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Matratze, ich hüpfte rauf und runter und fing wieder an mit meinem Text. Ich streckte meine Arme nach Thomas aus, er kam zu mir und sprang mit, bis wir beide hinfielen, auf die Federkernmatratze, und anfingen uns zu küssen, völlig außer Atem. Ein paar Minuten später lag ich nackt und röchelnd auf dem Rücken, zwischen mir und Thomas ein schmieriger Blutfleck. Das Bettlaken bedeckte die Matratze nur noch halb. Unter meinem Bein hatte sich eine Metallfeder durch den Stoff gedrückt. Ich drehte mich zu Thomas und flüsterte ihm ins Ohr: Jetzt brauche ich eine neue Matratze. Sie hat ein Loch. Thomas lachte. Noch stolzer als vorher. Er verrieb sich genüsslich den Schweiß auf seiner rasierten Brust. Er schaute auf den Blutfleck zwischen uns. War das wirklich das erste Mal, fragte er mich. Das allererste Mal? Ich glaube, ich habe in diesem Moment nur an meine Matratze gedacht und daran, dass ich kein Geld hatte, mir eine neue zu kaufen. Ich habe ihm keine Antwort gegeben damals. Thomas warf sich auf mich. Ich habe meinen Kopf zur Seite gedreht. Neben der Matratze lagen seine Kleider, T-Shirt, Hose, Unterhose, Socken. Du musst dich nicht schämen, sagte er. Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! Das säuselte er mir triumphierend ins Ohr. Den letzten Satz aus meinem Jungfrau-Monolog. Ich versuchte, ihn von mir runterzuwerfen, dabei knallte ich mit meiner Stirn auf seine Nase, die sofort zu bluten anfing. Thomas sprang auf. Sein linker Fuß verfing sich in der herausgeplatzten Metallfeder, er stürzte nach vorne auf den Boden, sein Zeh blieb in dem Draht hängen, er schrie, laut, vor Schmerz, sein Fuß klemmte in der Feder, seine Nase blutetet immer stärker. Ein erbärmlicher Anblick war das. Wie ein Tier, das in die Falle gegangen war. In Sekundenschnelle hatte sich die Entjungferungsszene in eine scheinbare Gewaltorgie verwandelt. Ich musste lachen. Thomas wollte seinen Fuß aus der Falle bugsieren, der Zeh schwoll an, das Blut tropfte ihm aus der Nase auf die Brust. Ich blieb einfach zur Seite gedreht liegen und sah mir das Schauspiel an.

      Am nächsten Tag bin ich wieder in die Schule gegangen. Ich fühlte mich gesund. Ich spürte, wie die Mitschüler hinter meinem Rücken tuschelten. Die Lehrer waren erfreut, mich zu sehen, bis auf meinen Sprechlehrer. Er wisse nicht, wie ich das Versäumte nachholen könne. Ich glaube, Thomas hatte ihm von seiner Eroberung erzählt und der alte Sack war enttäuscht, dass er nicht der Erste gewesen war. Er war dafür bekannt, sich an seine Schülerinnen ranzumachen. Er profitierte von seinem, aus besseren Tagen herübergeretteten, Ruhm. Damals lud er seine Lieblingsstudentinnen regelmäßig zu sich nach Hause ein, gab ihnen Zusatzstunden und beeindruckte sie durch seine innere Ruhe und sein Verständnis für die Fragen der altersbedingten Sinnsuche. Eine waschechte Gratisinitiation, die die Schule ihren weiblichen Elevinnen da anbot. Seine Wohnung war der Hort des Tabus. Und natürlich des dazugehörigen Bruchs. Er wartete den richtigen Moment der Verunsicherung ab, meistens ein halbes Jahr nach Beginn der Ausbildung, dann schlug er zu. Bei mir hatte er den passenden Zeitpunkt sicher auch schon kommen sehen, aber Thomas war schneller. Und dreißig Jahre jünger. Thomas hatte nach unserer Rollenarbeit ein paar unansehnliche Probleme: seine Nase war mit Mull und Pflaster verklebt, der linke Fuß steckte in einer klobigen Schiene. Er hatte ein paar Vorstellungen am Burgtheater zu spielen, das Schminken vorher, nachdem die Nasenverhüllung jedes Mal aufs Neue entfernt worden war, musste die Hölle gewesen sein. Wir hatten uns auf die Version Probenunfall geeinigt, das rettete sein Ansehen und meine Reputation. Gleichzeitig nötigte die vermeintliche Intensität unserer Zusammenarbeit den Leuten auf der Schule eine ordentliche Portion Respekt ab. Eine Zeit lang konnte ich den Rückfall des Vaters und den Besuch der Mutter vergessen, ich war euphorisiert von meiner kleinen Neugeburt, aber dann, ganz langsam, sickerte dieses eigenartige Gefühl, ferngesteuert zu sein, unfrei, beschwert mit Zentnern von klumpiger, zotteliger Vergangenheit, wieder in mein Bewusstsein.

      War ich in Wien, weil der Vater die Mutter dorthin einladen wollte, es aber nie geschafft hat?

      Als ich das Foto gesehen habe, Deine Mutter mit dem Vater vor dem Olympiabad, da dachte ich, mich trifft der Schlag. Ich wusste nicht, dass der Vater jemals in München gewesen ist. Und dann auch noch vor dem Olympiabad. Holger und ich gehen regelmäßig dorthin. Vor ein paar Wochen das letzte Mal. Es war ein regnerischer Tag. Durch die Fenster sah man die künstlichen Hügel des Parks. Wenn du von dort oben hinunter auf die Schwimmhalle schaust, dann denkst du, die Halle fliegt. Die Dächer, das Stadion, alles aus Stahl und transparenter Plane, alles wirkt vorläufig, wie von Nomaden hingestellt. Das ist die neue Welt von gestern. Auf den Bildern von damals sieht man fröhliche Menschen in Trainingskleidung. Grün. Orange. Sommer. Sonne. Braune Haut. Fahnen, die aufgeregt im Wind flattern. Das Jahr unserer Geburt.

