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zeigen, wie nah Du mir schon bist, nach so kurzer Zeit. Ich habe so getan, als sei ich noch im Modus des Überprüfens, als gäbe es für mich noch Zweifel an Deiner Glaubwürdigkeit.

      Und dann hat Holger gesagt: Macht doch einfach einen Test. Er wollte mir helfen, er hat tatsächlich geglaubt, der Zweifel würde mich umtreiben. Pass auf, habe ich gesagt, ich brauche diese Art Beweise nicht. Ich glaube an das, was ich sehe, was ich fühle. Genauso wenig wie ich irgendeine künstliche Befruchtung brauche, um schwanger zu werden, genauso wenig brauche ich einen Gentest, um zu glauben, dass das mein Bruder ist. Wenn überhaupt, dann Halbbruder, hat Holger gespielt unbeteiligt vor sich hin gemurmelt, aber egal – ihr seid aus einem Fleisch und Blut. Ihr seid Verwandte. Dagegen könnt ihr nichts machen. Das hat Holger gesagt. Und ich habe gesagt: Ich bin mehr als mein Blut. Ich bin ein Mensch mit einer Geschichte. Entscheidend ist doch: Wer hat mich als Kind ins Bett gebracht, wer hat mich zum Schwimmen lernen ins Wasser geworfen, mit wem habe ich das erste Mal geschlafen, wer waren meine Lehrer, wer hat mich schlecht behandelt, wer nicht. Wir sind nur miteinander verwandt, wenn wir das wollen, nur dann. Ich habe versucht, gegen die Biologie anzureden.

      Also glaubst Du ihm doch, hat Holger gefragt. Ja, ich glaube ihm. Es gibt keinen Zweifel. Und dann habe ich das Foto, wie ein Full House beim Poker, vor ihm auf den Tisch gelegt. Und Holger: Die stehen vor dem Olympiabad. Vor unserem Olympiabad.

      Später am Abend hat Holger von Zwillingsforschung angefangen. Von telepathischen Beziehungen. Er hat von Leuten gesprochen, die nach der Geburt getrennt wurden und dreißig Jahre lang nichts voneinander gewusst haben. Wie unvollständig sich diese Leute all die Jahre gefühlt haben. Dass es bei allen diese Ahnung gegeben habe, dass da noch jemand sei. Die unfreiwillige Ähnlichkeit: Die gleichen Lieblingsspeisen, derselbe Sport, ihre Ehepartner trügen dieselben Namen, bei einem Paar habe man sogar festgestellt, dass sie über Jahre denselben Urlaubsort besucht hätten, allerdings jeder von beiden zu einer anderen Jahreszeit. Sonst wären sie sich wahrscheinlich schon früher begegnet, hätten einen lustigen Abend in einem Strandrestaurant miteinander verbracht, hätten die Adressen ausgetauscht und sich ein paar Jahre lang zu Weihnachten per Mail eine von diesen Grußkarten geschickt.

      Wir sind keine Zwillinge.

      Holger und ich haben noch lange in der Küche gesessen. Holger erzählte mal wieder von seinem Urgroßvater, der angeblich auf einer Reise durch die amerikanischen Südstaaten in einem Whiskey-Fass ertrunken ist. Wir haben gelacht, wir wurden immer ausgelassener, später haben wir in der Küche getanzt. Holgers Augen funkelten, sein Gesicht glühte. Alles fühlte sich plötzlich neu an. Wir haben uns geküsst wie lange nicht mehr. Später lagen wir erschöpft und glücklich im Bett.

      Ich habe von Deinen Händen geträumt, tatsächlich, von Deinen Händen. Sie sehen aus wie seine Hände, die Hände des Vaters. Lange, schmale Finger, Fingernägel, die sich wölben, und diese Hauthöcker auf den Gelenken. Eure Hände gibt es nicht oft.

      Im Café hast Du mich gefragt, ob ich zufrieden sei mit meinem Beruf. Ja, habe ich geantwortet, wie ein braves Mädchen, das gefragt wird, ob es gerne zur Schule geht. Ich habe mir immer gewünscht, Schauspielerin zu werden.

      Der Vater hat mich nie auf der Bühne gesehen.

      Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich zum Schauspielstudium nach Wien gehen werde, war sie nicht überrascht, obwohl ich ihr meine Bewerbung am Reinhardt-Seminar bis dahin verheimlicht hatte. Schön, schwärmte sie, Wien. Mein Berufswunsch interessierte sie nicht. Sie konnte sich unter Schauspielerei nichts Konkretes vorstellen. Sie dachte wahrscheinlich: Irgendwas mit Fernsehen. Von dem Renommee der Schule hatte sie keine Ahnung. Deshalb schien es ihr auch nicht sonderlich bemerkenswert, dass ich in Wien auf Anhieb angenommen worden war. Sie hatte keinen blassen Schimmer von diesen quälenden Aufnahmeprozeduren. Als wir jung waren, hat sie gesagt, dein Vater und ich, da hat er mir von Wien vorgeschwärmt. Wien, hat er immer gesagt, wir fahren nach Wien. Wenn sie mal wieder kraftlos gewesen sei, dann habe er von dieser gemeinsamen Reise geredet, um sie zu trösten, ihr ein Ziel vor Augen zu halten. Sie zwei. Ganz alleine. Aber er habe immer nur versprochen. Nie gehalten. Auf die Frage, warum sie nicht alleine hingefahren sei, ohne den Vater, fing sie schlagartig an zu heulen, das könne sie nicht erklären, die Zeit sei so schnell vergangen. Aber nun könne sie mich besuchen, ihre Tochter, darauf freue sie sich.

