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wahre Glückseligkeit kommt uns vom Himmel hernieder, und die Menschen sollen sie

       neidlos und friedlich unter sich verteilen.« Das ist doch genau dasselbe. Ihr Glaube und unser Glaube sind einander also

       gleich. Wenn ich dem meinigen gehorche, handle ich, wie ein Christ zu handeln hat, und wenn Sie tun, was der Ihrige

       gebietet, so sind Sie das, was Sie vorhin einen Confucianer genannt haben.«

       Diese Art der Auffassung brachte dem Amerikaner die Sprache wieder.

       »Bitte sehr!« rief er aus. »Ich, ein Confucianer! Welch eine Logik! Zwar scheint Ihnen unsere Bibel nicht unbekannt zu

       sein, aber Sie können unmöglich eine Ahnung von den zahllosen Verschiedenheiten haben, welche zwischen Ihrem

       Glauben und dem christlichen vorhanden sind!«

       »Das tut nichts!« lächelte Fu. »Diese Verschiedenheiten müssen vorhanden sein, weil die Menschen verschieden

       sind. Ihr Christen liegt ja untereinander selbst im Streit! Es kommt nur auf den Ertrag, auf das Ende, auf den Abschluß, auf

       die Summe an. Wenn zwei Rechnungen genau dieselbe Summe ergeben, so ist das ein Beweis, daß beide richtig sind.

       Vielleicht sind einzelne Posten anders benannt; einige hier zusammengezogen, dort aber auseinander gehalten worden;

       die eine ist mit lateinischer Schrift, die andere in chinesischen Zeichen geschrieben; man hat die eine von links nach

       rechts, die andere aber umgekehrt zu lesen. Das ist Alles, Alles zwar nicht gleichgültig, aber doch nur Nebensache. Die

       Hauptsache ist, daß die Summen stimmen. Und wenn sie gleich sind, so ist die eine Rechnung genau so viel wie die

       andere wert, und keiner von Denen, die sie geschrieben haben und dem Himmel präsentieren, darf behaupten, daß die

       Buchführung des Anderen eine falsche sei. Sie haben gesehen, daß unsere Religionen ganz genau dieselbe Summe

       ergeben. Daß die einzelnen Posten geschichtliche oder nationale Verschiedenheiten zeigen, gibt der Berechnung Leben

       und Interesse, und es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Richtigkeit der einen Rechnung gar nicht ohne die

       Richtigkeit der anderen zu beweisen wäre. Indem Ihr Glaube ganz dieselben Früchte wie der unsere bringt, beweisen Sie

       uns, daß er auf keinem Irrtume beruht, und wir würden ebenso unhöflich wie unklug handeln, wenn wir behaupteten, daß es

       für Sie notwendig sei, ihm zu entsagen und sich zu dem unsern zu bekehren.«

       Der Missionar war den Worten des Chinesen mit einer Aufmerksamkeit gefolgt, welche sich nach und nach immer

       mehr in Verwunderung verwandelte. Er hatte nicht für möglich gehalten, daß der Spieß auf eine solche Weise

       herumgedreht werden könne, und da es ihm an Gedanken und also auch an Worten zu einer Entgegnung fehlte, so

       wandte er sich in seiner Verlegenheit an seine Tochter:

       »Hast du es gehört, Mary? Man ist so höflich und so klug, mich nicht bekehren zu wollen! Diese "Summe" der

       Religionen kommt mir ungemein verdächtig vor. Man hat darüber nachzudenken!«

       »Das können Sie sich ersparen«, bemerkte der Chinese. »Christus sagt im Matthäus zweimal kurz hintereinander:

       "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!" Die Früchte aber ergeben doch die Summe von des Baumes Tätigkeit und

       Wert. Sie hören, daß ich als Christ zu Ihnen spreche!«

       »Aber woher kommt Ihnen denn diese Kenntnis unserer Heiligen Schrift?«

       »Aus dem Gehorsam gegen unsere heiligen Schriften, welche es mir zur Pflicht machen, alle Wege kennen zu lernen,

       die zum Heil führen. Ueberall, wo ein Tempel oder eine Kirche steht, ist ein solcher Weg geöffnet. Der Eine geht ihn von

       dem Tempel, der Andere von der Kirche aus; Beide aber wandern nach derselben Stelle, wo die Ernte abzuliefern und

       die Rechnung vorzulegen ist.«

       »Sie meinen den Tod? Aber das ewige Leben nach demselben? Die Seligkeit? Was wissen Sie von dieser?«

