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Kommentator schreit meinen Namen. Immer wieder. Sie hat es geschafft, sie hat es geschafft. Niemand hatte sie auf der Rechnung. Wirklich niemand. Das ganze Training, all die Entbehrungen, jetzt zahlt es sich aus. Mit jedem Beinschlag, mit jedem Armzug tauche ich tiefer ab in diesen Film. Gold, Gold, Gold, schreit der euphorisierte Mann in meinem Kopf. Die Stimme füllt mich an mit Glaube, mit Stolz, mit Hoffnung. Die Stimme des Reporters wird leiser und verlangsamt sich. Neunundzwanzig. Einatmen. Neunundzwanzig. Einatmen. Wende. Dreißig. Einatmen. Dreißig. Einatmen. Noch elf Bahnen, dann habe ich es geschafft, dann sind die zwei Kilometer voll. Bis dahin gleite ich in einen neuen Film, ich sehe die Bilder von 72, die Bilder aus dem Fernsehen, aus den Büchern, und ich denke an seine Rekorde, ja, ich denke an die Rekorde von Mark Spitz, ich denke an seinen Bart, die dunklen Haare auf dem Kopf, unter den Achseln, ich denke an diese knappe Schwimmhose, Stars and Stripes, den Ansatz der Bauchmuskeln, der links und rechts als helle Linie in der Badehose verschwindet, ich denke an die Goldmedaillen, die er 72 geholt hat, ich höre die Stimme des Vaters, ich höre, wie der Vater mich, seine Tochter, tatsächlich Mark Spitz nennt. Immer wieder: Mark Spitz. Das hat er gesagt, wenn ich vom Schwimmtraining nach Hause gekommen bin: Mark Spitz. Er hat kurz gelacht und sich wieder zum Fernseher gedreht. Abends lag ich im Bett und habe mir immer wieder diesen Namen vorgesagt: Mark Spitz. Mark Spitz. Mark Spitz. Laut. Leise. Gebrummt. Gehaucht. Fröhlich. Traurig. Schnell. Langsam. Roboterhaft. Gesungen. Geleiert. In allen möglichen Variationen. Mein beruhigender Vers zum Einschlafen. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, nachzufragen: Wer ist dieser Mark Spitz? Es gab keine Fragen, die ich dem Vater gestellt hätte. Ich stellte mir die Fragen selbst.

      Auf Youtube findest Du ein paar von den Starts. Das Rennen vom 29. August gibt es nicht als Film. Ich habe die letzten Tage alles durchsucht. Ich hatte die idiotische Hoffnung, den Vater und Deine Mutter auf einem der Videos ausfindig zu machen. Die 100 Meter Kraul und die 200 Meter Schmetterling und die 100 Meter Freistil-Staffel kannst Du ganz anschauen. Du findest im Netz etwa zwanzig Varianten von Mark Spitz’ Bart-Geschichte. Die baut er in seine Vorträge ein, die er vor irgendwelchen Managern hält. Er berichtet, dass er sich den Bart eigentlich abrasieren wollte, auch die Trainer hätten ihm dazu geraten, aber dann habe er noch vor dem ersten Start in der Olympiahalle ein Interview gegeben. Ein Journalist habe ihn gefragt: Warum tragen Sie diesen Bart, Mr. Spitz? Stille. Er habe die freudigen Gesichter der Journalisten gesehen, aber auch die neugierigen Blicke der russischen Trainer, die sich zu der Interviewtraube dazugestellt hatten, weil sie scharf darauf gewesen waren, seinem Geheimnis schon vorab auf die Schliche zu kommen. Er habe diesen Typen nicht verraten wollen, dass er eigentlich beabsichtigt habe, das Ding abzurasieren, obwohl es ihm gefallen habe, alle hätten damals schließlich lange Haare und Bart getragen, und dann dachte er, warum die Gelegenheit nicht nutzen und die Russen verunsichern, und er habe den Journalisten in die Mikrofone gesagt, dass er den Bart trage, weil er ihn schneller mache, und er habe gesehen, dass alle russischen Trainer wie wild in ihre Blocks kritzelten, und das habe ihn angespornt und er habe angefangen zu fantasieren. Der Bart ließe das Wasser schnittiger und eleganter um seinen Mund herumgleiten, das verschaffe ihm hinten, ab der Hüfte, mehr Auftrieb und so sei seine Wasserlage schlicht viel, viel besser als die der Konkurrenten. Nach dieser Geschichte habe er sich den Bart natürlich nicht mehr abrasieren können, er hätte sich lächerlich gemacht. Plötzlich sei der Bart zu einer Waffe der psychologischen Kriegsführung geworden. Die Russen habe gewurmt, dass man sich so schnell keinen Oberlippenbart wachsen lassen konnte. Ein Jahr später jedoch, bei anderen Wettkämpfen, Mark Spitz genießt die Pointe, hätten alle russischen Schwimmer Oberlippenbart getragen. Mark Spitz erzählt diese Geschichte mit einem überlegenen, arroganten Siegerlächeln. Man sieht in dem Film, wie er sein Publikum bedient, das Publikum, das immer wieder die gleichen Geschichten hören will. Seht her, das ist lange vorbei, aber so dumm waren diese Typen damals, diese Russen, denen haben wir’s ordentlich gezeigt. Give me five! Die mutwillige Reduktion von Komplexität macht ihn zum Helden. Diesen Schwimmer, der mit Einundzwanzig so aussah, als würde er in München mit Freddy Mercury zusammen in die Sauna gehen. An diesen Typen dachte der Vater, wenn er mich Mark Spitz nannte, diesem Mark Spitz musste der Vater an jenem Tag sehr nahe gekommen sein, an diesem 29. August 1972, dem Tag der Entscheidung über 200 Meter Freistil, der Tag, an dem das Foto entstanden ist, der Tag, an dem Deine Mutter freudig in die Kamera geblickt hat und der Vater sein Gesicht zu verbergen suchte, der Tag, an dem Mark Spitz in 1:52,78 seine dritte Goldmedaille geholt hat, der Tag, an dem Mark Spitz den gesamten Sport für alle Ewigkeiten revolutioniert hat, weil er am Abend bei der Siegerehrung seine grünen, ungetragenen Adidas-Turnschuhe in die Kameras gehalten hat, in alle Kameras, die auf ihn gerichtet waren, der Tag, an dem die Spiele der Amateure beendet waren und das Zeitalter der Profis und ihrer Sponsoren eingeläutet wurde, der Tag, als der Protest der Ostblockdelegationen gegen diesen kapitalistischen Gestus vergeblich aufbrandete, der Tag, an dem Mark Spitz zum Boten der neuen Welt und ihrer neuen Bilder geworden war.