      Als die Mutter ein halbes Jahr später tatsächlich anrückte, habe ich ihr die Stadt gezeigt, alles, Museen, Kaffeehäuser, Bellaria-Kino, Zentralfriedhof, Prater, wir sind ins Theater gegangen, und ich war stolz, dass ich mich schon so gut zurechtfand in dieser Stadt, ich war euphorisch, weil ich bis dahin nur die kleinen Käffer der Eifel gekannt hatte, aber die Mutter konnte nichts begeistern, kein Funke ist übergesprungen, sie war skeptisch, sie ist widerwillig mit mir durch die Stadt geschlichen, ihr Gesicht hat seinen säuerlichen Ausdruck drei Tage lang nicht verändert. So, als geschehe ihr ein schmerzhaftes Unrecht. Irgendwann habe ich sie zur Rede gestellt. Da brach es aus ihr heraus, warum ich eigentlich in diese Stadt zum Studieren gegangen sei, ob ich ihr damit etwas beweisen wolle. Warum ich so tue, als ob ich die Erfinderin der großen weiten Welt sei. Sie würde mich gar nicht mehr wiedererkennen. Ich wusste keine Antwort. Später, am Abend, als wir zusammen in meinem kleinen Zimmer saßen, da habe ich ihr versucht zu erklären, dass es keinen speziellen Grund für mich gegeben habe, ausgerechnet in diese Stadt zu gehen. Wien sei schlicht die erste Schule gewesen, die mich angenommen habe, mehr nicht. Das glaube ich dir nicht, hat sie geantwortet. Und dann hat sie mir noch einmal die ganze Geschichte vom Vater erzählt. Wien war darin das Synonym für Enttäuschung und hohle Worte. Irgendwann bin ich eingeschlafen.

      Ich fahre heute nach Hause, hat sie gleich nach dem Aufwachen verkündet, obwohl sie eigentlich länger bleiben wollte. Wir lagen noch im Bett, ich auf meiner alten Federkernmatratze, die ich unter das undichte Fenster geschoben hatte, und sie auf dem Futon, das mir meine tschechische Mitbewohnerin Sarka für die Dauer des Besuchs überlassen hatte. Damit war der Boden des Zimmers bedeckt, nur ein kleiner Schreibtisch hatte noch Platz und eine alte, braune Schrankwand, die ich von meinem Vormieter übernommen hatte. Genauso wie die immergrüne Waldtapete um die weiß lackierte Tür herum. Ich habe nichts zu ihrer Entscheidung gesagt.

      Wir standen am Bahnsteig und warteten auf ihren Zug Richtung Salzburg, da fing sie an zu heulen. Ihr liefen die Tränen das Gesicht herunter. Nichts und niemand konnte ihr helfen. Er wird bald sterben, er macht es nicht mehr lange, schluchzte sie so laut, dass sich der halbe Bahnsteig nach uns umdrehte. Und dann offenbarte sie mir, dass sie, kurz bevor sie losgefahren sei nach Wien, einen Anruf bekommen habe aus der Klinik, der Vater sei gestürzt, nachts, vor dem Haus, man habe ihn im Krankenhaus behalten müssen. Der Arzt habe versucht, sie am Telefon zu beruhigen, der Beinbruch sei nicht das Problem, sie wisse ja Bescheid, er werde jetzt entgiftet, aber danach, da müsse er halt wieder zu sich nach Hause und dann gehe alles wieder von vorne los, es sei denn, er entschließe sich, eine Therapie zu machen, stationär in einer Klinik. Aber auch das könne dauern, bis es einen geeigneten Platz gebe, außerdem müsse er das schon selbst wollen. Und. Und. Und. Ich kann nicht mehr, rief die Mutter. Warum rufen die mich an? Warum lassen die mich nicht in Ruhe? Willst du deshalb zurück, weil du es nicht aushältst, ihn sich selbst zu überlassen, habe ich sie gefragt, und ich weiß noch, wie stolz ich war auf meine kühle, beherrschte Art. Der Zug stand schon da. Die Mutter stieg ein. Ich bin eine Weile auf dem Bahnsteig stehen geblieben und habe dem Zug mechanisch hinterhergewunken. Als der letzte Wagen am Horizont verschwunden war, überfiel mich schlagartig ein erbarmungsloser Schüttelfrost. Zum Glück war der Weg vom Westbahnhof zu meiner WG in der Turmburggasse nicht weit. Fast hätte ich es nicht bis nach Hause geschafft. Während der zwei U-Bahn-Stationen bis zur Neubaugasse schoss das Fieber in meine Glieder, ich schwitzte, und als ich den Berg runterging, am Apollo Kino vorbei, verlor ich fast das Bewusstsein. Die Nacht unter dem undichten Fenster. Mutters Abreise. Die Nachricht vom Zusammenbruch des Vaters. Ich wollte mit all dem nichts mehr zu tun haben.

      Eine ganze Woche habe ich fiebrig im Bett verbracht, erst als mein Rollenlehrer Thomas zu mir nach Hause kam, um nach mir zu sehen, fand ich die Kraft, die Wohnung wieder zu verlassen und einen Arzt aufzusuchen. Thomas bestand darauf. Du brauchst eine Krankmeldung, hat er mich gewarnt, sonst fliegst du von der Schule. Zuerst vermutete der Arzt das Pfeiffersche Drüsenfieber, aber da war nichts zu finden, alle Blutwerte waren in Ordnung, keine Entzündung im Körper, kein Mangel,

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