartstoppeln.
Ich werde wohl oder übel das Risiko eingehen müssen, hinaus zu gehen, wenn ich etwas in Erfahrung bringen will.
Die Theorie eines radioaktiven Störfalles in einem Kernkraftwerk eines der benachbarten Staaten verwarf er nun endgültig. Somit bestand, nach eigenem Ermessen, die mögliche Chance für ihn ohne größere Gefahr ins Freie hinaus zu gehen, wenngleich er sich noch immer keinen Reim darauf machen konnte, warum sich keine Leute auf der Straße aufhielten. Er hatte keinen Karnevalsumzug erwartet, doch wenigstens den einen oder anderen Fußgänger, der den Kanal entlang schlenderte, oder vereinzelte Autofahrer, die unten am Haus vorbeifuhren.
Warum sollte bei uns der Strom ausfallen, wenn ein Unfall in einem Nachbarland passiert? Wir produzieren unseren Strombedarf selbst. Unabhängig von anderen. Unsere Stromgesellschaften exportieren sogar Strom. Wir selbst verfügen über keine Atomkraftwerke. Zwentendorf ist nie in Betrieb genommen worden, spulte sein Gehirn automatisch ab.
Er begab sich ins Vorzimmer und schlüpfte in ein Paar Halbschuhe. Wäre tatsächlich irgendetwas in dieser Richtung geschehen, und stünde darüber hinaus kein Strom zur Verfügung, dann hätten die Behörden einen anderen Weg, als den über die Medien,