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      Durch Kommunikation erschaffen wir aber nicht nur jene sozialen Systeme, in denen wir leben, sondern wir definieren zugleich eine Systemgrenze, innerhalb derer ein »Wir« entsteht. Durch diese Grenzziehung schaffen wir auch eine Umwelt und damit die »anderen«, die nicht zu uns gehören, die außerhalb unserer Systemgrenzen sind. Kommunikation unterscheidet und verbindet zugleich. Die Frage, wer zu diesem »Wir« dazugehört, wer sich diesem »Wir« zugehörig fühlt, wird durch Kommunikation bearbeitet und entschieden.20

       These 2: Gesellschaftliche Kommunikation ist Kommunikation über Gesellschaft

      Kommunikation hält die Gesellschaft zusammen, definiert ihre Grenzen, ihre gesellschaftliche Identität, beschreibt die gemeinsamen und unterschiedlichen Werte, die dieses »Wir« oder »unsere Kultur« gegenüber den »anderen« ausmacht. Durch Kommunikation gestaltet sich das Zusammenleben oder das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, durch Kommunikation eignet sich jeder und jede von uns die Welt und die Gesellschaft an und bestimmt die Entwicklungen, die diese »Weltbeziehungen« nehmen.21

      Dirk Baecker gliedert die zentralen Inhalte gesellschaftlicher Kommunikation in drei Themen, die »Minimalbedingungen« für das Leben einer Gesellschaft darstellen und permanent bearbeitet werden müssen:

      »Die erste Minimalbedingung lautet, dass es weitergeht. Und die zweite lautet, dass das, was da weitergeht, nach wie vor als Gesellschaft (und nicht als etwas ganz anderes) erkennbar ist. Eine dritte Minimalbedingung ist […]: Offenbar muss es eine Erkenntnisleistung geben, die die Gesellschaft als Gesellschaft wiedererkennt.«22

      Die Kommunikation in und über die Gesellschaft ist also auf das Weiterleben der Gesellschaft, auf ihre Zukunft, ihre Identität und Wiedererkennbarkeit sowie auf ihre Selbsterkenntnis gerichtet.

       These 3: Gesellschaftliche Kommunikation erzeugt die Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Kommunikation

      Wie unterscheidet sich Gesellschaft von anderen sozialen Systemen, etwa einer Organisation, einer Gruppe oder einer Familie? Welche spezifischen Unterscheidungsmerkmale zeichnen die Gesellschaft aus? In der soziologischen Literatur werden fünf Merkmale von Gesellschaft genannt, die einen Unterschied zu anderen sozialen Systemen markieren:

       Inklusion bedeutet, dass man in einer Gesellschaft normalerweise – etwa durch Geburt, durch Rituale – automatisch dazugehört und an der gesellschaftlichen Kommunikation beteiligt ist. Der Ausnahmefall ist Exklusion, der Ausschluss aus der Kommunikation der Gesellschaft. Damit spricht man Menschen die Mitgliedschaft ab und macht sie zu Außenseitern. Nachdem Gesellschaft auch immer ein Schutz – gegen die Natur, gegen Gewalt oder gegen Hunger – war, bedeutete der Ausschluss meistens den Tod. Gesellschaftlicher Tod war körperlicher Tod. Das ist heute noch so.

       Koppelung: Individuen in Gesellschaften sind lose gekoppelt, also nicht unbedingt direkt und persönlich miteinander verbunden, sondern durch ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft. Sie müssen einander nicht kennen oder etwas miteinander zu tun haben. Es genügt, dass sie sich durch Kommunikation zu dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen.

       Zwecklosigkeit: Eine Gesellschaft dient keinem Zweck und keinem Ziel, das sie von einer außenstehenden Instanz erhält. Gesellschaften haben nur den Zweck, weiter zu existieren. Gesellschaft ist, so gesehen, ein Selbstzweck.

       Lebensraum: Gesellschaft ist der ultimative Raum unseres Lebens, die Welt, die uns umschließt und die unser Leben prägt. Unser Leben wird durch unseren Platz in der Gesellschaft und unser Verhältnis zu ihr bestimmt. Gesellschaft schwingt in uns selbst. Hartmut Rosa untersucht diese Resonanzen, die Gesellschaft in uns auslöst, die wir als Teil der Gesellschaft auf diese entwickeln und die entscheidend dafür ist, wie wir selbst in der Gesellschaft stehen.

