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Kaffee duftet. Und dann steht er auf, gibt mir einen Kuss, geht ins Bad, putzt sich die Zähne und legt sich hin. Ich hole dann die Zeitung von draußen. Neues vom Tag.

      Ich habe unser Treffen nicht erwähnt.

      Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Der Nachbar verstaut seine Kinder im Auto. Gegenüber hängt eine alte Frau ihr Bettzeug zum Lüften über die Fensterbank. Ab und zu fährt ein Wagen los. Aus der Ferne die Feuerwehr. Die Sirene verschwindet wieder. Der Unfall, der den anderen passiert. Holger schläft.

      Gleich muss ich zur Probe. Letzte Woche ist es wieder losgegangen. Ich habe zwei Monate nach meiner letzten Premiere frei gehabt. Das heißt: nur Vorstellungen am Abend. Und jetzt wieder Probebühne. Jeden Tag. Morgens und Abends. Außer, es gibt eine Vorstellung zu spielen. Drei-, viermal die Woche. Am Nachmittag ein paar Stunden frei. Zwischen drei und sieben. Zwei Wochen noch und dann sind Theaterferien. Wir haben einmal im Jahr Urlaub. Sechs Wochen lang. Im Sommer.

      Ich starre auf das Foto. Ich trage es durch die Wohnung wie eine Monstranz. Ich versuche, irgendetwas zu erkennen, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der mich weiterbringen könnte. Ein stinknormales Paar, denkt man. Ich kenne das Schwimmbad. Ich kenne das Olympiagelände. Ich kenne München. Ich lebe hier, seit Jahren. Bisher hatte die Stadt nichts mit dem Vater zu tun. Die Stadt war vaterfrei.

      Du hast erzählt, dass Deine Mutter eine fröhliche Frau gewesen sei. Dass sie einen Arzt geheiratet habe, als Du fünf warst. Dass sie noch zwei Kinder bekommen habe, Deine beiden Schwestern, und dann habe sie ihren Job als Krankenschwester an den Nagel gehängt. Sie sei jeden Tag schwimmen gegangen, ihr Leben lang, hast Du gesagt. Und dann diese Diagnose. Darmkrebs. Dein Ziehvater sei viel älter gewesen. Er sei schon vor zehn Jahren gestorben. Hat er von den beiden gewusst?

      Du willst wissen, was für ein Mensch Dein Vater war. Wenn ich das wüsste. Ich kann keine Schublade öffnen, keine Festplatte aktivieren und das, was war, einfach herausziehen oder hochladen. Alles, was ich Dir bieten kann, sind meine durchlöcherten Erinnerungen.

      Und dann ist da noch dieses Hörensagen, das die sechsunddreißig Jahre vor meiner Geburt betrifft.

      Und die Jahre nach seinem Tod. Die gehören auch zum Vater.

      Der Vater ist tot und die Vergangenheit ist ein Popanz.

      Popanz ist ein altmodisches Wort, das ich schon lange nicht mehr benutzt habe. Popanz hat der Vater immer gesagt, wenn er sich von jemandem gekränkt fühlte, wenn ihm jemand zu nahe kam, wenn er sich vor jemandem schämte, dann hat er ihn als Popanz beschimpft. Menschen, die in seinen Augen von anderen Menschen abhängig und beeinflussbar waren, die aber dauernd versuchten, den Eindruck von Macht und Selbstbestimmtheit zu erwecken. Menschen, die ihm Angst machten. Einmal, ich war noch ganz klein, sechs oder sieben Jahre alt, da kam er nachts besoffen nach Hause und es dauerte nicht lange, bis sich ein Streit zwischen ihm und der Mutter entzündet hatte. Der Vater hat rumgeschrien. Das ist ein Popanz, hat er krakeelt. Was willst du von diesem Popanz! Zu diesem Popanz zu gehen. Das ist unwürdig. Ich lag im Bett. Den Kopf längst unter der Decke versteckt, ich schwitzte. Der Zorn glühte und schlug Funken. Ich hörte immer wieder dieses Wort. Popanz. Popanz. Immer wieder, immer lauter, bis die Türen knallten und die Mutter sich schluchzend im Badezimmer einschließen musste. Ruhe war erst, als der Vater im Wohnzimmer auf seinem Sessel eingeschlafen war. Morgens bin ich als Erste aufgestanden und da saß er noch in seinem Sessel, der Fernseher lief, sein Kopf zur Seite abgeknickt. Speichelfäden hingen aus dem Mund auf seine Schulter. Es roch nach verbranntem Holz. Und Schweiß. Und Alkohol. Ich legte mich vor ihn auf den Teppich. Wie ein Hund, der sein schlafendes Herrchen bewacht. Bis die Mutter kam, mich verscheuchte und den Vater aufweckte.

      Erst viel später habe ich von der Mutter erfahren, dass er mit Popanz einen Therapeuten meinte, den sie eine Zeit lang wegen seiner Trinkerei konsultiert hatte. Weil sie ratlos war, sich nicht mehr zu helfen wusste. Als kleines Mädchen trug ich diesen Popanz immer bei mir. Popanz war mein Ungeheuer, mein Gespenst. Der Popanz machte mir alles streitig, was ich hatte. Wenn die Mutter wegging, ohne mich, eine Erledigung machen, einen raschen Einkauf, dann fürchtete ich, dass sie wieder diesen Popanz treffen würde. Das Gespenst namens Popanz saß in meinem Kopf. Es sitzt da immer noch.

