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2.6) geführt hatte, nach Hause zurückgekommen war, sah ich, dass mir Salah1, mit dem ich mich am Mittag desselben Tages getroffen hatte, eine SMS geschickt hatte, in der er mich vor dem Kauf eines Autos für meine Frau warnte. Der Grund dafür war, dass ich Salah2, der im Automobilhandel tätig ist, von diesem Vorhaben erzählt hatte. Doch Salah vertrat den Standpunkt, dass es der Frau im Islam verboten sei, Auto zu fahren. Deshalb schickte er mir die folgende Nachricht:

       Friede sei mit Dir Bruder. Gerne helfe ich dir bei deiner Suche nach einem Auto. Jedoch muss ich dich als dein Glaubensbruder im Islam vor deiner Idee, deiner Frau das Autofahren zu erlauben, dringend warnen. Das wäre ein schwerer Fehler und ist eine Verleitung von Satan. Wenn du Hilfe beim Erwerb eines Führerscheins in Deutschland brauchst, kann ich dir damit helfen. Ich wünsche dir eine Gute Nacht. Dein Glaubensbruder im Islam.

      Eine weitere Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hatte, war, dass Salah nicht in einem konservativen religiösen Umfeld wie dem Königreich Saudi-Arabien, welches zu diesem Zeitpunkt der letzte Staat war, der Frauen das Autofahren verbot, geboren und aufgewachsen war, sondern in einem westlichen Staat, in dem Frauen durch Gesetze und die Verfassung die gleichen Rechte wie Männer genießen. Salah wurde in [13]eine katholische Familie geboren, entschied sich aber im Jahr 2015 dazu, zum Islam zu konvertieren. Er wählte einen neuen Namen, um seinen Austritt aus der Welt des Christentums und seinen Eintritt in die des Islam kenntlich zu machen. Nach seinem Übertritt zum Islam verging kein Jahr, bis Salah damit begann, extremistischen ideologischen (Näheres sogleich unter 1.2) Gedanken anzuhängen, die er für die Grundlagen und den Kern des Islam hielt.

      Dazu gehören z. B. das Verbot für Frauen, Auto zu fahren, die Strenge in der Ausübung der religiösen Riten und das Urteilen über den Abfall vom Glauben, um andere, seien es die Anhänger anderer Religionen oder Muslime, die die religiösen Riten nicht befolgen, zu Ungläubigen zu erklären (takfīr) und entsprechend zu behandeln. Salah begann einen Blick auf die Welt und einen Umgang mit ihr zu entwickeln, der von der engstirnigen und extremistischen ideologischen Perspektive des ideologischen Salafismus geprägt war. Als ich versuchte, mit ihm darüber zu diskutieren, dass das Autofahren nicht zu den Lehren des Islam gehöre, es keinen einzigen religiösen Text gebe, der Frauen das Fahren verbiete, und das Königreich Saudi-Arabien das einzige muslimische Land sei, in dem Frauen nicht Autofahren dürfen, war dies die letzte Unterhaltung zwischen uns. Er brach den Kontakt ab und sprach nicht mehr mit mir. Er war weiterhin der Ansicht, dass ich eine große Sünde begehe, indem ich meiner Frau das Autofahren erlaube, und dass ich folglich kein guter Muslim mehr sei, mit dem er sich unterhalten kann.

      Ich habe nicht genügend Informationen zu Salahs Geschichte und den Umständen seines vorigen Lebens, um dieses Verhalten erklären zu können. Vielleicht hatte er bereits eine extremistische Vergangenheit, bevor er zum Muslim wurde. Aber wieso nahm Salah weiterhin extremistische Positionen (wie das Fahrverbot für Frauen) ein, erachtete diese als die Grundlagen des Islam und entschied sich dafür, seine sozialen, politischen und religiösen Beziehungen danach auszurichten? Was würde Salah heute z. B. dazu sagen, dass Saudi-Arabien im September 2017 Frauen das Autofahren erlaubt hat?3 Würde er seinen Standpunkt ändern oder daran festhalten? Was vor allem sind die Ursachen, die junge Leute wie Salah in den Extremismus treiben? Wie entsteht dieser Extremismus?

      [14]