      »Meine These ist, dass es im Leben auf die Qualität der Weltbeziehung ankommt, das heißt auf die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen; auf die Qualität der Weltaneignung.«23

      Wenn wir also von Gesellschaft als Lebensraum sprechen, dann ist damit das Zusammenspiel von Menschen und der Gesellschaft gemeint. Dieses Verhältnis ist entscheidend für uns und die Gesellschaft:

      »Ob Leben gelingt oder misslingt, hängt davon ab, auf welche Weise Welt (passiv) erfahren und (aktiv) angeeignet oder anverwandelt wird und werden kann.«24

       Grenzen der Gesellschaft: Immer wieder sind die Grenzen der Gesellschaft Thema gesellschaftlicher Diskussion: Wer gehört dazu, wer nicht?

      In den vergangenen Jahren ist eine vollkommen andere, bisher wenig beachtete Grenze der Gesellschaft stärker ins Bewusstsein gelangt: die Grenze zur ökologische Umwelt, also zur Natur, in der und von der wir leben. Das Verhältnis von Gesellschaft und Natur war immer schon ein zentrales Thema der Menschen, das allerdings unterschiedlich interpretiert wurde und wird: Natur als Ressource, als Gefahr, als Quelle der Spiritualität oder als Quelle von Reichtum. Heute ist die Umwelt zum »Sorgenkind« der Menschheit geworden: Es ist das Bewusstsein von Grenzen zur Natur und auch von Grenzen der Natur entstanden, die nicht nur für einzelne Gesellschaften, sondern für die globale Gesellschaft relevant sind.

       These 4: Gesellschaft muss ihre eigene Komplexität einfangen

      Gesellschaften sind hochkomplexe Kommunikationssysteme. Um mit sich selbst umgehen zu können, um sich selbst steuerbar zu machen, um die eigene Komplexität zu bearbeiten, muss jede Gesellschaft eine innere Ordnung schaffen. Solche Ordnung entsteht, indem die Gesellschaft sich in einzelne Teilsysteme »portioniert« und strukturiert. Zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Entwicklungsformen und unter unterschiedlichen Bedingungen waren jeweils unterschiedliche Ordnungskriterien maßgebend: vertikal etwa durch unterschiedliche Machtebenen und Hierarchien; horizontal etwa entlang von Arbeitsformen oder Ständen oder entlang von Familien oder Stämmen. Damit konnten innerhalb der Gesellschaft Zugehörigkeiten ausdifferenziert werden, die Orientierung und Sicherheit gaben.

      Unsere moderne Gesellschaft gliedert sich in funktionale Teilbereiche, die für das Ganze der Gesellschaft wichtige Aufgaben – Funktionen – erfüllen: Bildungs-, Gesundheits-, Wirtschafts-, Sozialoder politisches System. Diese Differenzierung hilft den Mitgliedern der Gesellschaft, sich zurechtzufinden, zu wissen, wohin sie sich mit ihren unterschiedlichen Anliegen wenden können. Diese jeweiligen gesellschaftlichen Anliegen können von Organisationen bearbeitet werden.

      »Ohne Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme von geringerer Komplexität, etwa Systeme für Wirtschaft oder für Politik, für Erziehung oder für Kriegführung, gäbe es keine Eigenständigkeit von Organisationen.«25

       2.3Wie verändert sich eine Gesellschaft?

      Es ist schon schwierig, sich selbst zu ändern. Noch schwieriger ist es, andere Menschen, Familien oder Organisationen zu verändern. Fast unmöglich scheint es zu sein, die Gesellschaft zu verändern. Trotzdem kann man sagen: Jede Gesellschaft hat sich immer wieder verändert. Wie ist das gekommen?

      Ausgehend von der Definition von Gesellschaft als Kommunikationssystem lässt sich schließen, dass auch Veränderung von Gesellschaften mit einer Veränderung von Kommunikation einhergeht. Diese Veränderungen können entweder durch innere Prozesse ausgelöst werden: Sei es der dialektische »Kampf der Widersprüche«, seien es Innovationen und Entdeckungen. Veränderungen können aber auch durch externe Ereignisse wie Naturkatastrophen oder andere Veränderungen der ökologischen Bedingungen ausgelöst werden.

      Dirk Baecker sieht die wesentlichen Auslöser gesellschaftlicher Entwicklungssprünge in den Veränderungen der Medien und der Mittel der Kommunikation. Gesellschaftliche Veränderungen entstanden demnach durch

      »die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks.

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