      Aber das Wort Popanz hatte ich längst aus meinem Wortschatz gekickt. Bis eben. Mit dem Wort steigt die Unruhe wieder auf. In mir brodelt es, mein Fleisch, meine Haut, die halten die Lava in Schach. Ein altmodisches Bild, das hinkt, so wie alle Vergleiche hinken. Ich weiß. Halber Bruder. Ich spreche das Wort aus, laut, immer wieder: Popanz. Die Vergangenheit hinterlässt dabei ihren rauchigen Geschmack auf meiner Zunge.

      Ich weiß nicht, ob Du diesen Brief jemals lesen wirst.

      Ich habe gestern die Abendprobe abgesagt, weil ich Holger von Dir erzählen wollte. Ich wusste, dass er nichts vorhatte. Meistens ist er verplant. Er hat keine Lust, die Abende alleine zu verbringen. Er geht zum Sport. Ins Kino. Manchmal mit Freunden zum Essen. Ich habe der Regieassistentin gesagt, dass ich mich krank fühle und Schonung brauche. Und bevor ich richtig flachliege, habe ich sie beruhigt, bleibe ich heute Abend zu Hause. Die Assistentin hat die Schnute verzogen, aber mein schlecht gelaunter Blick, kurz davor, ins Ungehaltene abzugleiten, hat sie sofort einlenken lassen. Du hast ja einen Arzt zu Hause, hat sie beschwichtigt.

      Am Theater ist Krankheit ein Problem. Die knappen Probenzeiten. Vorstellungen, die ausfallen könnten.

      Ich habe Holger aus der Garderobe angerufen. Und ohne vorher nachzudenken, habe ich losgequatscht. Holger, wir müssen reden, es ist etwas passiert, das du unbedingt wissen musst. Stille am anderen Ende der Leitung. Nein, nein, nichts Schlimmes, habe ich gleich hinterhergeschoben, damit er sich keine Sorgen machen musste. Das hält er nicht aus, wenn er Dienst hat. Nicht solche Anrufe, hat er mich ganz am Anfang unserer Freundschaft gebeten, nachdem ich ihm am Telefon wegen einer versäumten Verabredung eine Riesenszene gemacht hatte. Ich kann mir solche Sorgen in der Klinik nicht erlauben, hat er mir damals erklärt. Es gehe da nicht um ihn, sondern um die Patienten. Und denen gehöre seine ganze Aufmerksamkeit.

      In Ordnung, hat er gesagt, ich bin um acht zu Hause.

      Ich habe gekocht, Kartoffeln und Forelle, habe Wein auf den Tisch gestellt, Kerzen angezündet und Holger ist nach Hause gekommen und hat die Küche betreten und hat gelächelt und dann hat er mich in den Arm genommen. Er hat mich ganz fest an sich gedrückt. Er hat nach Desinfektionsmittel und Zigaretten gerochen. Muss ich aufhören zu rauchen, hat er mich leise gefragt. Ich habe gar nicht verstanden, was er gemeint hat. Nein, habe ich gesagt, bloß nicht, dann hast du ja überhaupt kein Laster mehr. Aber, wenn du schwanger bist und wir ein Kind kriegen, ist es doch besser, ich höre auf. Nein, nein, habe ich gerufen, ich bin nicht schwanger, ach so, du hast gedacht, ich mach das hier alles, weil ich dir sagen wollte, dass wir ein Kind kriegen, nein, bitte, entschuldige, daran habe ich gar nicht gedacht, es geht um etwas ganz anderes. Holger hat mich von sich weggeschoben und seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Soweit ich weiß, hat das mit Daran-Denken nicht viel zu tun, hat er gesagt und sich an den gedeckten Tisch gesetzt. Er sah traurig und enttäuscht aus. Er wünscht sich so sehr ein Kind. Wir haben es eine Zeit lang darauf angelegt, aber es hat nicht geklappt und dann haben wir entschieden, nicht mehr daran zu denken, vielleicht funktioniert es ja dann. Holger fing an, den Korkenzieher in den Hals der Weinflasche zu drehen. Hätte ja sein können, hat er gelacht. Holger lacht immer so bizarr, wenn es ernst wird. Und ohne den Kopf zu heben, hat er in das fette Ploppen des Korkens hinein gefragt: Was ist es denn dann?

      Ich habe ihm von unserem Treffen erzählt.

      Während ich sprach, hat er sich mit beiden Händen an seinem Weinglas festgehalten, wie an einem Glühwein, den man draußen trinkt, wenn es eiskalt ist. Wissend, dass einem danach noch kälter wird. Seine Augen waren klein, müde, wie nach einer großen Anstrengung, nach einem langen Tag im Freien. Er hat mich angeschaut, als wollte er sagen: Jetzt weißt du endlich, was Dir die ganze Zeit gefehlt hat. Als sei ihm soeben bestätigt worden, dass seine Diagnose, die er niemals vor den Kollegen auszusprechen gewagt hätte, die zutreffende gewesen sei. Kein Triumph, aber Genugtuung. Er sah mich an und blieb stumm. Also habe ich geredet: Ich weiß überhaupt nicht, ob das stimmt, was der Typ behauptet. Er sagt zwar, dass er mein Bruder ist, aber es ist nichts bewiesen, gar nichts.

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