      Als ich mit vierzehn oder fünfzehn das erste Mal mit dem Vater über Politik gestritten habe, nannte er mich danach Rosa Luxemburg. Auch später immer wieder: Rosa Luxemburg. In seiner Stimme lag eine Mischung aus Anerkennung und Ekel, aus Witz und Schmähung. Wenigstens eine Frau, habe ich gedacht. Vor einer Weile, Holger und ich waren gerade dabei, unsere Wohnung umzuräumen, hat Holger gesagt: Wenn wir ein Kind bekommen, eine Tochter, dann nennen wir sie Rosa. Ich habe gesagt, dass ich diesen Namen hasse. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr über Kindernamen reden will. Nicht bevor ich schwanger bin.

      Als ich nach meinen zweitausend Trainingsmetern und dem imaginierten Weltrekord erschöpft zu unseren Liegestühlen zurückkam, drehte ich Holger beim Abtrocknen den Rücken zu. Als ich mir das Handtuch als Turban um den Kopf gewickelt hatte, sagte Holger: Das Muttermal auf deiner Schulter ist rot. Am Rand sieht es entzündet aus. Holger kratzte fachmännisch an dem Fleck herum. Lass das, habe ich ihn gebten, das ist vom Chlor, das kenne ich schon, kein Grund zur Besorgnis. Er strich, wie zur Entschuldigung, mit seinem Handrücken über meine Haut. Deine Wirbel sind spitz, sagte er sanft, du hast Gänsehaut. Holger nahm meine Hand und wollte meine Finger küssen. Ich habe ihm den Zeigefinger in die Nase gesteckt. Er hat den Kopf nach hinten gerissen, sein Magazin genommen und schnaufend darin herumgeblättert. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er manchmal an seinen Job denke, wenn er diese alten Leute sehe. Überlegst du, wo du sie überall operieren könntest? Straffen, Fett absaugen, Lifting? Holger ließ sein Magazin fallen und richtete sich auf. Wieso sollte man alte Leute operieren, denen es offensichtlich gut geht. Er verzog keine Miene, er wollte streng aussehen. Ich mache diesen Facharzt nicht, damit du eine bessere Optik im Schwimmbad hast. Da gibt’s wirklich Sinnvolleres. Hier, schau dir diese Bilder an. Er nahm sein Magazin vom Boden und wedelte mir damit vor der Nase rum: Gaumenspalten. Fetttaschen. Demolierte Fressen. Brandopfer. Schau mal hier, so sieht jemand aus, in dessen Garten eine Streubombe eingeschlagen ist. Ich habe nicht hingesehen. Ich habe seine Hand genommen und sie auf meinen Bauch gelegt und dann habe ich ihn ganz leise gefragt, ob er mir denn helfen werde, wenn ich mal alt und runzlig sei, ob er sich vorstellen könne, mich dann zu operieren. Nur mich. Er schaute an mir vorbei Richtung Becken und stand ruckartig von seiner Liege auf. Was ist denn da los, fragte er. Die Choreografie der alten Körper hatte sich aufgelöst, die bunten Schaumstoffwürste schwammen herrenlos zwischen den anderen Badegästen herum. Die Alten waren im Wasser plötzlich zu einer Traube verklumpt, einige gestikulierten wild in Richtung Beckenrand. Die Trainerin zog hastig ihr T-Shirt aus und sprang ins Wasser. Die Alten öffneten die Traube und gaben die Sicht frei. Sie standen alle um einen ihrer Mitturner herum. Er lag flach auf dem Wasser, gehalten von zwei Männern und einer Frau. Die Frau hielt seinen Kopf in ihren Händen, eine andere verpasste ihm ein paar Ohrfeigen, immer wieder mit der Rechten ins Gesicht. Der Mann reagierte nicht. Die Trainerin, bei den Alten angekommen, beugte sich über den Kopf des reglosen Mannes und rief seinen Namen. Keine Reaktion. Sie schob ein paar Gaffer zur Seite und fasste ihn von hinten mit beiden Händen am Nacken, so wie es Rettungsschwimmer tun. Sie zog ihn zum Rand. Sie drehte den reglosen Körper parallel zur Wasserkante und rief zwei junge Kerle herbei, die ihr helfen sollten, den massigen Alten aus dem Wasser zu hieven. Die jungen Männer zogen ihn an Arm und Bein aus dem Becken, die Trainerin schob von unten nach. Der Mann glitt in eine Pfütze. Er lag da wie ein gestrandeter Wal. Sein melonenförmiger, behaarter Bauch ragte in die Luft, seine kurzen Arme hingen hilflos an ihm runter, Hände und Unterarme in der Wasserlache. Die Beine waren nach innen verdreht. Die Krampfadern an seinen Waden traten bunt schimmernd hervor. Die Trainerin kniete sich hinter ihn und

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