      Salahs Übernahme dieser extremistischen Positionen ist kein Ausnahmefall. Die blutigen terroristischen Attacken, zu denen es in den letzten Jahren in Belgien, Großbritannien, Frankreich oder auch Spanien kam und zu denen sich die Organisation des Islamischen Staates, die auch mit IS oder Daesh abgekürzt wird, bekannte, warfen zahlreiche Fragen zu den Ursachen dieses Extremismus auf, besonders unter jungen, im Westen geborenen Muslimen und Konvertiten (siehe z. B. Ramsauer 2015 und Roy 2017). Am 29. Juni 2014 verkündete der Sprecher der Organisationen des Islamischen Staates, Abu Muhammad al-Adnani, in einer Sprachaufnahme die Errichtung ihres sogenannten Islamischen Staates und forderte von den Muslimen den Treueeid auf Abu Bakr al-Baghdadi als Führer dieses Staates (siehe Weiss und Hassan 2016 sowie Mohamedou 2017). Das Ziel des IS ist es, das islamische Kalifat und die Scharia (aš-šarīʿa) in seiner sehr spezifischen Auslegung zu errichten (einführend Rohe 2011 und 2013 sowie Lohlker 2012). Seit der Gründung dieser Organisation führten ihre Anhänger und Sympathisanten zahlreiche blutige Anschläge in verschiedenen Teilen der Welt durch. Nach den schweren Niederlagen in Mossul und ihrem ehemaligen Hauptquartier im syrischen Rakka im Jahr 2017 ist sie weiterhin durch Gruppen von Kämpfern unter anderem in Syrien, dem Irak, dem Jemen, dem ägyptischen Sinai und Libyen aktiv (für weitere Informationen zum Einfluss der Revolten des arabischen Frühlings, vor allem in Syrien, auf die salafistische und insbesondere die dschihadistische Bewegung siehe Zemni 2014 und Said 2014). Die Organisation stellt ihre Barbarei und Brutalität durch die Folter, Ermordung und Enthauptung ihrer Widersacher sowie auch durch sonstige schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sowohl gegenüber Muslimen als auch Nichtmuslimen wie den yezidischen und christlichen Minderheiten offen zur Schau. Der IS ist für ethnische Säuberungen sowie auch für die Zerstörung bedeutender archäologischer Stätten verantwortlich.

      Auch Deutschland bleibt vom IS nicht verschont. Im Dezember 2016 tötete der Tunesier Anis Amri während der Adventszeit in Berlin zwölf Zivilisten durch den Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt. Der deutsche Verfassungsschutz weist darauf hin, dass ihm Informationen zu ca. 1.060 Personen vorliegen, die zwischen Juni 2013 und März 2020 nach Syrien oder in den Irak gereist sind, um sich dort dschihadistischen Bewegungen anzuschließen (für den Begriff Dschihad siehe z. B. Lohlker 2009). Auch aus Bayern reisten den Angaben des Verfassungsschutzes nach 114 Dschihadisten aus, um dort terroristische Organisa-[15]tionen zu unterstützen (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, Verfassungsschutzbericht 2019). Darüber hinaus kam es in diesem Bundesland auch zu zwei terroristischen Vorfällen, die von Geflüchteten verübt wurden. Am 18. Juli 2016 griff ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling die Passagiere eines Zuges an und verletzte dabei vier Personen, bevor ihn die Polizei erschoss. Nur einige Tage später, am 24. Juli, beging ein syrischer Flüchtling ein Bombenattentat in Ansbach und verletzte dabei zwölf Personen, drei davon schwer. Er erlag bald darauf seinen Verletzungen, die er bei der Explosion erlitt.

      Auch wenn diese schrecklichen Angriffe in Deutschland von Geflüchteten verübt wurden, die in den letzten Jahren nach Deutschland kamen, um hier Asyl zu beantragen und Verbindungen zum IS aufzubauen, können deshalb nicht sämtliche Flüchtlinge oder Muslime unter Generalverdacht gestellt werden. Es liegt an uns, nach den tieferen Ursachen und Beweggründen für diesen Extremismus und nach den Akteuren zu suchen, die diesen Extremismus unter Muslimen propagieren.

      Der Begriff ‚Extremismus‘ ist in den Publikationen von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern oft ein schwammiger Begriff, dessen Definition umstritten ist, wie u. a. von Kailitz (2000: 6) betont wird: „Der Extremismusbegriff lässt sich enger oder weiter fassen. Ein Verständnis, demzufolge jede Bewegung oder Person bereits als extremistisch gilt, die eine antidemokratische und/oder antikonstitutionelle Einstellung vertritt, ist deutlich umfassender als eine Interpretation, die dieses Etikett nur vergibt, wenn politisch motivierte Gewalt ins Spiel kommt“. Als die Quintessenz verschiedener Definitionen des Begriffs soll hier festgehalten werden, dass Extremismus für gewöhnlich mit Übertreibung und mit der grundlegenden, pauschalen Ablehnung Andersdenkender sowie der Unfähigkeit, Verständnis für sie zu empfinden oder ihre Perspektive einzunehmen, in Verbindung gebracht wird. Generell kann man Extremismus als eine geschlossene Denkweise betrachten, welche sich durch das fehlende Vermögen auszeichnet, Überzeugungen zu akzeptieren oder zu tolerieren, die von denen der eigenen Person oder Gruppe abweichen. Im Kontext des vorliegenden Buches lässt sich religiöser Extremismus definieren als das krampfhafte Festhalten an bestimmten, in der Regel nur von wenigen anderen Angehörigen der Religion geteilten religiösen Sichtweisen, Überzeugungen und Gedanken – ohne diese kritisch zu hinterfragen. Dieses Festhalten ist häufig mit Hass und Gefühlen der Zurückweisung aufgeladen und drückt sich durch Feindseligkeit sowie die Dämonisierung

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