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zu erkennen, die schlanken dunkelgrünen Pflanzen, die sich in einer Fontäne aus Sauerstoffperlen hin- und herwiegten, und eine Unzahl kleiner bunter Fische, die in Schwärmen an der Frontscheibe vorüberjagten. Sie war versucht, hinzulaufen, um es sich genauer anzusehen, sagte sich aber, daß sie noch vier Wochen lang Zeit dazu haben würde, es gebührend zu bewundern. Zunächst war es wichtiger, zuzuhören, was ihnen die Hausdame in kariertem Dirndl zu sagen hatte. Mit einem Lächeln und einer freundlichen Geste hatte sie die Neulinge um sich geschart und sprach nun ein paar herzliche Worte zur Begrüßung.

      Mit Räumen ging es Tina, wie mit Menschen: Manche mochte sie auf Anhieb, bei anderen brauchte sie etwas Zeit, um sich an sie zu gewöhnen. Und wieder andere konnte sie gar nicht leiden, so hübsch sie auch sein mochten. Das Zimmer im Waldhof gefiel ihr sofort, es hatte die Nummer 215 und lag am Ende eines Seitenflügels im zweiten Stock. Da es nicht sehr groß war, enthielt es nur wenige, dafür aber sehr zweckmäßige Möbelstücke. Hell und freundlich, mit vielen Fächern und Schubladen. Am besten aber gefiel ihr das große hohe Fenster, das, neben einem Blick auf den Eingangsbereich der Klinik, auch einen fantastischen Blick auf das Tal freigab, in dem Bad Seeburg lag, als hätte ein Engel es im Darüberfliegen einfach verloren: Schneebedeckte Dächer, im Zentrum eine Handvoll Hochhäuser sowie die Türme zweier Kirchen. In der Ferne, vor der Kulisse einer schroffen Bergkette, war eine Sprungschanze zu erkennen.

      In der Anmeldung hatte man ihr empfohlen, sich zunächst einmal im Speisesaal einzufinden, da sonst die Gefahr bestand, daß es nichts mehr zu essen gab. Wo aber war der Speisesaal? Obwohl ihr jemand den Weg beschrieb, verlief sie sich und fand sich nach einigen Irrwegen bei den Trimmradfahrern wieder. Erstaunt blieb sie an der Tür stehen und schaute ihnen zu. Voller Mitgefühl, denn schweißnaß und mit roten Gesichtern radelten sie unermüdlich und mit größter Kraftanstrengung auf der Stelle wie ein Hamster im Laufrad. Dabei ahnte sie, daß auch sie selbst, vielleicht schon morgen, einer von ihnen sein könnte, der um die Wette strampelte. Sie seufzte. Zumindest kannte sie nun schon einmal diese Folterkammer, - was allerdings nicht bedeutete, daß sie sie jemals ohne fremde Hilfe wiederfinden würde. Ein älterer Herr in grün-weißem Sportanzug, der der Tür am nächsten radelte, half ihr wieder auf den richtigen Weg.

      Der Speisesaal lag im ersten Stock. Eine automatische Tür öffnete sich, als sie näherkam, und sie blieb stehen, um einen neugierigen Blick hineinzuwerfen, bevor sie eintrat. Auch hier huschten dienstbare Geister in karierten Dirndln durch die Tischreihen. Sie verteilten die Speisen, nahmen Wünsche entgegen und vielleicht auch Beschwerden, - sofern es sie hier überhaupt geben konnte. Sie schienen bemüht zu sein, all ihre Gäste zufriedenzustellen. Doch waren sie wirklich Gäste hier, oder auch wieder nur Patienten? Tina war nie zuvor in einer Reha gewesen, deshalb wunderte es sie, daß sie sich, entgegen ihrer Erwartung, nun doch eher als Gast fühlte, denn als Patient, - was einen Augenblick lang ein unbeschreibliches Hochgefühl in ihr auslöste. Sollte das Patientendasein nun wirklich endgültig vorbei sein? Hatte Dr. Petri recht gehabt? "Sie werden sich wohlfühlen dort", hatte er gesagt, als sie sich anfänglich gegen die Reha gesträubt hatte. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt hatte sie nicht noch weitere vier Woche ohne ihre Familie sein wollen. Doch er hatte ihr versichert: "Es wird Ihnen guttun, einmal richtig verwöhnt zu werden und auszuspannen. Und danach werden Sie sich gesund und fit fühlen und ein ganz anderer Mensch sein.” Tina seufzte tief. Möge er recht behalten, dachte sie.

      Noch unsicher folgte sie dem Strom der Mittagsgäste, die rechts und links an ihr vorüber ihrem Platz entgegenstürmten, - hungrig von langen Spaziergängen, vom Schwimmen oder vom Auf-der-Stelle-radeln. Und während sie noch mitten im Saal stand und sich umschaute, war eine der netten Dirndl-Damen an ihrer Seite, zog eine Liste aus ihrer Schürzentasche und fragte freundlich: “Sie sind heute erst angekommen, nicht wahr? Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?”

      “Marton", antwortete Tina, während ihr Blick über die Tische flog, an denen lachende, plappernde und zufriedene Gesichter zu sehen waren. “Christina Marton”.

