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in die beredte Gestik der Glasbrecher verfallen. Alles stieg wieder vor ihrem inneren Auge auf. Nach dem Alltag beschrieb sie auch noch die zahllosen Leiden der Glasbrecher: Die Ausschläge, die Verwachsungen und Verkrüppelungen, den Verlauf von so gewöhnlichen Krankheiten wie Erkältung und Grippe, Augenprobleme von starker Kurzsichtigkeit bis zur Blindheit, die unterschiedlichsten Arten von Fieber und von Geschwüren. Oredion hörte schweigend zu. Die Falte zwischen seinen Brauen wurde manchmal tiefer, manchmal glättete sie sich wieder etwas.

      Als Erdree endlich innehielt, war sie sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben so lange gesprochen hatte wie gerade eben. Ihre Kehle war völlig rau. Erdree wandte sich zur Seite, um nach dem Tonkrug auf ihrem Nachttisch zu greifen. Doch statt Wasser in ihre Trinkschale zu gießen, stieß sie vor Schreck beinahe den Krug um. Im Türrahmen nahm sie den dunklen Umriss eines Linländers wahr. Wer war das – und seit wann stand er hier? Wie gelähmt starrte Erdree den Mann an. Trotzdem sah sie nicht mehr als seine braunen Augen und das halblange, braune Haar, das ständig über diese Augen fallen wollte. Der Linländer musterte sie so unverhohlen, dass Erdree seinem Blick auswich, sobald ihre Schockstarre genügend nachgelassen hatte. Mit gesenktem Kopf hörte sie, wie Wasser in ihre Trinkschale gefüllt wurde. Gleich darauf erschien Oredions Hand mit der vollen Schale in ihrem Blickfeld.

      „Kein Grund zur Beunruhigung. Das ist mein Bruder Kelroy. Er lebt hier bei mir auf Glynwerk. Er ist stumm und weiß manchmal nicht, wie er andere auf sich aufmerksam machen kann, ohne sie dabei zu erschrecken.“

      Erdree glaubte, leichte Missbilligung in Oredions Stimme zu hören. Ärgerte er sich darüber, dass sie so vor seinem Bruder erschrocken war? Sie nahm die Schale aus Oredions Hand und trank langsam, um ihren Mut zu sammeln. Nachdem sie die Schale beiseite gestellt hatte, richtete sie ihre Augen scheu auf Kelroy. Er stand immer noch unverändert. Auf den zweiten Blick konnte Erdree die Ähnlichkeit zwischen dem Arzt und seinem Bruder erkennen. Kelroy war allerdings größer und kräftiger, mit kantigeren Gesichtszügen. Er betrachtete Erdree immer noch – genau so, wie ein Forscher wohl ein unbekanntes Tier betrachtet hätte. Sein Gesichtsausdruck schien immer ungläubiger zu werden. Wieder ließ Erdree ihren Kopf sinken, zog ihre Knie an und umschloss sie mit ihren Armen. Erst hier, im Krankenquartier auf Glynwerk, waren die vielen abschätzigen Blicke, die sie auf ihrer Reise geerntet hatte, aus ihrer Erinnerung aufgetaucht – nicht allein Wiralins Blicke oder Munias. Auch die Blicke der Wirtsleute und der Gäste in den Gasthöfen. Kelroys Starren kündigte an, dass es auf Glynwerk nicht besser sein würde. Erdree begann, diese abschätzigen Blicke zu fürchten. Nur von Oredion war sie nie angeekelt gemustert worden. Aber selbst er hatte kein Hehl daraus gemacht, dass seine Erwartungen an den kräftigsten Glasbrecher höher gewesen waren.

      „Was gibt es denn?“ wollte Oredion von Kelroy wissen.

      Die folgende Stille verwirrte Erdree – bis ihr wieder einfiel, dass Kelroy stumm war. Als sie aufblickte, sah sie gerade noch, wie er auf seinen linken Unterarm deutete. Gleich darauf bewegte er seine Finger wie jemand, der einen Zweig zerbrach.

      Oredion stöhnte. „Schon wieder ein gebrochener Arm? Die Soldaten führen ihre Holzschwerter beim Drill wie Knüppel. Hoffentlich kein offener Bruch.“

      Sein Bruder schüttelte den Kopf und führte in flinker Geste Daumen und Zeigefinger zusammen.

      Oredion stand auf. „Hol mir einen der Krankenpfleger, damit er Armschienen und Verbandsmaterial zurecht legt.“

      Während Kelroy davonstiefelte, wandte Oredion sich wieder an Erdree: „Ich werde mir später alles durch den Kopf gehen lassen, was du mir erzählt hast. Danach werde ich eine Medizin für dich zusammenstellen, damit du ein wenig widerstandsfähiger wirst – und stark genug für deinen Dienst. Auf jeden Fall wirst du noch hier im Krankenquartier bleiben, bis du absolut fieberfrei bist und bis die Schmerzen in deiner Brust verschwunden sind. Und auch nachdem du deinen Dienst auf Glynwerk angetreten hast, werde ich dich regelmäßig untersuchen.“

      Oredion eilte hinaus und schloss die Tür hinter sich. Erdree rollte sich unter ihrer Decke zusammen. Vergeblich versuchte sie, der Schicksalsergebenheit nahezukommen. Zu viele zwiespältige Gefühle zerrten an ihr. Oredion zweifelte nicht daran, dass sie ihren Dienst antreten würde. Das war mehr als sie während der langen Stunden im Reisewagen zu hoffen gewagt hatte. Und sie konnte es immer noch nicht glauben. Im Wagen hatte sie nur sitzen müssen und war trotzdem schwer krank geworden. Dienen hieß etwas ganz anderes als herumsitzen. Niemand außer Oredion glaubte, dass sie wirklich dienen konnte. Jeder entsetzte Blick sprach Bände. Musste sie wirklich noch beweisen, dass sie die erste Hoffnung, die jemals in die Glasbrecher gesetzt worden war, enttäuschen würde? Dass die Linländer nicht das Geringste von den nutzlosen Glasbrechern erwarten durften?