       »Wir wissen, daß unsere Ahnen sich dort befinden, und wir verehren sie. Sie glauben, daß Ihre Seligen, Ihre Heiligen

       dort wohnen, und senden ihnen Ihre Gebete zu. Ist das nicht ganz dasselbe?«

       »Was das betrifft, so werden Sie auf diese Ihre Ahnen wohl verzichten müssen, denn - - -«

       »Müssen? Müssen?« fiel ihm da Fu schnell in die Rede.

       Er sah aus, als ob er zornig aufspringen wolle. Es war gewiß, daß der Amerikaner gar nicht ahnte, wie viele Fehler er

       gemacht hatte. Waren ihm denn die Sitten der Chinesen wirklich so unbekannt, wie man aus seinem Verhalten schließen

       mußte? Dann hätte er zu Hause bleiben sollen! Oder fühlte er sich von seinem Berufe in der Weise begeistert, daß es

       außer seinen Bekehrungswünschen keine anderen Rücksichten für ihn gab? Oder gehörte er zu der gar nicht seltenen

       Sorte von Kaukasiern, welche meinen, daß die Angehörigen anderer Rassen nicht nur gegen körperliche, sondern auch

       gegen seelische Mißhandlungen weniger empfindlich sind als wir? Daß er in dieser Weise über die Ahnen sprach, war

       eine Rücksichtslosigkeit, die gar nicht größer sein konnte, und ich war überzeugt, daß die Chinesen entweder ihn von

       ihrem Tisch weisen oder sich selbst entfernen würden, zumal sie von ihm infolge ihrer Gebräuche gezwungen worden

       waren, auf das Essen zu verzichten, was er aber gar nicht beachtet zu haben schien. Doch geschah nicht, was ich

       vermutet hatte. Fu beherrschte sich. Er fuhr in demselben freundlichen Tone, in welchem er früher gesprochen hatte, fort:

       »Wer auf seine Verstorbenen verzichtet, der ist nicht wert, daß sie für ihn gelebt haben. Er würde ja dadurch auf sich

       selbst verzichten, weil er sein Dasein nur dem ihrigen verdankt.«

       Da traf ihn ein warmer Blick aus Marys Augen. Es war ihr wahrscheinlich nicht entgangen, daß es ihm Ueberwindung

       gekostet hatte, ruhig zu bleiben, und es drängte sie, ihm ein zustimmendes Wort zu sagen:

       »Wer könnte einen solchen Verzicht verlangen! Wie wäre es mir möglich, der verstorbenen Mutter zu vergessen,

       deren Liebe mir eine ganze Welt gegeben hat! Ich kann sie mir nicht tot denken. Ich weiß, sie ist noch heut bei mir, wie

       sie stets bei mir gewesen ist. Der Unterschied ist nur, daß ich sie früher sah, jetzt aber nicht mehr sehen kann. Aber ich

       fühle sie. Seit ihrem Scheiden wohnt und wirkt in mir Etwas, was vorher nicht vorhanden war. Die, welche der

       Sprachgebrauch so fälschlich Tote nennt, haben vielleicht größere Macht über uns, als wir uns denken können.«

       »Mary, du sprichst sehr sonderbar!« antwortete ihr Vater in verweisendem Tone.

       Tsi, welcher aus Hochachtung vor seinem Vater bisher noch kein Wort gesprochen hatte, hielt die Augenlider halb

       gesenkt und den Kopf ihr leise zugeneigt, als ob er wünsche, daß sie weitersprechen möge. War es nur der tiefe Wohllaut

       ihrer Stimme oder auch der Inhalt ihrer Worte, der dies bewirkte? Fu, welcher sie nur einmal mit einem flüchtigen Blick

       gestreift, dann aber nicht mehr beachtet hatte, wendete ihr jetzt sein Gesicht voll zu, betrachtete das ihrige mit offenem

       Interesse und sagte dann in einer Weise, mit welcher er wohl noch kein chinesisches Mädchen ausgezeichnet hatte:

       »Ich danke Ihnen, Miß Waller! Nichts kann so falsch sein, wie die

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