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zu schleppen? Sicher ist keine neue Kraft in die Muskeln oder in das Blut gekommen, und doch tut sie Dinge, die ihr unter gewöhnlichen Umständen unmöglich gewesen wären. In der Not vergisst sie ihre Schwäche, sie sieht nur noch die drohende Not, die Gefahr ihres geliebten Kindes, den Verlust ihres Heims: in diesem Augenblick glaubt sie fest daran, dass sie das tun kann, was sie jetzt versucht, und so tut sie es. Es ist ein veränderter Zustand des Geistes, nicht der Muskeln und des Blutes, und dieser gibt die notwendige Energie her. Gewiss hat der Muskel mit dieser Kraft den Arm bewegt, aber die Überzeugung, zu dieser Bewegung fähig zu sein, war zunächst notwendig. Das Feuer, die Gefahr, die Aufregung, die Notwendigkeit, Leben und Eigentum zu retten, das zeitweilige Vergessen der Schwäche – das war nötig, um den Geist in den richtigen Zustand zu versetzen.

      Beweise von solcher Macht des Geistes über den Körper finden wir oft und viel. Es ist wunderbar, dass die Menschheit so lange gebraucht hat, diese Zeichen zu verstehen, die rechten Folgerungen zu ziehen und die richtige Anwendung davon zu machen. Wie die Kraft der Elektrizität, durch die Luft über ganze Meere zu dringen und menschliche Botschaften zu tragen, so war auch diese Kraft des Geistes schon längst vorhanden, aber erst jetzt fängt man an, sie zu erfassen.

      Die Rolle, die der Geist bei der Heilung von Krankheiten spielt, ist den Ärzten wohlbekannt, und ganze Bücher sind gefüllt worden mit Beispielen von Fällen, wo der Geist mehr getan hat, als die gewöhnliche Heilkunde und Chirurgie. Einer der angesehensten ärztlichen Forscher, Dr. William Osler, den König Eduard VII. von der John-Hopkins-Hochschule weg zum Regius-Professor der Heilkunde nach Oxford berief, sagt in der amerikanischen Enzyklopädie: „Das seelische Verfahren hat immer eine wichtige, freilich oft unerkannte Rolle bei der Heilung gespielt. Ein großer Teil der Heilungen geschieht durch einen festen Glauben, der den Geist ermuntert, das Blut freier fließen und die Nerven ihre Arbeit ohne Störung tun lässt. Niedergeschlagenheit oder Mangel an Glauben kann den stärksten und gesundesten Körper bis an die Schwelle des Grabes herunterbringen; der Glaube macht einen Löffel voll Wasser oder ein Brotkügelchen fähig, wahre Wunder von Heilungen zu vollbringen, wo man die besten Arzneien aus Verzweiflung weggeschüttet hat. Die Grundlage der gesamten Ausübung der Heilkunde ist der Glaube an den Arzt, an seine Mittel und an sein Verfahren.“

      Ähnlich sagt Dr. Smith Ely Jellisse von der Columbia Universität in derselben Enzyklopädie: „Ohne Frage ist das älteste und jetzt wieder neueste Mittel zur Heilung die Suggestion. Die Kraft, durch den Glauben zu heilen, gehört keiner bestimmten Religionsgemeinschaft und keinen besonderen Stand ausschließlich an, ebenso wenig gibt es nur eine einzige bestimmte Lehre darüber.

      Der Glaube an Götter und Göttinnen, das Gebet zu Götzenbildern aus Holz oder Stein oder aus Sommerfäden, der Glaube an den Arzt, der Glaube an uns selbst, sei er in unserm Innern entsprungen oder uns erst von außen gebracht – all das sind Erscheinungen der großen Heilkraft, die in dem Einfluss geistiger Zustände auf körperliche Tätigkeiten ruht. Diese Kraft versetzt keine Berge, sie kann nicht die Schwindsucht heilen, sie hat keine Wirkung auf ein gebrochenes Bein oder eine organische Lähmung, aber die Suggestion in ihrem mannigfachen Formen kann sein und ist wirklich eine der stärksten Unterstützungen jedes Heilverfahrens. Ich will hier nicht von dem Missbrauch reden, den Hypnotiseure, Hellseher und eine Schar von derartigen Leuten mit ihr treiben. Der menschliche Geist ist leichtgläubig von Natur, er glaubt, was er zu glauben wünscht und was er glauben will, und der Gebrauch der Suggestion bei der Heilung gibt eine große Kraft zum Guten wie zum Schlimmen.“

      In dieser Äußerung ist Dr. Jellisse vielleicht zu sehr am Hergebrachten hängend, sonst würde er gewiss zugeben, dass das Zusammenfügen eines gebrochenen Knochens im Innersten beeinflusst wird durch den Geisteszustand des Kranken, von dem alle Tätigkeiten wie Atmen, Verdauung, Ausscheidung abhängen, dass ein fester Willensentschluss, zusammen mit den richtigen Bedingungen der Wärmeregelung und Pflege, bei der Erholung von milderen Formen der Schwindsucht sehr bedeutend mithilft und dass sogar eine ganz alte Lähmung wieder plötzlich geheilt werden kann durch heftige Erschütterung des Geistes oder der Nerven.

