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gesunken, aber nicht schnell genug für den Geschmack des Arztes. Am liebsten wollte er die Bettruhe seiner Patientin erst unterbrechen, wenn das Fieber ganz geschwunden wäre. Erdree fand das übertrieben. Wie oft hatte sie mit leichtem Fieber die Kühe gemolken oder die Kinder unterrichtet! In Mooresruh waren Krankheiten so häufig, dass die Glasbrecher wegen leichter Beschwerden nicht von ihren Arbeitspflichten befreit werden konnten. Wer hätte sonst die Schwerkranken vertreten? Wenn alle Glasbrecher arbeiteten, die halbwegs dazu imstande waren, blieb ihnen auch genug Muße, um ihre weniger ernsten Leiden auszukurieren. Dennoch widersprach Erdree Oredion nicht. Er war der Oberarzt des Linländer Heers, und nach der alptraumhaften Reise fand sie die einsame, ruhige Zeit in ihrem Krankenzimmer ein großes Geschenk. Die Erkenntnis, dass sie die Fahrt in den Glynwald überlebt hatte, musste sich erst festsetzen. Doch statt Ruhe brachte ihr diese Erkenntnis nur neue Ängste. Wenn die Reise schon solche Strapazen gebracht hatte – welche Anstrengungen mochten dann hier beim Heer auf sie warten? Immer wieder versuchte Erdree, sich in der Schicksalsergebenheit zu üben, die Algon stets gepredigt hatte. Nie wollte es ihr gelingen. In Mooresruh konnte ein Glasbrecher sich einfach in sein Schicksal fügen. Doch hier beim Heer hatte sie kein Schicksal hinzunehmen, sondern eines zu erfüllen. Sie wusste zwar noch nicht, welcher Dienst von ihr erwartet wurde, aber irgendein Dienst wurde gewiss von ihr erwartet. Sonst wäre sie nicht in den Glynwald gerufen worden. Unzählige Male fragte Erdree sich, ob Oredion wohl wusste, warum die Generalin einen Glasbrecher zum Heer gerufen hatte – auch in jenem Augenblick, in dem er sie in den Behandlungsraum bat.

      Oredion untersuchte ihren ganzen Körper auf das Genaueste. Er musterte, horchte, klopfte, tastete, zog und drehte. Je tiefer sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen eingrub, desto mehr sank Erdree in sich zusammen. Erkannte Oredion nun, dass ein Glasbrecher nicht dazu imstande war, auch nur den kleinsten Dienst im Kampf gegen die Ronn zu leisten? Würde sie wieder fortgeschickt werden – als der endgültige Beweis dafür, dass die Glasbrecher vollkommen nutzlos waren?

      Nach einer schier endlosen Weile schickte Oredion Erdree zurück in ihr Bett. Wenig später nahm er neben ihr auf einem Stuhl Platz, ein Notizbuch in seiner Hand.

      „Wie alt bist du, Erdree?“

      „Im Frühwinter waren es dreiundzwanzig Jahre.“

      Wieder schüttelte Oredion auf jene sanfte Weise den Kopf, die Erdree während ihrer kurzen Bekanntschaft schon so oft gesehen hatte. „Eigentlich bin ich recht gut darin, das Alter meiner Patienten zu schätzen. Aber bei dir war ich völlig unsicher. Du hättest ebenso gut fünfzehn Jahre alt sein können wie dreißig – je nachdem, ob man den Gesamteindruck nimmt, oder ob man Einzelheiten betrachtet. Nach allem, was ich über die Glasbrecher weiß – was offen gestanden nicht viel ist – müsste dein Zustand besser sein. Mir ist natürlich klar, dass die Glasbrecher schwächer und krankheitsanfälliger sind als alle anderen Linländer – und dass sie deshalb ein weniger anstrengendes Leben führen müssen. Außerdem weiß ich, dass Glasbrecher an chronischen Krankheiten leiden, vor allem an Hautausschlägen und an Rheuma. Deshalb wurden sie ja in Mooresruh angesiedelt – damit sie regelmäßig Moorbäder nehmen können. Von diesen chronischen Krankheiten sehe ich bei dir allerdings nichts. Deine Haut ist zwar trocken und angegriffen, aber ich fand keine Spur von einem Ausschlag. Und deine Gelenke sind völlig in Ordnung. Aber dein Allgemeinzustand... Er kann nicht nur wegen der Reise so schlecht sein. Natürlich war die Reise anstrengend, und sie hat bestimmt die Lungenentzündung verursacht. Aber du warst eindeutig immer oder zumindest für lange Zeiträume unterernährt – und öfter schwer krank. Welche Krankheiten waren das? Und leiden die anderen Glasbrecher unter denselben Krankheiten oder unter anderen?“

      Vor lauter Erstaunen konnte Erdree sich kaum auf ihre Krankengeschichte konzentrieren. Hatte Oredion wirklich geglaubt, dass Rheuma und Hautausschläge die einzigen Plagen der Glasbrecher waren? Dann wären die Bewohner von Mooresruh doch nicht dermaßen nutzlos!