      Die Schwimmbadblase war angefüllt mit warmer, feuchter Luft und diesen tausendfach verhallten Geräuschen. Kindergeschrei. Körper, die auf Wasser klatschen. Ein paar Jungs hielten den Fünf-Meter-Turm besetzt. Leiter rauf, Leiter runter, einarmiges Hangeln am Geländer, in die Hüften gestemmte Fäuste, Hände, die selbstverliebt über straffe Bäuche streichen, unterhaltsames Gepose an der Absprungkante, lautes Gejaule nach jeder Arschbombe, die schrillen Pfiffe des Bademeisters, die wie Blitze die Halle zerteilten, um dann als Echo über dem schmatzenden Wasser zu zerstäuben. Leise Musik aus der Ferne. Dire Straits, immer wieder dieselbe Platte, Brothers in Arms: Hallenbadsound. Ein paar Meter vor uns hatte sich eine Aquagymnastiktrainerin mit ihrer mobilen Lautsprecherbox platziert. Im Wasser tummelte sich ein Grüppchen Senioren. Die Alten hielten bunte Schaumstoffwürste um ihre Bäuche. Die zufällige Formation fleckiger Körper sah für einen Moment aus wie ein zerknittertes Alex-Katz-Bild. Farbige Flächen, kühl und distanziert. Keine Moral, keine Wahrheit, nichts, nur die Oberfläche. There is no story, hat Alex Katz gesagt.

      Ich war mal mit Thomas in einer Katz-Ausstellung. Ein paar Jahre nach unserer Trennung. Ich war auf Gastspielreise in Hamburg und hatte am Nachmittag zwischen Probe und Vorstellung ein paar Stunden Zeit. Thomas war auch in der Stadt. Und dann haben wir uns verabredet. Thomas ist gelangweilt zwischen den Bildern rumgelaufen: Ist mir zu viel Comic, hat er gesagt. Nur weil er sich nichts vorstellen könne, jenseits seiner Einfühlerei als Schauspieler, solle er nicht so dümmlich über Kunst sprechen. Das sei halt keine Psychologie oder sonst irgendetwas aus seiner bürgerlichen Kunstmottenkiste, das seien einfach Abbildungen und das sei genau das, was wir im Theater nie hinkriegen, weil wir uns immer nur mit unseren mittelmäßigen Gefühlswelten beschäftigen. Ich bin laut geworden. Die Leute haben sich nach uns umgedreht. Er hat mich fassungslos angestarrt und wusste überhaupt nicht, was ich von ihm wollte. Thomas hat die Ausstellung fluchtartig verlassen. Danach haben wir noch ein letztes Mal telefoniert. Ich habe mich für meinen Auftritt entschuldigt.

      Die Köpfe, die Hälse, die Schultern, die Brustkörbe der Alten schauten aus dem Wasser. Die Badekappen waren bunte Punkte. Wenn die Sonne durch die Wolken drang, leuchteten die Farben vor schwimmbadblauem Hintergrund. Das Licht schickte ab und zu von unten einen Reflex in die Gesichter. Holger lag auf der Liege neben mir und hatte ein amerikanisches Fachmagazin aufgeschlagen, Plastic and Aesthetic Surgery. Ich habe ihm mit meiner besten Gruselstimme ins Ohr geflüstert: Ich wette mit dir, wenn du an denen vorbeischwimmst, riecht alles nach Tod. Ich habe meine Schwimmbrille angezogen und bin zum Becken. Im Wasser bin ich wie eine Verrückte losgekrault, mit hektischem Beinschlag, dicht an den Alten vorbei. Beim Atmen habe ich gesehen, dass Holger mich beobachtet hat. Durch die beschlagene Schwimmbrille sah es aus, als würde er unentwegt den Kopf schütteln. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Nach ein paar Bahnen hatte ich mich beruhigt und meine Atmung wurde flacher. Ich glitt sanft durch das Wasser. Mit jeder Wende wurde die Welt außerhalb des Beckens immer unbedeutender. Ich zähle beim Schwimmen die Bahnen und beim Zählen vergesse ich alles. Mit jedem rechten Armschlag sage ich mir die Zahl vor, bei der ich gerade bin. Das ist wie ein Gebet. Einundzwanzig. Einatmen. Einundzwanzig. Einatmen. Einundzwanzig. Einatmen. Wende. Zweiundzwanzig. Einatmen. Zweiundzwanzig. Einatmen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich das Zählen verselbständigt und meine Fantasie in Gang kommt. Dann entsteht ein neues Draußen, eine andere Welt; wenn ich im Olympiabad schwimme, stelle ich mir vor, wie die Ränge voll besetzt sind, wie die Leute meinen Namen rufen, wie sie mich anfeuern, von ihren Sitzen aufspringen, weil sie wollen, dass ich als Erste anschlage. Beim Einatmen geht der halbe Kopf aus dem Wasser, das linke Ohr liegt in der Luft und ich höre sie hysterisch schreien. Und dann die Stimme in meinem Kopf, die euphorische Stimme des Kommentators: Sie wird es schaffen. Sie kann den Weltrekord knacken, den ewigen Rekord, damit hat wirklich niemand gerechnet, nicht in diesem Rennen. Damit wird sie sich unsterblich machen. Es ist nicht zu glauben, meine Damen und Herren, wir sind hier und heute Zeugen einer absoluten

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