      Schon vor langer Zeit hat Sir James Y. Simpson gesagt: „Der Arzt kennt und übt noch nicht den ganzen Umfang seiner Kunst, wenn er den wunderbaren Einfluss des Geistes auf den Körper nicht berücksichtigt.“

      4. Unser schlimmster Feind ist die Furcht.

      Unsre Zweifel sind Verräter und lassen uns oft das Gute, das wir gewinnen könnten, dadurch verlieren, dass sie uns abhalten, es ernstlich zu wollen.

       Shakespeare, Maß für Maß.

      Das tödlichste Werkzeug des Gedankens, mit dem er das menschliche Leben bedroht, ist die Furcht. Die Furcht verschlechtert den Charakter, vernichtet das Streben, verursacht Krankheit, zerstört das Glück in uns und in andern und verhindert uns an der Erlangung von tausend Gütern. Sie hat nicht eine einzige gute Eigenschaft: sie ist ganz und gar vom Übel. Die Wissenschaft von den Lebensvorgängen weiß heute ganz genau, dass die Furcht das Blut ärmer an wertvollen Stoffen macht, weil sie die Verdauung stört und die Ernährung schwächt. Sie erniedrigt die geistige und körperliche Lebenskraft und tötet jede Fähigkeit zu erfolgreichem Wirken. Sie ist der Todfeind allen jugendlichen Glücks und der gefürchtetste Gefährte des Alters. Der Frohsinn entflieht vor ihrem schreckenden Blick, und Heiterkeit des Gemüts kann nicht im gleichen Haus mit ihr wohnen.

      Dr. William H. Holcomb sagt: „Von all den krankhaften Zuständen, die auf den Menschen als Ganzes so nachteilig einwirken, besetzt die Furcht das weiteste Gebiet. Sie hat viele Grade und Abstufungen, von dem Zustand des äußersten Entsetzens bis zur leisen Ahnung eines bevorstehenden Übels. Aber auf der ganzen Linie ist sie dasselbe – ein durch die Nerven auf alle schaffenden Lebensmittelpunkte sich übertragender lähmender Druck mit einer Menge äußerlicher krankhafter Anzeichen in jedem Gewebe des Körpers.“

      Horace Fletcher sagt: „Die Furcht ist wie Kohlensäure, die in unsre Lebensluft eingepumpt wird. Sie verursacht Erstickung auf dem Gebiet des Gedankens, der Sittlichkeit und des Geistes, und sie ist manchmal geradezu tödlich – tödlich für die Energie, tödlich für die Gewebe und tödlich für alles lebendige Wachstum.“

      Und doch leben wir von unsrer Geburt an unter der Herrschaft und in der Gegenwart dieses bösen Geistes, der Furcht! Tausendmal wird das Kind vor dem und jenem gewarnt: hier droht ihm Gift, hier ein Biss, hier gar der Tod; irgendetwas Schreckliches steht ihm bevor, wenn es dies oder das tut. Männer und Frauen können bestimmte harmlose Tiere nicht ohne Entsetzen erblicken, weil man ihnen als Kinder gesagt hatte, sie würden von ihnen verletzt. Es ist eine der größten denkbaren Grausamkeiten, in den bildsamen Geist eines Kindes das schreckliche Bild der Furcht einzudrücken, das wie die Buchstaben in der Rinde eines jungen Stämmchens mit den Jahren sich immer verbreitert und vertieft. Die düstern Schatten dieses schrecklichen Bildes hängen über dem ganzen Leben und schließen die Sonne der Freude und des Glückes von ihm aus.

      Ein australischer Schriftsteller sagt: „Fast das größte Unglück, das ein heranwachsendes Kind treffen kann, ist, eine Mutter zu haben, die beständig von nervöser Angst gequält wird. Wenn eine Mutter der krankhaften, ins Kleinste gehenden und alles durchdringenden Furcht Raum gibt, so erfüllt sie unvermeidlich die Umgebung ihrer Kinder mit Schreck und Angst. Der Hintergrund der Furcht ist die Gewohnheit oder die Neigung, das Schlimmste vorauszusehen und zu erwarten. Die Mutter, die keinen Schritt tut und ihre Kinder keinen Schritt tun lässt, ohne Millionen von furchtbaren Möglichkeiten im Geist heraufzubeschwören, verbittert ihnen den Lebenskelch mit einem langsam, aber sicher wirkenden Gift. Ich weiß, dass Tausende von Jungen und Mädchen heute ängstlich, schwächlich, untätig und ungeschickt sind, bloß weil man sie schon im frühesten Alter gelehrt hat, in allem, was sie taten oder nur versuchten, die Möglichkeit einer Gefahr zu erblicken. Eine Mutter nimmt eine furchtbare Verantwortung auf sich, wenn sie aus törichter Furcht vor einer möglichen Verletzung ihrem Kind das Austoben seines Überschusses an Lebenskraft verbietet, das den Mut, die Ausdauer, das Selbstvertrauen und die Selbstbeherrschung gleichmäßig fördert.“

      „Mehr als zwanzig Jahre habe ich der Erforschung der Seelenkunde des Verbrechers und des Kindes gewidmet“, sagt Dr. Lino Ferriani. „Tausendmal habe ich die traurige

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