      IV

      Nachdem sie einen Tag lang fieberfrei gewesen war, erlaubte Oredion seiner Patientin, für einige Stunden ihr Bett zu verlassen. Erdree schob einen Sessel an das Fenster ihres Krankenzimmers und kauerte sich hinein. Das Krankenquartier lag hoch im Festungsbau. Wenn Erdree gerade hinausblickte, sah sie die dunklen, schneebestäubten Nadelbäume des Glynwalds. Wenn sie sich ein wenig vorbeugte, konnte sie die Soldaten im Hof vor den Ställen beobachten. Den Wald betrachtete Erdree lieber, obwohl er ebenso oft bedrohlich aussah wie erhaben. Das Gewimmel der Soldaten erinnerte sie zu stark an die lauten, vollen Gasthöfe auf ihrer Reise.

      Fünf Tage später blieb das Stechen in Erdrees Brust sogar bei den tiefsten Atemzügen aus. Trotz dieser Besserung und trotz der Medizin, die Oredion für sie zusammengestellt hatte, war Erdree weit davon entfernt, sich so zu fühlen wie früher in Mooresruh. Dort hatte sie sich zwar selten wirklich wohl gefühlt, aber meistens stark genug, um zu arbeiten. Auf Glynwerk machte ihr nun statt des Hustens ständige Übelkeit zu schaffen, und während das Schwächegefühl in ihrem Körper nachließ, begann ihr Nacken zu schmerzen. Erdree wurde immer unruhiger. Sie konnte den Gedanken an den fehlenden Tee aus Schilfwürgerblüten nicht abschütteln. Was, wenn ihre Beschwerden davon kamen? Dennoch wagte sie es nicht, Oredion nochmals danach zu fragen. Er kümmerte sich so sehr um sie, dass es ihr undankbar vorgekommen wäre, auf dieser Kleinigkeit herumzureiten. Sie schämte sich geradezu dafür, unter seiner Fürsorge ständig neue Leiden zu entwickeln. Krampfhaft bemühte sie sich darum, wenigstens ihre Übelkeit vor ihm zu verbergen. Aber ihre Appetitlosigkeit entging Oredion freilich nicht.

      „Du musst mehr essen,“ drängte er Erdree freundlich. „Ich habe gehofft, dass ich dich noch ein wenig aufpäppeln kann, bevor du das Krankenquartier verlässt. Aber nun wirst du morgen deinen Dienst antreten, und du bist immer noch viel zu mager. Oft bleibt die Hälfte von deinen Mahlzeiten übrig. Dabei habe ich genau darauf geachtet, dass du gut verträgliches Essen bekommst. Und ich kann kein Anzeichen für irgendeine akute Erkrankung mehr finden. Bedrückt dich etwas?“

      Fahrig strich Erdree ihre Bettdecke glatt. Oredions besorgter Blick traf sie tief. Obwohl sie ihn nicht noch mehr beunruhigen wollte, brach ein Flüstern aus ihr hervor: „Mir ist meistens übel. Und mein Nacken tut weh.“

      Oredions sanfte Finger tasteten nach ihren Nackenmuskeln. „Kein Wunder. Du bist völlig verspannt. Erdree–“ Oredion setzte sich auf die Bettkante und nahm Erdrees Hand in seine. „Du bist erst seit einigen Tagen hier auf Glynwerk. Du bist immer noch dabei, dich einzugewöhnen. Viel Neues kommt auf dich zu. Ich kann mir gut vorstellen, dass du heute besonders aufgeregt bist – weil du dich morgen bei Generalin Ulante melden sollst. Da bekommt man schon einmal einen flauen Magen und einen verspannten Nacken. Glaub mir – morgen Abend wirst du dich viel besser fühlen. Hab keine Angst. Niemand wird etwas von dir verlangen, was deiner Gesundheit schaden könnte. Schließlich braucht das Heer dich. Ich werde mich auch weiterhin um dich kümmern. Du wirst jeden Morgen hierher ins Krankenquartier kommen, um deine Medizin zu nehmen. Dann kannst du mir auch immer sagen, ob du noch etwas brauchst – und auch sonst jederzeit. Sicher wird dein Leben beim Heer anstrengender werden als in Mooresruh. Aber dafür wirst du auch... Dafür werden auch einige Dinge besser sein als in Mooresruh. Mach dir keine Gedanken. Nimm einen Tag nach dem anderen. Gewöhne dich an das Leben beim Heer, schau, dass du zu Kräften kommst, und komm zu mir, wenn du irgendetwas brauchst.“

      Während ihr unsicherer Blick an den ruhigen braunen Augen

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