      “Marton. Richtig, da haben wir Sie ja schon! Tisch Nr. 5, Frau Marton. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?”

      Tisch Nr. 5 war ein Vierertisch am Fenster mit Blick in den Park hinter dem Hauptgebäude. Auf der Serviettentasche, die auf dem leeren Platz lag, stand ihr Name. Die drei Leute, die bereits dort saßen, - zwei Männer und eine Frau mittleren Alters, - schauten neugierig von ihren Tellern auf, als sie an den Tisch trat. Eine Sekunde lang wußte sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Man hatte ihr erzählt, daß man sich in einer Reha im allgemeinen duzte, doch sie war sich nicht sicher, ob das überall so war.

      “Hallo, ich bin die Christina", sagte sie und nickte ihnen zu. Die beiden Männer rechts und links von ihr nickten zurück und murmelten ihre Namen, die sie in der Aufregung nicht verstand, die Frau aber, die ihrem Platz gegenübersaß, streckte ihr die Hand entgegen und sagte freundlich: “Hallo Christina, ich bin die Rozalia. Es ist schön, dich kennenzulernen.” Tina lächelte. Das hatte sie nett gesagt, fand sie, und von der ersten Minute an war sie ihr sympathisch.

      Der für Tina zuständige Stationsarzt war Dr. Wintrup, sie sollte sich pünktlich um 15 Uhr zur Aufnahmeuntersuchung bei ihm einfinden. Die Zeit war knapp, wollte sie bis dahin die Koffer ausgepackt, den Inhalt in den Schränken verstaut und sich noch etwas frisch gemacht haben. Sie schaffte es nur deshalb, weil sie zunächst einmal alles wahllos in den Schrankfächern verschwinden ließ, um es aus den Augen zu haben. Sie wollte es später noch ordnen und sortieren und so unterbringen, daß sie alles auf den ersten Griff wiederfand, sobald sie es brauchte.

      Das Zimmer des Arztes befand sich im entgegengesetzen Flügel des gleichen Stockwerks. Es war leicht zu finden, denn eine Stuhlreihe entlang der den Türen gegenüberliegenden Wand erinnerte an ein Wartezimmer, und dort saß auch schon jemand. Sie prüfte das Schildchen neben der Tür und verglich den Namen des Arztes mit dem, der auf dem Merkzettel stand. Alles war korrekt, also klopfte sie an.

      “Es ist noch jemand drin", sagte der Mann, der bereits wartend auf der Stuhlreihe saß.

      Sie sah sich flüchtig nach ihm um. “Ich habe um drei einen Termin", antwortete sie, “und jetzt ist es drei.”

      “Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern.”

      “Sind Sie etwa noch vor mir dran?” Das Timing schien nicht besonders gut zu funktionieren. “Wann sollten Sie denn hier sein?”

      "Ich bin erst nach Ihnen dran", sagte er, “erst um vier.”

      “Und dann sitzen Sie jetzt schon hier und warten?”

      Er lachte. “Warum nicht? Ich habe doch Zeit. Es ist nicht uninteressant, den Leuten zuzusehen und sie zu beobachten.”

      Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Sollte er, wenn es ihm Spaß machte, dachte sie.

      Sie lief ein paar Schritte weiter und schaute sich den Renoir an, der zwischen den beiden nächsten Türen an der Wand hing. Die Pariserin, - natürlich! Wenn irgendwo in einer öffentlichen Einrichtung ein Renoir-Bild hing, dann war es meistens die Pariserin. Aber sie mochte sie. Während ihrer romantischen Phase als Teenager war sie eine Zeitlang ganz verrückt nach Renoir-Bildern gewesen, hatte eine ganze Wand ihres Zimmers mit den Drucken aus einem Kalenders tapeziert. Später waren sie dann von Pop- und Film-Größen abgelöst worden, - aber sie gefielen ihr noch immer. Inzwischen waren es bereits zehn Minuten über der Zeit. Resigniert ließ sie sich nun doch auf einem der Stühle nieder. Sie ließ zwei Plätz frei zwischen sich und dem Mann und schaute in die entgegengesetzte Richtung, um ihm zu signalisieren, daß sie keine Lust hatte, sich mit ihm zu unterhalten, und daß er es gar nicht erst zu versuchen brauchte.

      Der Stationsarzt Dr. Wintrup war ein sehr netter junger Mann. Breit und wuchtig und mit Bart. Ein freundlich lächelnder Buddha, - obwohl... Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie jemals einen Buddha mit Bart gesehen hatte. Zumindest schien ihm der Doktor, was seinen Umfang betraf, in nichts nachzustehen. Die Untersuchung bestand zum größten Teil darin, daß er ihr Fragen bezüglich ihres Krankheitsverlaufs stellte und die Antworten dann fein säuberlich in ein Formular eintrug. Danach nannte er ihr die Termine für die cardiologischen Untersuchungen, die am nächsten Tag stattfinden sollten, und er erklärte ihr, wie er sich ihre Behandlung in den kommenden Wochen vorstellte. Zum Abschluß

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