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      Sie mochte es nicht, wenn man sie berührte oder gar anfasste, deshalb schaute sie leicht verstimmt auf seine Hand hinunter. Er schien zu verstehen. “Entschuldige”, murmelte er und ließ sie los. Doch anstatt gekränkt zu sein, lächelte er. Diesmal grinste er nicht, er lächelte.

      “Mißverstehst du immer alles?”

      Sie hob die Schultern. Er hatte ja recht, sie benahm sich ihm gegenüber wirklich unmöglich. Warum nur? - Sie wußte es selbst nicht. Bisher hatte er doch nichts Unrechtes getan.

      “Ich habe da vorhin ein kleines Plateau entdeckt, von dort aus hat man einen wunderschönen Blick über das Tal. Noch viel schöner, als von der Klinik aus”, sagte er und wies den Weg zurück, den er gekommen war. “Wenn Du Lust hast, dann komm mit. Ich zeig's dir.”

      Sie hatte das Gefühl, einiges wieder gutmachen zu müssen, deshalb nickte sie und rang sich gleichfalls zu einem Lächeln durch.

      Es war nicht weit zum Plateau, und sie überlegte, wie sie eine Unterhaltung beginnen sollte. Ihr fiel jedoch nichts ein, worüber sie mit ihm hätte reden können. Außerdem fand sie, daß es seine Aufgabe sei, ein Thema anzuschneiden, da er es gewesen war, der sie zu diesem Spaziergang eingeladen hatte. Doch auch er schwieg.

      Auf dem Plateau stand eine Bank, deren Sitzfläche sie grob vom Schnee befreiten. Sie setzten sich vorn auf die Kante, weil sie eiskalt war. Frierend und mit in den Taschen vergrabenen Händen saßen sie da und schauten ins Tal hinunter. Immer noch schweigend.

      Er hatte recht gehabt, es war ein traumhaftes Plätzchen. Wie schön mochte es hier im Sommer sein, dachte sie, wenn die Bäume und Sträucher ringsum in grünem Laub standen und die Blumen auf der Wiese blühten?

      “Vielleicht sollte man im Sommer mal hierher kommen”, sagte sie schließlich.

      “Seltsam”, antwortete er, “ich habe gerade dasselbe gedacht.”

      Sie lächelten einander an. “Aus welchem Grund bist du eigentlich hier? Ich meine, in der Klinik?", fragte er. “Myocarditis, Herzmuskelentzündung. Es war eine Virusinfektion.”

      “Mein Gott, wie kriegt man sowas?”

      Sie hob die Schultern. “Keine Ahnung.”

      “Es scheint, Gott sei Dank, rechtzeitig bemerkt worden zu sein.”

      “Ja, das hab ich meiner Kollegin und meinem Hausarzt zu verdanken. Eigentlich hatte ich geglaubt, ich brüte mal wieder eine Grippe aus. Wenn ich mich nicht so elend gefühlt hätte, hätte ich ihn vielleicht gar nicht aufgesucht, aber ich dachte, wenn er mir ein bißchen was verschreibt, dann geht es schnell wieder vorbei.”

      “Und?”

      “Glücklicherweise hat er ein EKG geschrieben. Obwohl Mattigkeit und allgemeines Unwohlsein normalerweise nicht gleich ein Grund für ein EKG sind.”

      “Du mußt einen Schutzengel gehabt haben.”

      Sie nickte. “Ja, wahrscheinlich.”

      Wieder lächelten sie. “Und du?” fragte sie. Dieses Einander-freundlich-zulächeln war ihr fast peinlich. “Was ist mit deinem Herzen passiert?”

      Wieder flog ein Lächeln über sein Gesicht, doch nur ganz kurz, dann wurde er wieder ernst. “Herzinfarkt.”

      “Liegt das an deinem Beruf? Ist der so stressig?”

      “Mitunter schon. Ich arbeite in einer Werbe-Agentur.”

      “Ah! Dann bist du einer, der sich solche Sprüche ausdenkt, wie:

       Haribo macht Kinder froh

      oder

       Dr.Best, die Zahnbürste, die nachgibt

      ?”

      Er mußte lachen. “So ungefähr, ja. Allerdings bin ich für die Graphiken zuständig.”

      “Du kannst also gut malen.”

      “Zeichnen.”

      “Ist das ein Unterschied?”

      “Schon.”