      „Meistens huste ich den ganzen Winter über,“ begann Erdree in zögerlichem Flüsterton. Es fiel ihr immer noch schwer, über ihre Krankheiten zu sprechen. „Schon seit ich ein Kind war. In einem Winter huste ich mehr, im anderen weniger. Fast in jedem Spätwinter gibt es in Mooresruh eine Grippewelle, der kaum jemand entgeht – auch ich nicht. Aber Fieber kommen auch zu anderen Jahreszeiten. Dreimal – nein, viermal, aber einmal war es nicht so schlimm – hatte ich wochenlang Fieber und Schwellungen am ganzen Körper. Ich konnte mich fast nicht bewegen, weil es weh tat, die Gelenke abzubiegen – wegen der Schwellungen...“

      „Tümpelfieber,“ warf Oredion ein. Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich noch mehr. „Das muss dann im Sommer gewesen sein. Und dieses Fieber hatten auch andere Glasbrecher?“

      „Dieses Fieber hatten immer nur einzelne Glasbrecher, und selten zur selben Zeit – anders als bei der Grippe, wo immer alle gleichzeitig krank sind. Und glücklicherweise traf es nie die Schwächsten unter uns. Sie hätten diese Krankheit – das Tümpelfieber – wohl nicht überstanden.“

      Oredion stützte seinen linken Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhls und legte zwei Finger an die Schläfe. Sein Fuß wippte unruhig. „Und die kräftigeren Glasbrecher verlassen auch im Sommer das Gebäude, um auf das Moor hinauszugehen?“

      „Sicher.“ Erdree sah ihn verständnislos an. „Wir brauchen immer Grünfutter für die Kühe – das Heu, das die Lieferwagen bringen, reicht nie. Außerdem sammeln wir einige Heilkräuter. Vor allem die Blüten des Schilfwürgers – für den Morgentee.“

      Das Fußwippen brach jäh ab. „Wer trinkt morgens Tee aus Schilfwürgerblüten?“

      „Alle. Dieser Tee lindert unsere Anfälligkeit für Krankheiten zumindest ein bisschen.“ Plötzlich stieg ein lähmendes Unbehagen in Erdree auf. Seit dem Tag ihrer Abreise von Mooresruh hatte sie keinen Schilfwürgerblütentee mehr getrunken. Kein Wunder, dass es ihr auf der Reise so schlecht gegangen war! Wie hatte sie nur auf ihren Morgentee vergessen können? „Eigentlich hätte ich auch auf der Reise Schilfwürgerblütentee trinken müssen. Vielleicht ist das Fieber deshalb nicht so rasch zurückgegangen, wie Ihr gedacht habt. Habt Ihr getrocknete Schilfwürgerblüten in Eurem Medizinschrank?“

      Oredion schüttelte seinen Kopf mit ungewöhnlicher Entschiedenheit. „Das wird nicht notwendig sein.“

      Erdrees Unbehagen wuchs. Inzwischen war klar geworden, dass Oredion viel weniger über die Glasbrecher wusste als sie geglaubt hatte. Vielleicht wusste er sogar weniger als er selbst glaubte. Was, wenn er sich irrte – wenn der Tee aus Schilfwürgerblüten für einen Glasbrecher unbedingt notwendig war?

      „Aber die Glasbrecher tranken immer morgens eine Schale Schilfwürgerblütentee – so weit sie zurückdenken können!“

      Ihr Einwand kam so zaghaft, dass Oredion sie bitten musste, den Satz zu wiederholen. Danach seufzte er. „In Mooresruh mag es sinnvoll sein, diesen Tee zu trinken. Hier auf Glynwerk ist es unnötig. Erzähl mir mehr von deinen Krankheiten. Husten und Tümpelfieber – was gab es noch?“

      Nun kamen die Worte noch schwerer über Erdrees Lippen. Gerne hätte sie Oredion genauso vertraut wie bisher. Aber der Gedanke an den Schilfwürgerblütentee ließ sich nicht verdrängen.

      „Beim Essen vertrage ich große Portionen nicht gut – und fette Speisen. Mir wird dann leicht übel. Aber darauf muss ich ohnehin nur an Festtagen achten... Kopfschmerzen habe ich auch recht häufig. Besonders, wenn das Wetter sich ändert. Bei großer Hitze wird mir manchmal schwindlig.“

      „Kannst du mir noch mehr vom Alltagsleben in Mooresruh erzählen?“

      Erdree griff sich an die Kehle. Das viele Flüstern strengte sie an.

      „Nur ganz kurz,“ bat Oredion. „Das Wichtigste.“

      „Es gibt ohnehin nicht viel zu erzählen. Nachts schlafen wir. Am Vormittag arbeiten wir zwei Stunden und am Nachmittag nochmals zwei. Dazwischen ruhen wir. Es gibt einen Plan, der festlegt, wer wann welche Arbeit macht – unser Ältester schreibt ihn. Wir müssen die Mahlzeiten zubereiten, die Küche und die andere Räumen reinigen, die Kühe und die Hühner versorgen, die Schwerkranken pflegen, Kleidung flicken, Pflanzen sammeln, Torf stechen, die jüngsten Glasbrecher wickeln und

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