      “Was ist am Zeichnen so aufregend, daß man dabei einen Herzinfarkt kriegt?”

      “Hektik, Zeitdruck, Konkurrenzdenken. Am besten sollte immer alles schon gestern fertig gewesen sein, damit einem die Konkurrenz nicht den Auftrag vor der Nase wegschnappt. Oder auch einer der Kollegen.”

      “Scheußlich.”

      “Du sagst es.”

      "Was wirst du tun, wenn du zurück bist? Geht dann alles wieder von vorne los?"

      Er hob die Schultern. "Ich weiß es noch nicht. Vielleicht sollte ich die Firma wechseln."

      Am Sonntagmorgen schien die Sonne. Die Frühstückstische waren hübsch gedeckt, mit je einem Sträußchen aus Schneeglöckchen und Winterlingen in der Mitte. Es gab Hefezopf mit Butter, dazu Marmelade und Honig und für jeden ein weichgekochtes Ei. Tina warf einen flüchtigen Blick zum Beobachter hinüber, er war gerade damit beschäftigt, seinen Tischgenossen Kaffee einzuschenken. Röslein saß ihr blaß und elend gegenüber, sie hatte die Nacht über schlecht geschlafen.

      Unsensibel wie immer machte Reineke Fuchs seine albernen Späßchen. “Wem hast du denn letzte Nacht dein Türchen offen gelassen, weil du so fertig bist?”, fragte er sie mit zweideutigem Zwinkern.

      Selbst Wendelin hielt das für unpassend und warf ihm einen tadelnden Blick zu.

      Reineke aber lachte nur. “Was ist denn los mit euch, könnt ihr keinen Spaß vertragen?”

      “Auf deine Späße können wir verzichten”, wies ihn Tina zurecht. Und zu Röslein sagte sie: “Du solltest versuchen, Dr. Wintrup oder seine Vertretung zu erreichen."

      Als sich der Beobachter mit einem lächelnden “Guten Morgen” nach ihnen umschaute und Tinas Erwiderung diesmal etwas freundlicher ausfiel, als an den Tagen zuvor, ließ sich Reineke prompt wieder zu einer geschmacklosen Bemerkung hinreißen. “Nimm dir ein Beispiel an Christina”, sagte er zu Röslein und wies mit dem Kopf in Richtung Nebentisch. “Sie ist schon dabei, ihren Widerstand aufzugeben. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er sie rumkriegt.”

      “Du solltest jetzt lieber den Mund halten”, unterbrach ihn Tina ärgerlich, und mit einer aufgesetzten Unschuldsmiene hob er die Schultern und meinte: “Seid doch nicht so prüde!”

      Beim Mittagessen fehlte Röslein, und gleich nach dem Nachtisch machte sich Tina auf den Weg, sie in ihrem Zimmer zu besuchen.

      "Mein Blutdruck war ein bißchen zu hoch", erzählte Röslein. Sie war beim Stationsarzt gewesen, und er hatte ihr Medikamente und vor allem Bettruhe verordnet. Und alle zwei Stunden kam eine Schwester, um nach ihr zu sehen und den Blutdruck zu kontrollieren.

      “Das tut mir so leid, Röslein", sagte Tina und streichelte ihren Arm. "Eigentlich wollten wir zwei doch heute nachmittag Bad Seeburg unsicher machen.”

      Röslein lächelte schwach. “Daraus wird nichts, Christina. Mir tut es auch leid."

      "Ich hatte mich so darauf gefreut. Aber...", sie zwinkerte der Patientin zu, "...aufgeschoben ist nicht aufgehoben, wir holen das ein anderes Mal nach, in Ordnung?"

      "Ja, das machen wir. Irgendwann, wenn es mir wieder besser geht. Vielleicht findest du ja heute eine andere, die mit dir geht. Frag doch mal die nette Dame vom Nebentisch, die im dunkelroten Jogginganzug.”

      “Du meinst Rotkäppchen?”

      Nun mußte Röslein lachen. “Wie es scheint gibst du allen Leuten hier einen neuen Namen. Warum nennst du sie Rotkäppchen?”

      “Bist du ihr schon mal draußen begegnet? Sie trägt immer eine rote Mütze, so eine Strickmütze mit Schirm. Deshalb ist sie für mich nun das Rotkäppchen. Aber nein, Röslein, ich glaube, ihre Gesellschaft würde mir nicht so besonders gefallen.

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